Freitag, 16. September 2022

Braucht die Demokratie die Monarchie?

Der BBC Live-Stream aus der 1000 Jahre alten Westminister Hall, in der Queen Elisabeth II. aufgebahrt liegt, übt eine bizarre Faszination auf mich aus.

In vier Reihen gehen sie an Lizzy vorbei. Bis zu 30 Stunden Wartezeit ohne Camping-Stuhl oder Kuscheldecke, um drei Sekunden vor dem Sarg der verstorbenen Monarchin zu stehen. Und fast alle von den drei Millionen Untertanen bekreuzigen sich, knicksen oder verbeugen sich artig, obwohl nichts derartiges vorgeschrieben ist. Die großartige Autorin und SPIEGEL-Kolumnistin Anja Rützel weilt in London und beschreibt ihre Erfahrungen „unter Schlangenmenschen“.

[….]  Nacheinander gehen meine Queue Buddys und ich daran vorbei, drei, vier Sekunden hat jeder ganz allein vor der Queen. Auf dem Weg zum Ausgang umarme ich Julie, natürlich weinen wir ein bisschen. [….]  Etwa sechs Stunden stand ich in der Schlange, und so absurd es auch klingt: Ich vermisse sie. […]

(Anja Rützel, SPON, 16.09.2022)

30 Stunden im Regen stehen, ohne die Möglichkeit, sich zwischendurch zu setzen?

Ob das wohl auch so sein wird, wenn dereinst Frank-Walter den Löffel abgibt?

(….)  Jeder rationale Menschen muss Gegner einer Erbmonarchie sein. Nichts ist undemokratischer, als ein System, in dem man durch Geburt Staatsoberhaupt wird. Im Falle Großbritanniens nicht nur von England, Wales, Schottland und Nordirland, sondern auch Staatsoberhaupt von Antigua und Barbuda, Australien, Bahamas, Belize, Grenada, Jamaika, Kanada, Neuseeland, Papua-Neuguinea, St. Kitts und Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Salomonen und Tuvalu. Verrückt; kein Jamaikaner, kein Australier, kein Kanadier, kein Brite hat Wahlrecht zur Bestimmung des eigenen Präsidenten. (….)

(Irrationale Queen-Sympathie, 08.09.2022)

Elisabeth wird nicht derartig verehrt, weil sie durch Geburt zur lebenslangen undemokratischen Herrscherin über ein Dutzend Nationen ausersehen war. Die überwältigende Mehrheit der Briten verehrt sie als Person.

 […] Was auch immer man von der Institution der Monarchie in einer Demokratie halten mag, es muss großer Respekt da sein für Elizabeth' 70-jährigen Dienst als unparteiisches Staatsoberhaupt und als einigende Figur in Großbritannien und darüber hinaus. […] Sie stand für die fast paradoxe Einheit von vier Nationen in einer einzigen Nation, dem Vereinigten Königreich. Doch nun ist es möglich, dass die Schotten die britische Union verlassen werden, um der Europäischen Union wieder beizutreten. Nordirland sieht seine Zukunft zunehmend mit der Republik Irland, als eine Art informelles Mitglied der Europäischen Union. […] Elizabeth II. stand für Kontinuität, Sicherheit und Gewissheit. […] Die Queen hat weltweite Aufmerksamkeit und Respekt nicht einfach nur geerbt, sondern sich auch selbst verschafft. Tatsächlich war sie viele Jahrzehnte lang die wohl berühmteste Frau der Welt. Schätzungsweise eine Milliarde Menschen sahen ihren Auftritt mit James Bond bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Etwas von diesem Zauber hat auf das Vereinigte Königreich abgefärbt, den Staat, den sie verfassungsmäßig und ikonisch verkörperte. […] Sie hat den Übergang vom Empire zum Commonwealth geebnet und für das Vereinigte Königreich von der imperialen Großmacht zur mittelgroßen euroatlantischen Macht. […]

(Prof. Timothy Garton Ash, 16.09.2022)

Zurück zu einem der morbiden Sarg-Livestreams. Noch zweieinhalb weitere Tage wird es ununterbrochen so gehen. Es ist großartig zu sehen, wie divers London ist. Jede Menge People of Color, die weinend erscheinen, um sich gerührt und ehrfürchtig vor dieser kleinen, alten, weißen Frau zu verbeugen.

Ja, Kolonialismus ist ein Verbrechen, aber wenn die Kolonialsierten das oberste Symbol der Kolonialisierer so sehr verehren, hat das Multi-Staatsoberhauptoffenkundig viel richtig gemacht und mehr für die Einheit der Vielvölkernation getan, als es ein deutscher Bundespräsident je könnte. Sie sind alle Elisabethaner, von links bis rechts, vom Greis bis zum Kleinkind, vom Bettler bis zum Milliardär. David Beckham stand genauso 12 Stunden in der Schlange für seine drei Sekunden am Sarg, wie eine schwarze Londoner Putzfrau oder eine Pakistanisch-stämmige Chirurgin aus Sussex. Eine bizarre physische Qual, zu der keiner der sogenannten Queue Buddys gezwungen wurde. Sie haben unterschiedliche Gründe dafür, sich dieser Mater zu unterziehen. Die häufigsten genannten Erklärungen, sind echte persönliche Zuneigung und das Gefühl, ihr diese Respektsbekundung zu schulden.

Ist so eine Form der Gemeinsamkeit nicht ungemein heilsam, in einer Zeit, in der Nationen zerfallen, sich in Rechtspopulisten und Demokraten aufspalten?

Verschiedene politische Lager mögen sich oft nicht, aber immer stärker geht der Modus Vivendi ganz verloren. Die Türkei, Polen, Ungarn, Brasilien streifen ihre demokratischen Regeln scheinbar ganz freiwillig zugunsten einer Diktatur ab. Extrem weit fortgeschritten ist der Zerfallsprozess in den USA. Es gibt nichts und niemand, das US-Amerikaner so sehr hassen, wie andere US-Amerikaner. Sie erschießen sich gegenseitig, glauben den anderen grundsätzlich kein Wort, erkennen weder Justiz noch Wahlergebnisse an.

Berufs-Unzufriedene, antidemokratische Populisten dominieren aber auch in Deutschland mehr und mehr den Diskurs. Die Regierung wird zunehmend von einer destruktiven „wir sind gegen alles“-Opposition und Online-Shitstorms blockiert. Verrückt, gerade eine so grundsätzlich undemokratische Figur wie ein Monarch kann die Demokratie offensichtlich entscheidend stabilisieren. Der der damals noch junge spanische König Juan-Carlos I. rettete am 23. Februar 1981 die iberische Demokratie, indem er sich mutig und prodemokratisch, dem faschistoiden Franco-affinen Militärputsch in den Weg stellte. Weite Teile der Truppen folgten dem König und vereitelten so die Herrschaftspläne des Oberstleutnant Antonio Tejero.

[….] Diese Frage treibt mich schon lange um: Sind konstitutionelle Monarchien stabiler, als republikanischen Demokratien? Vor 248 Jahren streiften die USA den Mantel monarchischer Macht stolz ab und wählten nun ihren mächtigen Präsidenten; Großbritannien blieb bei der vererblichen Rolle des Staatsoberhauptes. Vergleicht man die Stabilität, erweist sich Großbritannien als vorbildliche Demokratie – wegen der eindrucksvollen Beliebtheit Elizabeth II., aber auch wegen dessen. Was wir leichthin als „Klimbim“, als überholte monarchische Tradition belächeln. Die USA bleiben an ihre gusseiserne Verfassung gekettet, die ihnen weder erlaubt, vom unseligen zweijährlichen Wahlrhythmus abzuweichen, noch das Waffenrecht zu reformieren; eine „malade“, demokratiegefährdete Republik.“  [….]

(Klaus von Dohnanyi, 16.09.2022)