Wie derb und unschicklich ein Wort konnotiert wird
unterliegt starken Schwankungen.
Als Grundschüler brachte ich das Wort „geil“ mit nach Hause
und löste damit so ein Entsetzen aus, daß mir ausdrücklich verboten wurde es
jemals wieder zu verwenden. Das geschockte Gesicht meiner Mutter sehe ich heute
noch vor mir.
Davor war das ein Begriff aus der Botanik für schnell
wachsende Triebe, aber nun wurde er auf einmal drastisch-sexuell verwendet.
Wenige Jahrzehnte später hat sich diese Schock-Konnotation abgeschliffen.
Geil ist nur noch eins unter vielen Synonymen des Wortes „gut“.
Eine genau umgekehrte Entwicklung nahm das Wort „Neger“, das
meine Elterngeneration noch als ganz neutralen Begriff verwendete.
Stolpert man heute in einem Mark Twain-Buch darüber,
schaudert es einen vor Entsetzen. Das Wort ist so eindeutig verletzend und
rassistisch, daß sogar die meisten AfD-Politiker es scheuen.
Manchmal kapern auch die mit einem drastischen Begriff
diskriminierten Minderheiten einen Begriff und versuchen seine Assoziation zu
verändern.
Sehr gut funktionierte das mit dem einst ebenfalls derb
beleidigenden Begriff „schwul“, den erst die Schwulen selbst adoptierten und der
heute allgemein gebräuchlich ist.
Schwarze Rapper nennen sich selbst und gegenseitig „Nigga“
oder „Nigger“ – aber in dem Fall ist die Verwendung des Begriffes nur streng
innerhalb der Gruppe der Schwarzen möglich. Kein Weißer darf sich das erlauben.
Eine etwas ähnliche Entwicklung bahnt sich bei dem Wort „retard“
an. Derzeit gilt der Begriff noch als stark abwertend.
Sarah Palin wurde sehr sehr böse, als ihr 2008 mit
Down-Syndrom geborener Sohn Trig retarded
(geistig behindert) genannt wurde, obwohl sie ihn selbst gelegentlich als „retard“
bezeichnete.
Inzwischen verwenden immer mehr Menschen mit Trisomie21
selbst den Begriff, um ihn aus der Schmuddelecke zu holen.
Feridun
Zaimoglu (*1964 in der Türkei) ist in vielerlei Hinsicht das
diametrale Gegenteil seines Schriftstellerkollegen Akif Pirinçci (*1959 in der
Türkei, Verurteilung wegen Volksverhetzung).
Er ist ausgesprochen sympathisch, hochintelligent,
engagiert, belesen, witzig und mauserte sich zu einem ganz großen deutschen
Schriftsteller.
Pirinçci, der in Ermangelung von Talent und Bedeutung
inzwischen nur noch durch Verwendung bösartigster rassistischer Hetzbegriffe in
Erscheinung tritt, ist ein armes Würstchen, der sein Metier nicht beherrscht.
Er kann nicht mit Worten spielen, kreativ mit ihnen umgehen, sondern muss sich
darauf beschränken die primitivsten Worte als verbale Keulen einzusetzen.
Zaimoglu ist ein Meister der deutschen
Sprache, verwendet sie virtuos in
seinen großen Romanen.
Schlagartig bekannt wurde er aber 1995 mit seinem Buch „Kanak
Sprak“.
Vor 24 Jahren gefiel mir der Titel gar nicht.
Mein damaliges Konnotationssystem schlug bei dem Begriff „Kanake“
so negativ aus, daß ich strikt vermied diesen Terminus zu gebrauchen.
Schon vor über 20
Jahren fühlte sich Zaimoglu von der wie immer sagenhaft verblödeten Gaby
Hauptmann genervt, als sie ihn in der „III nach 9“-Talkshow
als „Türke“ darstellte. Schon damals gab es 40 Jahre
Integrationsgeschichte, ohne daß Politik und Journalisten die zweite oder
dritte Generation überhaupt verbal zur Kenntnis nahm.
Faszinierend das heute zu sehen. Auch eine so kluge Frau wie
Heide Simonis macht den in Deutschland lebenden Deutschen Zaimoglu gleich für
die Türkei verantwortlich und pestet, sie dürfe schließlich in der Türkei auch
nicht so reden.
Ignatz Bubis erzählte auch immer gern, wie ihn
Spitzenpolitiker auf SEINEN Präsidenten ansprachen und er antwortete „Ja, was
ist mit Roman Herzog?“.
50 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges outeten sich die
Volksvertreter mit der Ansicht Juden gehörten immer noch nicht nach Deutschland
und wären Israelis.
Inzwischen ist eine weitere Generation migrantischen Lebens
entstanden und immer noch werden diese Millionen Deutschen ignoriert.
Viele Menschen, deren migrantisches Erbe optisch sichtbar
ist, oder die aus anderen Gründen vom rechten Mainstream nicht akzeptiert
werden – PoCs* - obwohl sie lange voll
integriert sind, reagieren mehr und mehr genervt.
*PoC sind
alle, die als "anders" wahrgenommen werden und damit nicht als
"weiß" (=deutsch, christlich, europäisch). Es geht dabei nicht um die
Beschreibung von Hautfarben - auch hellhäutige Frauen mit Kopftuch oder Männer
mit Kippa sind of Color und nicht weiß.
Die großartige SPIEGEL-Journalistin Ferda Ataman (*1979 in
Stuttgart) ist wütend.
[……] Ich
sage in jüngster Zeit häufiger "wir Kanaken" oder "wir
Känäx" (Kanaks, englisch ausgesprochen). Ich sage das an Stellen, wo ich
früher "Menschen mit Migrationshintergrund" oder "aus
Einwandererfamilien" verwendet hätte. Ich mag aber nicht länger so tun,
als würde es ums Einwandern gehen. Was haben Kinder, die heute in der dritten
Generation in Deutschland geboren sind, mit Migration zu tun? Am Ende des Tages
geht es darum, zu welcher "ethnischen" Gruppe man gehört. Also fühlt
sich Kanaken als Bezeichnung ehrlicher an als Migranten. [……]
Atamans noch prominentere Kollegin Ferdos Forudastan (*1960
in Freiburg), die Nachfolgerin von Heribert Prantl als Innenressortchefin bei
der Süddeutschen Zeitung ist mit dem ehemaligen NRW-Minister, Vorstandsvorsitzenden
des Deutschen Olympischen Sportbundes, aktuell Präsidenten des Direktoriums für
Vollblutzucht und Rennen, Michael Vesper verheiratet, geht bedauerlicherweise
allerdings demnächst zur Civis-Medienstiftung und
somit wirklich „angekommen.“
Auch sie macht die gleichen Erfahrungen, wird dauerhaft als
Migrantin, als „Nicht-dazu-Gehörende“ wahrgenommen und beklagt Nichtbeachtung
durch Politik und Medien.
[…..] Es ist ein grobes Missverhältnis: Wenn deutschstämmige Bürger fürchten,
dass dieses Land sich mit der Aufnahme von Geflüchteten überfordert, sind
etliche Politiker rasch zur Stelle. Sie hören zu, erklären, äußern öffentlich
Verständnis. Wenn Menschen mit ausländischen Wurzeln fürchten, dass der
Rechtsruck hierzulande ihr Leben erschwert, wenn sie Angst davor haben, dass
Diskriminierung und Angriffe zunehmen, dann landet das vergleichsweise selten
auf der Agenda vieler Träger von Amt und Mandat.
Wie fühlen sich Männer mit dunkler Hautfarbe oder Frauen mit Kopftuch
dort, wo mindestens ein Viertel der Wähler für die AfD gestimmt haben? Wie geht
es Einwanderern oder ihren Nachkommen, wenn zahlreiche Nachbarn oder Kollegen
das Kreuz bei einer Partei gemacht haben, in der sich Rassisten tummeln? Auch
zwei Wochen nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen sind das keine Fragen,
die es nennenswert in den politischen Diskurs geschafft haben - weder im Osten
noch darüber hinaus.
Das Abschneiden der AfD bei Wahlen und in Umfragen treibt viele
Migranten und Menschen, die dafür gehalten werden, ebenso sehr um wie etwa der
Hass gegen sie im Netz. […..]
Nur zu verständlich, daß man es satt hat sich anzubiedern,
stromlinienförmig zum Vorzeigedeutschen zu werden. Daß man es satt hat verbal
mit Samthandschuhen zu agieren, sondern an dem Punkt ankommt, an dem Zaimoglu
schon vor einem Vierteljahrhundert war: Wir sind Kanaken.
Die radikale Fremdenfeindlichkeit der AfD, der fast niemand –
außer vielleicht Johannes Kahrs – entgegentritt,
macht es deutlich.
Niemand fühlt sich zuständig, niemand solidarisiert sich wirklich,
niemand zeigt Empathie.
[……] Stärkt
es die Demokratie, wenn Rassisten in Parlamenten und Medien zu Wort kommen? Wer
das so sieht, ist wohl selbst von Hass und Hetze nicht betroffen. Bei denen,
die es sind, wächst das Unverständnis - und die Wut.
[……] Viele
Menschen mit Kanakenhintergrund sind alarmiert, weil sie öfter als sonst
Nachrichten über mutmaßlich rechtsextreme Anschläge und Netzwerke hören. Ich
finde, in Anbetracht der bedrohlichen politischen Lage legen Millionen von
Menschen viel Ruhe und Gelassenheit an den Tag. Sie machen sich nicht
bemerkbar. Doch die Ruhe ist nur oberflächlich. Innerlich brodelt es bei
vielen. Sie sind wütend. Ich bin wütend.
Die Wut rührt nicht etwa daher, dass sich der braune Bodensatz
inzwischen in allen Parlamenten wiederfindet und legitimiert fühlt. Der Zorn
kommt vor allem wegen der Ignoranz der Mitte. Ich habe den Eindruck, Kanaken
und die weiße politische Mitte - das sind zwei Welten, die gerade
auseinanderdriften.
Ein Beispiel: Nur wenige Wochen nach dem antisemitischen und
rassistischen Terroranschlag in Halle war das große Thema in sämtlichen Medien,
dass sich viele Deutsche in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Keine
Ahnung, in welcher Parallelgesellschaft diese Opfer der Meinungsfreiheit leben,
aber spielt es denn gar keine Rolle, wie so eine Debatte bei Juden und anderen
People of Color* ankommt, die in den vergangenen Jahren beobachtet haben, dass
man den Holocaust relativieren oder Menschen als Parasiten bezeichnen kann,
ohne dass das Konsequenzen hat? [……]
In meinem privaten Umfeld merke
ich das Brodeln bereits beim Smalltalk, wenn die Frage kommt, "und was ist
dein Plan B für Deutschland?" Ich bin jedes Mal wieder erstaunt, wie viele
schon eine Antwort darauf parat haben.
Vielleicht habe ich sie auch überhört, aber ich kenne keine einzige
politische Ansprache, die das berücksichtigt und sich explizit an Deutsche of
Color und Eingewanderte richtet. So etwas wie: "Keine Sorge, da wollen
gerade ein paar Rechtsextreme Taten statt Worte walten lassen, aber wir dulden
das nicht. Wir werden mit aller Härte des Rechtsstaats dagegen vorgehen."
Ich sage es mal ganz pauschal: Wir Kanaken sind von den etablierten Parteien
enttäuscht. [……]
Lange Zeit glaubte ich mir vorstellen zu können wie sich
Ausländer in Deutschland fühlen.
Ich habe auch keinen deutschen Pass, einen eigenartigen
Namen, den niemand aussprechen kann und lebe in vieler Hinsicht außerhalb der
Norm.
Ich empfand es als latent beleidigend, wenn mir Freunde mit
dunklerem Teint sagten „du kannst dir nicht vorstellen wie das ist…“
Inzwischen glaube ich aber auch, daß die optische
Sichtbarkeit – dunkle Haut, Kippa, Schläfenlocken, Kopftuch die Erfahrung von
ständiger Ausgrenzung auf ein anderes Niveau hebt.
Vermutlich können sich Weiße das tatsächlich nicht wirklich
vorstellen.