Samstag, 23. September 2023

Vom Glück des Geburtsortes und des Geburtsjahres

Große Veränderungen der Lebensumstände werden, von den meisten Menschen als unangenehm betrachtet. Schöner ist eine stetige und verlässliche Umwelt, in der es langsam aber kontinuierlich ökonomisch bergauf geht.

Mein Opa, Jahrgang 1890, in Norddeutschland geboren, hatte mit dem Ort viel Glück. Die Zeichen standen auf Aufbruch, auf Bildung und, sofern man mit Penis geboren war, standen einem viele Möglichkeiten offen. Wie sich aber im Laufe seines Lebens herausstellte, gehörte er zu der Pech-Generation, die ohne eigenes Zutun als Erwachsene gleich zwei Weltkriege mit erlebten, zweimal Freunde und Verwandte sterben sahen, zweimal Hunger und Kälte ertragen mussten und zweimal in einem ökonomischen Kollaps alles verloren.

Auch, wenn man als 1890 Geborener das große Glück hatte, überhaupt so lange zu leben, um Kinder zu bekommen, nicht selbst erhebliche psychische Schäden durch die Kriegserlebnisse genommen zu haben, finanziell sein gutes Auskommen zu finden und auch noch eine glückliche Partnerschaft zu führen, war es ein verdammt hartes Leben; geprägt durch schwere Verluste.

Opa hatte viele Kinder, die immerhin schon mal nur einen, statt zwei Weltkriege miterlebten. Das Geschlecht machte aber immer noch einen Unterschied. Die Töchter sollten Hauswirtschaft lernen und nach Möglichkeit einen reichen Geschäftsmann heiraten. Da seine Töchter aber die von ihm angeschleppten Verehrer verschmähten und stattdessen „Geringverdiener“ heirateten, hatten sie eben selbst schuld.

Wenige Jahre konnten einen großen Unterschied machen. Meine Tante, Jahrgang 1922, wuchs außerhalb der Stadt im Grünen auf. Als die Nazis an die Macht kamen, war sie zehn Jahre alt und kam mit 11 Jahren zum „BDM“, den sie als reine Spaß- und Abenteuerveranstaltung empfand. Singen, wandern, zelten. Toll. Sie war 18 oder 19, als ein Nachbar im Fronturlaub auf Hitler schimpfte und sagte, der Krieg ginge verloren. Sie war geschockt, konnte sich das gar nicht vorstellen, was da schief gehen sollte. Und sie erzählte ihr Leben lang, ungläubig über sich selbst, wie sagenhaft naiv sie damals war und wie verspätet sie erst alles um sich herum wahrnahm. Eine Nachbarin, die aus meiner Perspektive genauso gebildet und genauso alt war – geboren 1918 – erzählte eine diametral entgegengesetzte Geschichte. Sie war Widerständlerin. Wie konnte das angehen?

Sie wurde in Österreich geboren. Als Hitler dort 1938 an die Macht kam (statt 1933 wie bei meiner Tante), war sie kein 10-Jähriges Mädchen, sondern hatte die Matura hinter sich, studierte bereits an der Uni in Wien und erlebte, wie alle ihre (jüdischen) Professoren und Kommilitonen verschleppt wurden. Sie schloß sich der Untergrund-Opposition an und lebte das Gegenteil von Idylle, Spaß und Abenteuer, die meinte Tante damals prägten; nämlich tägliche Lebensgefahr und existentielle Angst.

Dabei waren es gerade mal vier Jahre Altersunterschied und der Zufall, in einer anderen Stadt des „Deutschen Reichs“ geboren zu werden.

Mein Opa hatte drei Söhne, geboren 1919, 1923 und 1932. Der Erste starb schon als Baby in der Not der Nachkriegszeit, weil bei einer Erkältung/Bronchitis keine Medikamente aufzutreiben waren und mutmaßlich vitaminreiche Lebensmittel und Heizung fehlten. Der Zweite verschwand im Alter von 20 Jahren an die „Ostfront“, wurde am ersten Tag zu einer Erkundigung geschickt, geriet in Gefangenschaft und kam nie aus Russland zurück. Den Eltern blieb nur der schale Trost, daß der sensible junge Mann nie eine Waffe abfeuerte und nicht selbst jemanden getötet haben musste. Sohn Nummer Drei wurde vor den Bomben „aufs Land“ in Sicherheit geschickt, mußte nicht hungern und war gerade eben noch nicht alt genug, um eingezogen zu werden, als der Krieg endete.

Alle Hoffnungen der Familie ruhten auf ihm und wieder waren es nur ganze wenige Jahre Altersunterschied zu seinen Brüdern, die sich so extrem auswirkten. Während die beiden Älteren gar nicht überlebten, wurde er genau in der Zeit erwachsen, als Frieden einkehrte und 50 Jahren Wirtschaftswachstum und Wohlstand bevorstanden. Immer nur Aufschwung und Neues zu entdecken. Durch die Welt fliegen ohne Flugscham, Amüsieren, ohne Angst vor HIV/SarsCoV2, keine Frauen, die sich #Metoo-ig beschweren, kein Krieg in Europa, keine Empörung über massenhaften katholischen Kindesmissbrauch, keinen Zusammenbruch ganzer Industrien durch Globalisierung oder Digitalisierung, keine Cyberattacken, keine politische Instabilität, keine mühselige Umstellung auf andere Energie- und Heizsysteme, keine Gedanke daran, wieso man NICHT den großen neuen Verbrenner fahren sollte. Besonders beneidenswert finde ich, das mangelnde Bewußtsein der ersten Nachkriegsgeneration auf Kosten anderer, der Umwelt, der nachfolgenden Generationen zu leben. Sie glaubte ganz selbstverständlich, es würde immer so weitergehen, hatte kein Gefühl für die Endlichkeit von Ressourcen, musste also dementsprechend auch nie ein schlechtes Gewissen haben.

Die schönen Zeiten, die fast das ganze Leben meiner Onkel-Generation prägten, sind vorbei. Heute kann man nur einen Verbrenner-SUV fahren, zum Spaß fliegen oder in einem ungedämmten Haus mit Ölheizung wohnen, wenn man sich entweder dafür schämt oder ignorant ist. 

Man konnte 1950, 1960 oder 1970 seine Kinder guten Gewissens in eine katholische Schule oder ein katholisches Internat geben. Das Bewußtsein darüber, was die verklemmten Zölibatären in ihren Soutanen mit kleinen Jungs allein anstellten, war in der breiten Öffentlichkeit schlicht und ergreifend nicht existent. Auch die Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Wer heute seine Kinder zu Geistlichen nach Ettal oder den Regensburger Domspatzen gibt, darf zumindest anschließend nicht mehr überrascht tun, wenn der 10-Jährige Sohn sexuell missbraucht wurde.


Als „Boomer“ und „GenX“ gehört man zu der Alterskohorte, die als Teenager und Twens immerhin überhaupt Problembewußtsein entwickelten. Umwelt, Feminismus, sexuelle Befreiung, Aufklärung über die Nazizeit – all das haben wir zumindest mitgedacht. Es war nicht mehr ganz so unbeschwert, wenn man in den 1980ern intensiv und sehr konkret über sein eigenes Ende in dem von SS20s und Pershing IIs verursachten Atomblitzen nachdachte. Aber wir haben das Elend nie wirklich an eigenem Leib erlebt.

[….] Meine Generation hat immer zu den Verschonten gehört. Zu denen, die - ohne eigenes Zutun oder Verdienst - Glück gehabt hatten. Auch wenn das Wort nicht verwendet wurde. Mit diesem Bewusstsein sollten wir aufwachsen. Ich bin 1967 geboren. Meine Kindheit war durchzogen von mal bewussten, mal unbewussten Verweisen meines Vaters auf Krieg und Not, die er als Kind erlebt hatte. Überall im Alltag gab es Spuren der Versehrung, die nie so benannt wurden, aber die doch als Reste von im Krieg Erlerntem erkennbar waren. Da war diese ängstliche Unruhe in geschlossenen Räumen oder das Meiden von Menschenmengen. Es wurden Fenster und Türen auch im Winter aufgerissen. In Kinos immer nur Gangplätze. Es dauerte lange, zu lange, bis ich diese eigenartigen Gewohnheiten auch den entsprechenden Erfahrungen des Kindes, das mein Vater einmal gewesen war, mit Luftbombardements zuordnen konnte.  [….]

(Carolin Emcke, 23.09.2023)

Bei der GenZ pressiert es hingegen extrem. Das Elend klopft bereits an die Tür. Im Sommer wird es 40°C heiß, mehrere Bundesländer schockieren mit politischen Nazi-Mehrheiten, in jedem Ort gibt es Kriegsflüchtlinge. Da wird es immer schwieriger, in seine private Hygge-Welt zu fliehen und die Augen fest vor der Realität zu verschließen. Für GenZ gibt es nur noch zwei Alternativen: Entweder, sie ändert sich und die ganze Gesellschaft radikal, oder alle werden sterben.

[….] Es gab sie, immer wieder, diese Einbrüche der Gewalt und der Erschütterung, mal näher, mal ferner, wie die rassistischen Anschlagsserien, den Schrecken des Terrors. Es gab sie, die Zäsuren der historischen Umbrüche wie den Fall der Mauer, und doch korrigierten sie bei vielen meiner Generation und auch den nachfolgenden nie dieses Grundgefühl des unverdienten Privilegs.

Das ist vorbei. Die letzten Jahre haben die existenziellen Krisen so verdichtet, dass sie sich wie eine einzige ausnehmen: globale Pandemie. Russischer Angriff auf die Ukraine und das elende, uferlose Sterben dort seither. Und über allem und durch alles hindurch die Klimakatastrophe. Das ist sie. Sie war schon lange da und wir als Gesellschaft haben sie nicht verstanden als das, was sie ist: unsere Prüfung. Wir müssen bestehen. In der Klimakatastrophe werden wir mit allem, was wir dachten, wer wir seien, infrage gestellt. Sie bricht ein, sie zersetzt, sie entstellt unsere Landschaften, unsere Gesellschaften, unsere Leben. Nicht nur punktuell, nicht nur auf einem begrenzten Schlachtfeld, sondern überall. In fernen Gegenden, in der Distanz, aber auch nah, in unseren privaten, intimen Bereichen. Unsere Praktiken und Überzeugungen, das, was uns selbstverständlich schien, wie wir uns bewegen oder arbeiten, was wir anbauen und essen, wie wir heizen und bauen, nichts davon bleibt unangetastet. Die Schonfrist ist vorbei.  [….]

(Carolin Emcke, 23.09.2023)

Eine unangenehme Perspektive, vor der die GenZ steht. Sie hätte sicherlich lieber die Zukunft meines Onkels, als er so alt war wie sie: 50 Jahre Aufschwung, kein schlechtes Gewissen und die realistische Hoffnung, daß es immer nur besser wird zu den eigenen Lebzeiten.

Aber dazu muss man zu dem perfekten Geburtsjahr am richtigen Ort geboren werden. Wer jetzt Twen, Teenager oder gar noch jünger ist, hat die Arschkarte gezogen.