Selbstverständlich wirkt das Holokaust-Trauma, unter anderem, auch in Form der Entschlossenheit nach, sich nie wieder widerstandlos zur Schlachtbank führen zu lassen.
Auch sehr pazifistische Israelis, die sich intensiv für Frienden und Verständigung mit den arabischen und christlichen Nachbarn einsetzen, stellen nicht die finanziellen Belastungen für eine schlagkräftige Armee oder die Wehrpflicht in Frage.
Nachdem 07.10.2023 melden sich, neben 360.000 anderen, sogar Ultraorthodoxe, die vom Wehrdienst ausgenommen sind, zu tausenden freiwillig.
[….] Nechumi Yaffe ist die erste und einzige ultraorthodoxe Professorin. Die Politikwissenschaftlerin beobachtet, dass in der Gemeinschaft etwas in Bewegung gekommen ist. "Wir erleben den wahrscheinlich schrecklichsten Moment seit der Gründung des Landes", sagt sie im Interview mit dem ARD-Studio Tel Aviv. "Die Ultraorthodoxen wollen jetzt einfach Verbündete sein, helfen und ihren Anteil leisten." Yaffe sitzt in einem Büro in Jerusalem. Um sie herum wuseln Dutzende junge Ultraorthodoxe. Mit Laptops auf ihren Knien organisieren sie Essen, Schutzwesten oder Transporte für Soldaten an der Front. Die Armee hat in Rekordzeit Hunderttausende Menschen mobilisiert, so dass die Logistik kaum mithalten kann. Die ultraorthodoxen Freiwilligen füllen diese Lücke - zusammen mit anderen Initiativen. […..]
Die antisemitische Welle, die durch die Welt rollt und auch Juden in Westeuropa dazu bringt, zumindest schon mal die Koffer vom Dachboden zu holen, verstärkt die innerisraelische Solidarität mit der eigenen Armee. Pogrome sind überall möglich und letztlich können sich die Juden auf dieser Welt nur auf sich selbst verlassen. Der Staat Israel muss unter allen Umständen als Zufluchtsort erhalten bleiben.
Das ist so einleuchtend, daß sich auch Staatsbürger, die Netanyahu zutiefst verachten und auf gar keinen Fall palästinensische Zivilisten gefährden wollen, freiwillig melden, um zu kämpfen. Es muss sein.
[….] Bar ist 32, hat eine Tochter, neun Monate alt, und einen vierjährigen Sohn, die mit seiner Frau und seinem Hund zu Hause auf ihn warten. In seiner Tasche trägt er ein Buch über zivilen Ungehorsam in Krisenzeiten. Die Besatzung von Gaza, die er immer noch so nennt, hält er für falsch. […] Er weiß, was er machen muss, wenn die M109 klemmt, oder was er tun muss, damit sie trifft. Geschütze. Bunker. Häuser. Er hält seine Augen auf die Straße. Es passe nicht zu ihm, das alles, sagt er selbst. Bar ist ein reflektierter Mensch, er nennt sich liberal, fast links. Er interessiert sich für somalische Flüchtlinge, die hohen Lebensmittelpreise und Skandale in Gefängnissen und schreibt darüber. Er war bei den Demonstrationen gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dabei, bei den Wasserwerfern. Zweimal sollte er Dienst im Westjordanland leisten, zweimal habe er abgelehnt. Wahrscheinlich würde er dort auch die Moral der Truppe senken, sagt er lächelnd. Er trägt Che-Guevara-Shirts, er raucht mal einen Joint. Er streite sich mit den rechten Kameraden seiner Truppe, die, wie er sagt, Gaza am liebsten zurück in die Steinzeit bomben wollten. [….] Er habe bisher nur in die Grenzregion geschossen, um die Reparatur des Zauns und die Arbeiter zu schützen. Und wenn der Befehl kommt, in eine belebte Ortschaft zu schießen? »Dann«, sagt er zögerlich, »werde ich nicht schießen.« Er denkt noch eine Weile über den Satz nach und fügt dann hinzu, er würde es nur tun, um verletzte israelische Soldaten zu beschützen. »Dann werden wir uns um nichts anderes kümmern, als unseren Kameraden zu helfen.« […..]
(Jonathan Stock, 02.11.2023, DER SPIEGEL 45/2023)
Es wäre vermessen, zu behaupten, man könne sich in die lebensgefährliche Situation israelischer Bürger hineindenken. Aber ich halte solche Geschichten für absolut nachvollziehbar.
Ganz abgesehen von der Schuldfrage – das extreme Versagen der Regierung Netanyahu erscheint mir jetzt schon sicher – bleibt es Aufgabe jeder Israelischen Regierung, nun ein Signal der Stärke an die feindliche Umgebung zu senden: Wir sind nicht so schwach, wie es am 07.10.2023 aussah, als Hamas-Kämpfer mit vergleichsweise primitiver Ausrüstung unsere Hightech-Verteidigung überwanden.
Die vom Iran finanzierten und aufgerüsteten antiisraelischen Kämpfer bei der Hisbollah, aber auch in Syrien, im Irak und im Jemen, sollen nicht auf die Idee kommen; Israel wäre so schwer getroffen und so schwach, daß es sich lohne, jetzt anzugreifen.
[….] die von der Hamas begangenen Gräueltaten. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern gefoltert, bevor man sie tötete. Das war das pure Böse. Wir haben die zweite Intifada hinter uns, wir haben erlebt, wie in Israel Busse explodierten. Wir haben viele Jahre lang Krieg erlebt. Aber was am 7. Oktober geschehen ist, war bis dahin unvorstellbar. Das können wir nicht wirklich verarbeiten. Meine Eltern kamen 1925 in dieses Land, sie sind also keine Holocaustüberlebenden. Trotzdem ist jeder Israeli mit den Bildern des Holocaust aufgewachsen. Nachdem wir 75 Jahre lang unseren Staat hatten, hatten wir das Gefühl, dass wir in einer anderen Realität leben. Israel war stark. Israel ist ja auch jetzt noch stark, aber die Vorstellung, dass jemand in dein Schlafzimmer eindringen könnte, um deine Kinder abzuschlachten und zu foltern, dich zu enthaupten – das hat die tiefsten Gefühle eines jeden Israelis berührt. Jeder fühlt sich dadurch nun verletzlich. Und da Israel ein kleines Land ist, kennt jeder jemanden, der an diesem Tag getötet, verwundet oder entführt wurde. Es ist ein nationales Trauma. [….] Aber jetzt sehen wir eine Gesellschaft, die geeint ist – geeint im Verständnis, dass die Hamas nicht weiter bloß eingedämmt werden kann. Deshalb haben wir alle anderen Streitigkeiten aufgeschoben, einschließlich der Debatte über diese Reformen und der Frage, wer der neue Premierminister sein wird. [….] Der Konflikt ist auf die schrecklichste Weise explodiert. Leider würden viele Israelis daraus schließen, dass wir eben nicht in Frieden mit den Palästinensern leben können. Ich hingegen glaube, dass es noch mehr Probleme geben würde, wenn wir diesen Konflikt nicht lösen und das Gebiet nicht aufteilen. Mein Ziel ist und bleibt ein sicherer jüdischer demokratischer Staat. Auch wenn wir eine Zeit lang keinen Partner dafür haben, dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Wir hatten keine Strategie für Gaza, weil wir es aus den Augen verloren hatten. […..]
(Tzipi Livni, ehemalige israelische Außenministerin, 08.11.2023)
Das Problem ist aber, daß Militärs nicht feinsäuberlich zwischen der bösen Hamas und den unschuldigen palästinensischen Zivilisten im Gaza unterscheiden können. Das ist unmöglich. Zudem leben die Menschen dort extrem dicht gedrängt. 1,2 Millionen von ihnen sind Kinder.
Es entstehen grausame Bilder; echte und noch mehr gefälschte; von den Opfern der israelischen Bombardements. Tausende Palästinensische Kinder wurden bereits getötet und verletzt. Die Bilder der Leichen, die Videos von den weinenden Augen, vor Angst zitternder Kleinkinder, die staubüberdeckt aus Trümmern gezogen wurden, fluten Social Media. Das erzeugt noch mehr antiisraelische Stimmung, noch größere Unsicherheit für Juden in Paris, Florida oder Berlin.
Bei dem unvermeidlichen Ausschalten der unmittelbaren Gefahren für Israel, schafft die Netanyahu-Regierung also gleichzeitig immer neue Gefahren.
Es ist wirklich eine alptraumhafte Gefahrenlage, bei der die Jerusalemer Regierung unbedingt klare Zielvorgaben machen müsste, um der Welt zu erklären, was sie erreichen will. Wie die Zukunft des Volkes in Gaza und dem Westjordanland aussehen soll.
Aber auch an dieser Kernaufgabe scheitert der Langzeit-Regierungschef. Der Mann hat keinen Plan.
[….] Denn das eigentliche Dilemma des israelischen Gegenschlags liegt ja in der Schwammigkeit der Operation. Die Hamas soll vernichtet werden - ein so umfassendes wie unkonkretes Ziel. Wie genau soll das erreicht werden? Wann exakt gilt die Hamas als vernichtet? Und welche Perspektive haben dann die Hunderttausenden, die in diesem Krieg zwischen den Fronten stecken?
Die israelische Seite liefert beklagenswert wenig Ideen, was die Zukunft der Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank angeht. Die radikalen Vorschläge der israelischen Kabinetts-Extremisten - Vertreibung der Palästinenser aus Gaza oder Einsatz einer Nuklearwaffe - wurden als Einzelmeinung kassiert und mit dem Ausschluss von Kabinettssitzungen bestraft. Das behebt aber noch immer nicht das politische Defizit, das Premier Benjamin Netanjahu verantwortet. Selbst wenn die Zweiteilung einem schlüssigen militärischen Plan folgt (die Einschnürung und Isolation der Hamas), so muss eine Militärkampagne dieser Dimension immer auch einer politischen Idee gehorchen. Die Vernichtung der Hamas ist aber keine politische Idee, sie ist erst mal nur Beweis von militärischer Überlegenheit - und von Ratlosigkeit. [….]
(Stefan Kornelius, SZ, 06.11.2023)
Als ob die Situation für Israel nicht schlimm genug wäre. Fatal erschwerend kommt eine absolute Fehlbesetzung als Regierungschef hinzu.