Donnerstag, 16. November 2023

Polnische Erosion

Die dominante Religion in Polen ist die römisch-Katholische Kirche.

Der Katholizismus war dort immer stark, aber als 1978 sensationell nach einem halben Jahrtausend der erste nicht-italienische und nach 2.000 Jahren Christentum der erste Pole Papst wurde, waren alle Polen als Katholiken hinter Karol Józef Wojtyła vereint. Als JP-II stand er nicht nur für Tradition und tiefe Mariengläubigkeit, sondern auch als Antipode zum kommunistischen Regime.

Meine Verwandten in der fernen USA, die Polen 100 Jahre zuvor verlassen hatten, platzten vor Stolz. Einer von ihnen war Papst.

Während seines Pontifikats gingen über die Hälfte aller Polen jeden Sonntag in den Gottesdienst. Seine Heimat galt das Land mit dem höchsten gesellschaftlichem Religiositätsniveau Europas.

Viele Jahre nach seinem Tod, ist die katholische Kirche immer noch die wichtigste und mächtigste Stütze von Jarosław Kaczyńskis rechtspopulistischer Prawo i Sprawiedliwość (PiS). Der PiS, die dieses Jahr abgewählt wurde.

Wie konnte das passieren? Nun, da es in Polen besonders viele Pfarreien und besonders viele Geistliche gibt, sind auch die pädosexuellen Übergriffe auf Messdiener und schwulen Sexpartys unter Priestern sehr häufig Thema in den Medien.

[….] Für die katholische Kirche ist die Angelegenheit maximal peinlich. Eigentlich sollen ihre Priester enthaltsam leben und sich ganz auf Gott konzentrieren, deshalb verbietet das sogenannte Zölibat katholischen Geistlichen die Ehe. Nicht weniger rigoros verhält sich der Vatikan zur gleichgeschlechtlichen Liebe: Homosexualität widerspreche dem Willen Gottes, so die Linie Roms, auch wenn es ein offenes Geheimnis ist, dass auch Männer der Kirche Sex miteinander haben. Doch in Polen wird ein Fall jetzt zum Aufreger – und das nur wenige Wochen vor der Parlamentswahl.

Anlass für die öffentliche Debatte ist eine Sexparty unter katholischen Priestern, die mit einem medizinischen Notfall endete. Das berichtet die Zeitung "Gazeta Wyborcza" unter Berufung auf einen der Partygäste. Demnach feierten die Geistlichen ihre Orgie in Dąbrowa Górnicza im Süden des Landes in einer kirchlichen Dienstwohnung. Auch ein Sexarbeiter sei angeheuert worden. "Die ganze Veranstaltung war rein sexueller Natur, die Teilnehmer nahmen alle Potenzmittel", zitiert die Zeitung ihre anonyme Quelle. "Dann geriet alles außer Kontrolle und der Sexarbeiter verlor das Bewusstsein." [….]. Fest steht nur, dass ein herbeigerufenes Rettungsteam zunächst nicht zu ihm durchkam: Wohl aus Furcht vor dem Skandal ließen die Priester die Sanitäter nicht ins Gebäude. Diese mussten erst die Polizei rufen, die den Helfern den Weg frei machte zu dem ohnmächtigen Sexarbeiter. [….]

Er bete dafür, dass Pfarrer Tomasz Z. von seiner sexuellen Orientierung geheilt werde, schreibt Bischof Kaszak weiter. Allein dieser Satz zeigt das extrem konservative Weltbild der katholischen Kirche in Polen. In Deutschland sind sogenannte Konversionstherapien zur "Behandlung" von Homosexualität seit 2020 verboten. Heikel ist die außer Kontrolle geratene Priesterorgie aber nicht nur für die polnische Kirche, die sich nach außen gerne als Hüterin einer strengen Sexualmoral darstellt. [….]

(T-online, 25.09.2023)

Auch im konservativen Polen lassen sich diese Skandale im Social Media-Zeitalter  weniger gut unter den Tisch kehren. Im Vergleich zur Volkszählung von 2011, sank die Zahl der polnischen Katholiken bis 2021 um 15 Prozentpunkte, um rund sechs Millionen Menschen, auf rund 71% ab.

Noch schmerzlicher für die Konservativen: die Polen gehen viel seltener in Gottesdienste und selbst diejenigen, die sich als religiös bezeichnen, hören vielfach nicht mehr auf ihre Kleriker.

[…..] In einer Zeitreihe von 1992 bis 2021, die im November 2021 publiziert wurde, (ausführlich die gesamte Untersuchung (in Polnisch) „Polski pejzaż religijny – z dalekiego planu“) wird die Entwicklung des Gottesdienstbesuchs nach Altersgruppen dargestellt. Dazu schreibt CBOS, dass bei den Jüngsten die „Glaubens- und Religionsabkehr am schnellsten“ geschieht.

„Unter Berücksichtigung des Alters ist der Prozess der Glaubens- und Religionsabkehr bei den Jüngsten am schnellsten. Der Anteil der regelmäßig Praktizierenden in der jüngsten Altersgruppe (18-24) sank von 69 % im Jahr 1992 auf 23 % im Jahr 2021. Der Anteil der Nichtpraktizierenden stieg in diesem Zeitraum von 8 % auf 36 %.
Der Grad der Religionsausübung unter den Befragten im Alter von 25 bis 34 Jahren war anfangs etwas niedriger als unter den Jüngsten: 1992 praktizierten 62 % von ihnen regelmäßig, während 8 % dies nie taten. Derzeit praktizieren 26 % der Befragten in diesem Alter regelmäßig und 30 % nehmen nicht an Gottesdiensten teil. Das etwas höhere Niveau der Religionsausübung als bei den Jüngsten deutet darauf hin, dass der Prozess der Aufgabe der Religionsausübung in dieser Altersgruppe etwas langsamer ist. Obwohl die Veränderungen in der Religiosität hauptsächlich jüngere Befragte betreffen, sind sie auch bei Menschen mittleren Alters und älteren Menschen sichtbar. Bei den Ältesten ab 65 Jahren ist der Anteil der niedergelassenen Ärzte von 73 % im Jahr 1992 auf heute 56 % gesunken und der Anteil der Nichtteilnehmenden von 9 % auf 17,5 % gestiegen.“
  [….]

(FOWID, 15.02.2023)

Natürlich; mit 71% Katholiken bleibt Polen im Vergleich zu Deutschland (unter 25% Katholiken) ein erzkatholisches Land.

Aber die jüngste Altersgruppe ist EU-affin und sieht anders, als Patriarch Kyrill I, oder Wojciech Polak (Erzbischof von Gniezno und Primas der katholischen Kirche in Polen) nicht Homosexualität als größtes Übel unserer Zeit an.

Sie distanzieren sich unaufhaltsam von der Papstkirche.

[….]  Polen ist ein katholisches Land. Fast 33 Millionen, somit mehr als 85 Prozent*  der Bevölkerung, sind Katholiken. Es gibt dort 10.361 Pfarreien, die sich in den Weihnachtstagen über leere Kirchenbänke sicherlich nicht beklagen werden. Es sind Tage, die dem in Deutschland weit verbreiteten Klischee von Polen als einem strenggläubigen katholischen Land entsprechen.

Doch von der bereits erwähnten hohen Zahl getaufter Polen und den über Weihnachten vollen Kirchen sollte man sich nicht täuschen lassen. Das Nachbarland, das von vielen Geistlichen, aber auch Politikern der regierenden PiS als letzte Bastion des Christentums dargestellt wird, säkularisiert sich unaufhaltsam.

Das belegen die regelmäßig veröffentlichten Statistiken des Statistikinstituts der katholischen Kirche. Während 1990 noch 50,3 Prozent der Katholiken an der Sonntagsmesse teilnahmen, waren es 2019 nur noch 36,9 Prozent.

Verantwortlich für die fortschreitendende Säkularisierung ist vor allem der Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen. Diese wurden über Jahrzehnte nicht nur vertuscht und verschwiegen. Einige Bischöfe stellten die Vorwürfe sogar als "Angriffe auf die Kirche" dar und betrieben eine Täter-Opfer-Umkehr.  [….]

(ZDF, 25.12.2022)

*Das ZDF nennt an dieser Stelle stark von der Volkszählung 2021 abweichende Zahlen. Selbst der Vatikan räumt einen wesentlich niedrigeren Katholiken-Anteil ein:

[…..]  Nur noch 27,1 Millionen Polinnen und Polen gaben an, dass sie katholisch seien, wie das nationale Statistikamt mitteilte; 2011 waren es noch 33,8 Millionen. Ihr Anteil an der Bevölkerung sank demnach von 87,7 auf 71,3 Prozent. Das Ergebnis sorgt in Polen auch deshalb für Aufsehen, weil die katholische Kirche im Land seit Jahren keine Angaben zur Zahl der Austritte macht. Zuletzt gab es mehrere öffentliche Kampagnen dafür, der Kirche den Rücken zu kehren. […..]

(Vatikan, 29.09.2023)

Wieso die RKK-Polen so sorgsam ihre Mitgliedszahlen verschweigt, kann man ob der dramatischen Erosion erahnen.

Dennoch stellen die osteuropäischen Oberkleriker mit sicherem Griff ins Klo die falsche Diagnose und verlangen von Rom und Deutschland viel hasserfüllter und bösartiger gegen Schwule und Trans-Menschen zu agieren.

[….] In Deutschland setzen sich viele katholische Bischöfe dafür ein, Homosexuelle und trans Menschen nicht weiter auszugrenzen. Doch die Kirche in Polen hält die Ablehnung queerer Menschen für einen der zentralen katholischen Glaubensfundamente, wie der Posener Erzbischof Stanisław Gądecki in einem am 9. November an Papst Franziskus gesandten Brief beklagt.

In dem Schreiben kritisierte er den Synodalen Weg, mit dem sich die deutsche Kirche modernisieren will. In dem Reformprozess wird etwa die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt gefordert. Laut Gądecki würden solche Vorschläge dem katholischen Glauben widersprechen und sich an "linksliberalen Ideologien" orientieren. Zum Thema der Segnung Homosexueller schrieb Gądecki etwa: "Man kann fragen, warum es nötig ist, Menschen zu segnen, die in Sünde leben." Er wendet sich auch gegen die Forderung aus Deutschland, dass transgeschlechtliche Gläubige ihren Namen und den Geschlechtseintrag im Taufregister ändern dürfen.

Gądecki hatte sich – wie auch andere Vertreter der katholischen Kirche in Polen – wiederholt gegen die Akzeptanz queerer Menschen ausgesprochen. Letztes Jahr warnte er etwa seinen deutschen Amtskollegen Georg Bätzing davor, "die Lehre der Kirche über die Sünde homo­sexueller Handlungen zu ändern" (queer.de berichtete).
Auch politisch ist Gądecki aktiv: So forderte er die kürzlich abgewählte rechtspopulistische PiS-Regierung 2019 noch auf, queere Menschen weiter zu diskriminieren (queer.de berichtete). Auch bei anderen Themen zeigte er sich voll auf Regierungslinie – etwa bei der Forderung der PiS-Regierung nach 1,3 Billionen Euro Reparationen von Deutschland, mit der sie antideutsche Ressentiments im Wahlkampf wecken wollte.
  [….]

(Queer, 16.11.2023)

Mit Erzbischof Stanisław Gądecki verfügt die polnische Kirche also auch über einen atheistischen Topagenten, wie Kardinal Woelki.

Erfreulich zu hören, wie intensiv die Bischöfe östlich der Oder daran arbeiten, die Menschen aus der Kirche zu jagen. Denn wenn man die Zahlen aus Deutschland auch nur ansatzweise auf unseren östlichen Nachbarn übertragen kann, sieht es schwarz aus für die Kirche, und zwar dunkelschwarz.

(…) [….]  Die große Mehrheit der Befragten sieht Reformbedarf bei den Kirchen: 80 Prozent der evangelischen und 96 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder sind der Meinung, dass sich die eigene Kirche grundlegend verändern müsse, um eine Zukunft zu haben. 95 Prozent der Katholiken befürworten, dass die katholische Kirche die Heirat von Priestern zulassen sollte, mehr als 80 Prozent der katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder finden, die Kirchen sollten homosexuelle Partnerschaften segnen. Die Studie zeigt, dass nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch die Bedeutung von Religion zurückgeht. [….]

(SZ, 14.11.2023)  (….)
(Religiosität raus, 15.11.2023)

Danke liebe RKK! Immer weiter so! Schießt Euch fleißig selbst weiter in die Knie!