Mittwoch, 28. September 2022

Ein bißchen Atomapokalypse

Der Atomtod kam im Kino. „The Day After“ guckten wir uns 1983 mit der ganzen Klasse an. Viele Mädchen heulten und da wir als Jungs natürlich mutiger waren, trösteten wir sie.

Die Bilder von den Atompilzen steckten mir sehr lange in den Knochen. Wir hatten als Teenager das erste mal unsere eigene Endlichkeit drastisch vor Augen geführt bekommen. Videokillerspiele waren noch nicht erfunden und im Gegensatz zur Jugend von heute, hatten wir auch noch keine der zahlreichen Roland-Emmerich-Weltzerstörungsblockbuster gesehen.

Atomraketen erschienen uns durch die allgegenwärtige Pershing-II-Nachrüstungsdebatte sehr konkret. Im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses wurden eben diese Vernichtungswaffen in Deutschland stationiert. Ebenfalls 1983 kam auch „Wargames“ mit Matthew Broderick und Ally Sheedy ins Kino. Gerade hatten wir eine visuelle Vorstellung der ultimativen Atomapokalypse gewonnen; da mussten wir uns auch noch an den Gedanken gewöhnen, das finale Inferno könnte ganz zufällig, zum Beispiel durch einen Softwarefehler eingeläutet werden. Verdammte Computer. Anders als die GenZ, waren wir Boomer tatsächlich in der breiten Masse engagiert. Während heute schon bei 700 Krakeelern in Dresden und einem Online-Mob vor „Volksaufständen“ gewarnt wird, gingen wir Anfang der 1980er Jahre in Millionenstärke auf die Straße, generierten sogar eine neue Partei, die bereits 1998 den Vizekanzler stellte.

Mit zunehmenden Alter ebbte meine Atomkriegsangst ab, weil ich a) weniger leicht zu hysterisieren war, b) mein überragender Wunsch nach dem Wohlergehen der Menschheit nachließ und ich c) von allerlei Sicherungsmechanismen erfuhr. Ganz so leicht würde eine SS20 oder Trident doch nicht versehentlich abfliegen.

In Punkt c) irrte ich mich. Tatsächlich gab es einige Situationen, in denen die finale Atomschlacht zwischen NATO und Warschauer Pakt unmittelbar bevorstand.

1960, 1979, 1980, 1983 und 1995 stand es kurz vor knapp.

Nach 1991, als die Sowjetwelt sich ins Nichts aufzulösen schien, Russland unser demokratischer Partnerstaat werden würde und Atomwaffen verschrottet wurden, schien die unmittelbare Atomkriegsgefahr vorbei.

Ein Irrtum. Pakistan, Indien, Israel und Nordkorea hatten nun ebenfalls Atomwaffen. Iran möchte (verständlicherweise) Atomwaffen. Die politischen Verhältnisse in Islamabad sind alles andere als stabil. Niemand kann Kim-Jong Un richtig einschätzten und ein israelischer Atom-Präventivschlag gegen den Iran ist auch nicht ausgeschlossen. Nichtstaatliche Terrorgruppen streben ebenfalls nach Atomwaffen. Proliferation aus Pakistan oder Nordkorea ist theoretisch denkbar.

Hinzu kommen personelle Unsicherheiten bei den fünf Ur-Atommächten USA, Russland, China, Frankreich und England.

Bis inklusive Barack Obama schienen die USA verlässlich zu sein. Aber ein ungebildeter größenwahnsinniger Irrer wie Trump? Eine fanatische Truss? Präsidentin Le Pen? Putin? Wer kann für diese Leute seine Hand ins Feuer legen?

Je schlechter der konventionelle Krieg für Putin läuft, desto höher das Risiko einer atomaren Eskalation. Jeder, der Putin leichtfertig als „irre“ bezeichnet, sollte hoffen, sich zu irren. Ein irrationaler Putin verschlimmert die Risikolage erheblich.

[…]  Deshalb halten die amerikanischen Geheimdienste offenbar bereits verstärkt nach Indikatoren für einen möglichen Atomwaffeneinsatz Ausschau, wie Politico berichtet. Experten zufolge könnten amerikanische Geheimdienstinformationen im Falle des Falles aber zu spät kommen. Mehr noch: US-Informanten des Portals halten zwar den Einsatz einer „großen“ strategischen Atombombe für nahezu ausgeschlossen. Nicht aber den Abschuss kleinerer, „taktischer“ Sprengköpfe.  Ein Großteil der russischen Luftflotte und Raketensysteme sind dem Bericht zufolge in der Lage, kleinere „taktische“ Atomwaffen zu tragen. Diese Waffen haben erheblich geringere Sprengkraft. Allerdings lässt sich ein geplanter Abschuss wesentlich schwerer voraussagen als im Falle der strategischen Waffen: Konventionelle Sprengköpfe könnten einfach gegen nukleare Munition getauscht werden.  Nahezu jedes russische Waffensystem lasse sich auch mit Atomsprengköpfen ausstatten, heißt es in dem Artikel. Die Abschussvorrichtungen „strategischer“ Waffen ließen sich deutlich leichter durch Geheimdienste erkennen, selbst wenn sie nur für Übungen bewegt werden, schreibt Politico unter Berufung auf US-Quellen. [….]

(Merkur, 28.09.2022)

US-amerikanische Thinktanks und Geheimdienstler, die in den Wochen vor dem 24.02.2022 mit ihren drastischen Warnungen vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine kaum Gehör in Europa fanden, aber bedauerlicherweise völlig Recht hatten, ventilieren schon sehr konkret Atomkriegspläne.

[….]  Moskau könnte eine taktische Atomwaffe hoch über der Ukraine oder über dem Schwarzen Meer zur Explosion bringen, schreibt James Cameron vom Oslo Nuclear Project in der „Washington Post“. Auch ein Abwurf auf dünn besiedeltes Gebiet oder eine Militäreinrichtung sei denkbar – mit dem Ziel, Kiew zur Kapitulation zu bewegen und seine Verbündeten zu spalten. [….]

(Welt, 27.09.2022)

Es wird insbesondere für Peking und Jerusalem sehr interessant zu beobachten sein, ob man mit dem atomaren Tabubruch Fakten schaffen kann.  Wenn Putin so seinen Willen bekommen sollte, könnten auch andere Autokraten ein paar Mini-Nukes zünden.

Also droht Washington mit ungeheuerlichen Konsequenzen für diesen Fall. Mir fehlt allerdings die Vorstellungskraft, wie man zwischen dem Einsatz taktischer Atomwaffen und dem globalen Atomtod noch eine Zwischenstufe einbauen kann, die nicht das Ende der Menschheit bedeutet. Begrenzung auf fünf  Mini-Nukes pro Nation und Jahr? Und ab wann genau ist einen Mini-Nuke nicht mehr Mini, sondern Midi?

Atomare Abschreckung ist eine paradoxe Mischung aus ultimativer Drohung und gleichzeitiger Gewissheit, kein Mensch am großen roten Knopf, wäre so unzurechnungsfähig, tatsächlich das Ende der Menschheit auszulösen.

Die Welt, in der wir Westeuropäer uns eingerichtet hatten, existiert seit ein paar Jahren nicht mehr. Klima, Corona, Krieg  - die drei Geister gehen nicht zurück in die Flasche. Schwere ökonomische Verwerfungen werden außerdem den NATO-Demokratien schwer zusetzen. Es wird potentiell mehr Melonis, Orbáns und Trumps im NATO-Hauptquartier geben. Was zählt dann noch das nukleare Tabu?

[….] Das Tabu beschreibt die Erkenntnis, dass diese Waffen, wenn denn überhaupt, nur zur Verteidigung eingesetzt werden dürfen. Und dass diese Erkenntnis auch dazu verpflichtet, dass man eben nicht über ihren möglichen Einsatz spricht. Dass man nicht versucht, sie zur Erpressung, zur Nötigung und zum Verbreiten von Angst zu nutzen, wofür sie sich noch immer besser als jede andere militärische Erfindung eignen. Denn wenn inzwischen auch andere existenzielle Bedrohungen für die Menschheit existieren, etwa die Klimakrise: Der Einsatz von Nuklearwaffen wäre noch immer der schnellste und sicherste Weg in die Apokalypse.

Begangen wird dieser Tabubruch (nicht erst seit dem erneuten Überfall auf die Ukraine) vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, einer wechselnden Besetzung seiner Parteigänger und beinahe allabendlich in den Talkshows des russischen Staatsfernsehens. Hier eilen Moderatorinnen und Moderatoren und deren Gäste von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Wann es endlich die "glücklichen wohlgenährten deutschen Bürger" erwische oder das so wichtige "Entscheidungszentrum" namens Berlin? Warum man nicht Großbritannien in eine "Mars-Wüste" verwandele, und ob man nicht eine großartige Gelegenheit verpasst habe, während der Trauerfeier für die verstorbene Queen zuzuschlagen? So viele Feinde Russlands zu einer Zeit an einem Ort. Als ob schon eine fiebrige Erwartung herrscht, wann es endlich losgeht. Oder die wachsende Enttäuschung darüber, dass der Westen sich nicht ausreichend einschüchtern lässt - und zwar nicht mit allen verfügbaren, aber sehr vielen Waffen den Kampf der Ukraine unterstützt.

"Einen gefährlichen Präzedenzfall" nennt der Nationale Sicherheitsrat der US-Regierung diese Rhetorik. Präsident Joe Biden nutzte letzte Woche seinen Auftritt vor der UN-Generalversammlung, um die "unverhohlenen nuklearen Drohungen" zu kritisieren. [….] Es geht um sehr viel in diesen Tagen.  [….]

(Georg Mascolo, 27.09.2022)