Sonntag, 22. Mai 2016

So kommt das.



Unzählige Bücher beschäftigen sich mit der Frage wie es zu Hitlers Aufstieg kommen konnte, der in Deutschland immer noch „Machtergreifung“ genannt wird.
Das ist aber falsch, denn Hitlers Partei wurde demokratisch gewählt; er bekam eine reguläre parlamentarische Mehrheit.
Er ergriff nicht etwa die Macht, sondern die Deutschen haben ihn ganz freiwillig zum Reichskanzler gemacht.

Historisch ist dieser Vorgang so gut erforscht, daß der SPIEGEL kürzlich fragte, ob es überhaupt möglich ist noch irgendetwas zu Hitler zu schreiben, das noch nicht gesagt worden wäre.

Als später Geborener, der sich angesichts der grotesken Gröl-Reden „des Führers“ und der schaurigen „Mein Kampf“-Lektüre fragt, wie man nur so einen Mann wählen konnte, weiß ich natürlich, daß Jahrzehnte später ein anderer Eindruck Hitlers dominiert.
Man kann nicht das Wissen um das, was noch kam, völlig ausklammern, um sich wirklich in die Zeit vor 1933 zu versetzen.
Rational weiß ich wie selektiv die Realität wahrgenommen wird.
Die Redeausschnitte, die heute jeder von Hitler kennt, sind natürlich die besonders grotesken, bei denen er extrem gestikuliert.
Die Satzbausteine, die auf seine späteren Verbrechen hinweisen, dominieren das Bild, das a posteriori von ihm erscheint.
So stellten sich Anfang der 1930er Jahre aber offenbar bei Weitem nicht alle Deutschen den NSdAP-Chef vor.
Offensichtlich konnte der Mann durchaus auch charmant und überzeugend wirken.
Hitler war in der Lage auch intelligente und intellektuelle Menschen vollkommen in seinen Bann zu ziehen.
Man traute ihm die heute bekannte Bösartigkeit einfach nicht zu.
Immer wieder beeindruckend wie sich Heinz Rühmann als Julius Löwenthal in dem 1933 spielenden Film* „das Narrenschiff“ über die Nazis äußert.

"Es gibt in Deutschland eine Million Juden! Was wollen sie tun, uns alle umbringen?".

Es ging über die Vorstellungskraft vieler gebildeter und erfahrener Bürger was Deutschland unter NSdAP-Führung tun würde.

Eins der größten Rätsel der Figur Hitler ist für mich immer noch woran es lag, daß er offensichtlich so viele Menschen überzeugen konnte.
Man weiß, daß sehr scharfsinnige und selbstbewußte Generäle bis zum letzten Tag bedingungslos zu ihrem „Gröfaz“ standen, obwohl sie seit mindestens zwei Jahren täglich bei den Lagebesprechungen erlebten, daß der Mann Unsinn redete.

Es war offensichtlich nicht eine Frage der Intelligenz, ob man Hitler durchschaute.

Interessanterweise gibt es genügend Gegenbeispiele von Menschen ganz unterschiedlicher Art, die Hitler von Anfang an als das Giga-Ungeheuer durchschauten, das er war.

Der einfache Schreiner Georg Elser (*1903; † 9. April 1945 im KZ Dachau) erkannte Hitler klar als das was er war.

Die promovierte Dönhoff hatte schon als Gymnasiastin in den 1920er Jahren Hitler auf einer kleinen Veranstaltung kennengelernt. In einer Diskussionsrunde saß sie nur zwei Plätze neben ihm und fällte schon damals ein Urteil: Der Mann ist ein Verbrecher, wird Europa in einen Krieg stürzen und dafür sorgen, daß sie alle ihre Heimat verlieren.
Sie wurde zur „Roten Gräfin“, weil sie in den Kommunisten die einzigen Verbündeten fand, die wirklich gegen Hitler aktiv waren. Später im Krieg verlor sie als aktive Widerstandskämpferin fast ihren gesamten Freundeskreis, da die meisten im Zuge des Attentatsversuches vom 20. Juli 1944 hingerichtet wurden.

Als Oberprimanerin noch hatte Marion Dönhoff einmal in Berlin Hitler erlebt; sie fand ihn grauenhaft, seine Argumente irrsinnig, seine kippende Stimme abstoßend: »Diese Begegnung gab für meine lebenslange Einstellung den Ausschlag (…). Vaterland, das gab es für mich nicht mehr, seit der Hitler da war.« Und zehn Jahre lang sah sie den Krieg kommen – in der bangen Gewissheit, dass Ostpreußen eines Tages verloren sein werde.

Woran liegt es, daß es in Europa einerseits die Elsers und Dönhoffs gibt, die Gefahren und Persönlichkeiten offensichtlich mühelos durchschauen, während so viele ihrer Zeitgenossen willig den Hassideologen in den Abgrund folgen?

Eigentlich sollte/wollte/müsste ich heute noch einige Worte über die Unterschiede zwischen des österreichischen Präsidentschaftskandidaten verlieren.
Aber gibt es zwischen dem Ex-Grünen Chef Alexander Van der Bellen und dem rechtsextremen FPÖ-Mann Norbert Hofer überhaupt eine Wahl?
Wer sich bei diesen beiden Alternativen nicht innerhalb einer Mikrosekunde entscheiden kann, ist für mich entweder ein totales Rätsel oder blanker Abschaum wie Papst Franzens Weihbischof Andreas Laun, der zur Wahl Hofers aufgerufen hatte.

Das Endergebnis ist noch nicht bekannt, aber es ist gut möglich, daß tatsächlich über 50% der österreichischen abgegebenen Stimmen auf Hofer entfielen. Derzeit liegt er in den Auszählungen mit 51,9% vorn.

Österreich geht es ökonomisch sehr gut, Österreich hat flächendeckendes Internet und breite Protestfront, die über den Rechtsradikalismus aufklärt.
Und dennoch wählt man dort womöglich mit absoluter Mehrheit einen FPÖ-Rassisten zum Staatschef?

Wer das sieht, braucht sich nicht mehr über 1933 wundern.
Erst Ungarn, dann Polen, jetzt Österreich.
Unsere europäischen Gesellschaften versagen wieder einmal auf ganzer Linie.

Das "feine Schweigen" also. Das trifft es eigentlich ganz gut. Wie kippt ein Land? Wie kippt eine Gesellschaft? Wie entstehen rechte Diktaturen? Und was ist die Rolle des Bürgertums?
Fritz Stern hat diese Formulierung benutzt, der große Historiker, der diese Woche gestorben ist, er hat sie benutzt, um das Versagen jener Schichten zu beschreiben, die die Gesellschaft eigentlich tragen sollten.
Aber sie weigerten sich, laut zu werden, sie waren sich zu gut dafür, in den Streit der Meinungen einzugreifen, sie überließen das Feld den Geiferern, sie taten liberal und hatten doch nicht gelernt, für diese Liberalität zu kämpfen.
Das Bürgertum also, kurz gefasst, das dem Aufstieg Hitlers einfach zusah; das Bürgertum, das auch heute zusieht, wie ein Land, wie ein Kontinent kippt, still, sediert oder sympathisierend. [….]

Bürgerliche Gesellschaft, bürgerliche Parteien, Bürgertum – ich habe keine Ahnung wieso diese Begriffe nach wie vor positiv konnotiert werden.



*Weitere weltbekannte Zitate:

Marvin fragt: "Was haben denn alle gegen die Juden? Bei uns gibt es sowas nicht", woraufhin Leigh kühl lächelnd erwidert: "Sie waren wahrscheinlich zu beschäftigt, die Schwarzen zu lynchen, um noch Zeit für die Juden zu finden."

Ferrer: "Die Juden sind an allem Schuld."
Rühmann: "Stimmt, die Juden und die Radfahrer."
Ferrer: "Wieso die Radfahrer?"
Rühmann: "Wieso die Juden?"