Mittwoch, 17. April 2019

Gesunde Menschen.


Mir wird immer etwas mulmig, wenn das Verfassungsgericht über ein Thema verhandelt, das mir sehr am Herzen liegt, weil ich dann weniger die Juristerei sehe, als ein paar ganz wenige Menschen, die über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden.
Wenn man sich dazu vergegenwärtigt wie oft oberste Gerichte einfach entlang der Parteilinie entscheiden, scheint es ja auch nicht so weit her zu sein mit den unbestechlichen rechtsstaatlichen Regeln.
Natürlich ist das in Deutschland noch vergleichsweise unideologisch, verglichen mit dem US-Supreme-Court, der Dank Trump zunehmend mit extremistischen Fanatikern besetzt ist. Jeweils auf Lebenszeit.

Heute verhandelten die allerhöchsten deutschen Richter über die Sterbehilfe, um den schändlichen Paragraphen 217 Strafgesetzbuch, der 2015von den Top-Religioten des Bundestags gegen die überwältigende Mehrheit im Volk durchgeprügelt wurde.
 Das Gesetz stellt die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe und wenn ich als Nicht-Jurist es richtig verstehe, bedeutet „geschäftsmäßig“ nicht nur das was sich Otto-Normal-Bürger darunter vorstellt, nämlich einen dubiosen Händler, der sich mit dem Verkauf von Sterbepillen bereichert, sondern jeder, der öfter mit dem Tod zu tun hat, weil er Pfleger, Bestatter, Arzt oder ähnliches ist, fällt unter den juristischen Ausdruck „geschäftsmäßig“, auch wenn er sich nicht daran bereichert.

Damit stehen Palliativmediziner, die Kranken helfen schon mit einem halben Bein im Knast.
Ein unmöglicher Zustand, den wir echten Sadisten wie Käßmann, Marx, Bedford-Strom und ihren willigen Helfern Andrea Nahles, Kerstin Griese, Kerstin Göring-Kirchentag und der CDU/CSU-Fraktion zu verdanken haben.

In der viel gescholtenen seriösen Printpresse („Mainstreammedien“) gibt es zum Thema eine Fülle ausgezeichneter, ausgewogener und fundierter Artikel.
Natürlich kommen auch Experten zu Wort, zum Beispiel im Deutschlandfunk.

[….] Es geht um Menschen, die ganz extrem leiden am Lebensende, die aus ihrer Sicht – und das ist die einzig gültige – unerträglich leiden, die ihre Sterbephase als qualvoll oder auch als würdelos empfinden.
Ein paar Beispiele – es gibt sehr, sehr viele. Patienten mit amyotropher Lateralsklerose, eine fortschreitende Lähmungskrankheit, die im Verlauf ihrer Krankheit vollständig auf Hilfe angewiesen sind, teilweise, wenn sie nur noch wenige Wochen zu leben haben, ihren Zustand mit samt der Schmerzen, der Atemnot als entwürdigend empfinden, und die ihren erschöpften Angehörigen und auch sich selbst die letzten Lebenswochen ersparen möchten, was man nun schlecht als unethischen Wunsch darstellen kann.
Aber auch Patienten mit Lungenerkrankungen, Raucherlunge, Lungenfibrose, die bei der geringsten Anstrengung auch in Ruhe schreckliche Atemnot haben, aber gerade noch so viel atmen können, dass sie eben nicht sterben. Oder Krebspatienten mit Schmerzen, die auch die beste Palliativmedizin in der Sterbephase nicht ausreichend lindern kann. [….] Es gibt einen kleinen Prozentsatz, bei dem auch die beste Palliativmedizin nicht wirkt. Aber auch seltene Erkrankungen gibt es wie die Epidermolysis bullosa; das ist eine schreckliche Hauterkrankung, wo sich die ganze Haut in Blasen auflöst und schmerzhafte offene Geschwüre am ganzen Körper hinterlässt.
Es gibt wirklich Zustände am Lebensende, die möchte man sich nicht einmal vorstellen, und trotzdem gibt es sie. Und diese extrem leidenden Menschen, das sind die, die wir aufgrund einer – ich kann es nur so sagen – ideologischen Verbohrtheit im Stich lassen, und das kann ich als Arzt nicht akzeptieren. [….]

Es zerreißt mir nicht nur das Herz alle diese Fälle zu lesen, wie Sterbenskranke um ihr rettendes Medikament betteln, das ihn aus christlicher Bösartigkeit verweigert wird.

[….] "Warum ich gern Natrium-Pentobarbital hätte"
Meine Krankheit ist unheilbar, im schlimmsten Fall steht mir ein quälendes Sterben bevor. Das will ich verhindern können - mit einer Arznei, die ich irgendwann selbst anrühren und schlucken kann. Ohne Hilfe. Doch der Gesetzgeber hindert mich daran.
[….] "Ihr Antrag vom 13.04.2018 wird abgelehnt." Das schreibt mir das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im September 2018. Es ist ein so freundliches wie sachliches, dreiseitiges Schreiben, in dem ich mit meiner Krankheit bedauert werde. Ich wollte doch nichts weiter als 16 Gramm Natrium-Pentobarbital, als letztes Mittel für schlechteste Zeiten. Die kommen erst noch, aber sie kommen sicher. Ich habe Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, eine tödlich verlaufende Krankheit.
Zu wissen, dass C11H18N2O3 bei mir liegt, wäre eine Erleichterung. [….]

Ich fließe nicht nur über vor Mitleid, sondern es packt mich eine heilige Wut auf Christen-Parlamentarier und den Gesundheitsminister Jens Spahn, der sich perfide, grausam und sadistisch sogar über eine Anordnung des Bundesverwaltungsgerichts hinwegsetzt, das Pentobarbital an Patienten auszuhändigen. Da muss ich das größte Wort verwenden: Hass.
Ich hasse diese Politik.

 (….) Ich spreche von den bestialisch-brutalen, anmaßenden und völlig herzlosen CDU-Größen Jens Spahn und Michael Brandt, die allerdings auch in anderen Parteien Unterstützung für ihre radikal menschenfeindliches Agieren bekommen; man denke nur an Kerstin Griese (SPD) und Kathrin Göring-Kirchentag (Grüne).
Es geht um die Beschaffung von Natrium-Pentobarbital; vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig vor einem Jahr höchstrichterlich unter ganz bestimmten Umständen erlaubt.
Endlich kann Schwerstkranken, deren Leben eine einzige brutale Qual ist, geholfen werden.

[….] Schwer kranke Menschen können zukünftig Anspruch auf Medikamente zur schmerzlosen Selbsttötung haben. "In extremen Ausnahmesituationen" dürfe ihnen dies nicht verwehrt werden, entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. (Az: 3 C 19.15)
Das Persönlichkeitsrecht umfasse bei einem unheilbar kranken Menschen unter bestimmten Voraussetzungen auch das Recht, zu entscheiden, wie und wann er aus dem Leben scheiden wolle.
Geklagt hatte ein Mann aus Braunschweig für seine inzwischen verstorbene Ehefrau. Seit einem Unfall im Jahr 2002 war sie vom Hals abwärts komplett gelähmt. Sie musste künstlich beatmet werden und war ständig auf medizinische Betreuung und Pflege angewiesen. Häufige Krampfanfälle verursachten ihr starke Schmerzen.
Sie wollte ihrem als unwürdig empfundenen Leben ein Ende setzen und beantragte beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erlaubnis, 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu erwerben. Das Institut lehnte ab, weil dies durch das Betäubungsmittelgesetz ausgeschlossen sei. Die Frau nahm sich schließlich 2005 in der Schweiz mit Unterstützung eines Sterbehilfevereins das Leben. [….]

Echte Sadisten aus christlichen Kreisen verweigert nun seit 15 Monaten den kränksten und bedauernswertesten Menschen ihr Recht auf eigene Entscheidung und verdammen sie zur maximalen Qual.
Der damalige Gesundheitsminister Gröhe goß offenbar genauso gern wie sein jetzt amtierender Nachfolger Spahn Salzsäure in die Wunden der Schwerstkranken.  Geltendes Recht interessiert ihn nicht, Moral und Anstand sowieso nicht. Pentobarbital wird nicht rausgegeben.

[…..] Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das am Ende des Rechtsstreits stand, schockierte manchen. Allen voran Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Im März vergangenen Jahres entschieden die Leipziger Richter, dass das Gröhe unterstellte BfArM in Ausnahmefällen zur Abgabe tödlicher Medikamente verpflichtet sein kann.
Für konservativ-christliche Politiker, zu denen sich der Protestant Gröhe zählt, ein Tabubruch. Der Staat als Sterbehelfer? So weit darf es aus seiner Sicht nicht kommen. Trotzdem ist Gröhe in der Pflicht. Das Urteil bindet die Behörden. Dem BfArM liegen aktuell 86 Anträge von Patienten vor, die für sich keinen anderen Ausweg sehen.
Gröhe will das Urteil nicht umsetzen. [….]

Jens Spahn, der im höchsten Maße kamerasüchtig üblicherweise vor jedes Mikro rennt, taucht in dieser Angelegenheit unter. Sagt nichts.

Das sind Christen, für die ich echten Hass empfinden kann.
Spahns Weigerung Menschen in höchster Not zu helfen, die Betroffenen perfide hinzuhalten, ist abscheulich.
Christliche Anmaßung der übelsten Art. Wenn sie selbst von MS zerstört bewegungsunfähig und unter grausamen Schmerzen im Rollstuhl sitzen, dürfen sie sehr gern als Christen den Zustand bis zur letzten Sekunde genießen und Gott für das Geschenk dieser Tantalos-Folter danken. Aber zwingt nicht die Ungläubigen dazu, das genauso zu machen.

                    

Diese drastischen Schilderungen extremer Fälle in den Medien verfehlen nicht ihre Wirkung, da sie sich angesichts der eigenen 100%-Wahrscheinlichkeit zu sterben nicht als Kuriosität, die einen selbst nie betreffen wird, wegschieben lassen.
Niemand will so enden und da jeder irgendwann endet, fragen sich viele wie sich wohl das eigene Sterben anfühlt.

Auch die Verfassungsrichter sind davon berührt und stellen Fragen, die so gar nicht im Sinne der Mega-Religioten Griese/Nahles/Gröhe/Kauder sind.

[….] Präsident Andreas Voßkuhle warf die Frage auf, an wen sich eigentlich jene kleine Gruppe von Menschen wenden könne, die frei verantwortlich aus dem Leben scheiden wolle - und eben nicht die Hilfe von Hospizen oder Palliativmedizin in Anspruch nehmen wolle.
Auch sein Kollege Johannes Masing wollte wissen, wie mit Menschen umzugehen sei, die nicht die Kraft für eine leidvolle Behandlung bis zum Tod aufbringen wollten. Das Gesetz verbiete aber professionelle Hilfe zum Suizid: "Muss man das also aushalten?" Verfassungsrichter Peter Huber erinnerte daran, dass nicht der Arzt im Zentrum der Aufmerksamkeit des Gerichts stehe, sondern der Patient - und die Frage, wie weit seine Selbstbestimmung reiche. Wie würden Ärzte auf seinen Suizidwunsch reagieren, "wenn derjenige nun einen grundrechtlichen Anspruch hat?" […..]

Es ist dramaturgisch verständlich die Leiden von Menschen mit Amyotrophe Lateralsklerose, Lungenfibrose, Krebspatienten oder Epidermolysis bullosa zu beschreiben.
Wer auch ihnen das Pentobarbital verweigert, macht sich nicht beliebt.
Wenn man ihnen aber Sterbehilfe erlaubte, fragt sich wie viel weniger dramatisch genau eigentlich Krankheiten sein dürfen, um auch das Medikament zu bekommen. Gilt das für Magen- und Pakreaskrebs, nicht aber für Prostatakrebs, weil es da eine sehr hohe Heilungschance gibt?
Was ist MS oder Mukoviszidose? Daran stirbt man auch, aber langsamer.
Logged-In-Zustände? Parkinson, Alzheimer?
Was ist mit einem Gelähmten im Rollstuhl wie Dr. Udo Reiter, der 20 Jahre MDR-Intendant war und sich 2014 als prominentes Gesicht der Kampagne „Mein Ende gehört mir“ im Alter von 70 Jahren das Leben nahm?
Sofort grätschte die gehässige, mitleidslose und anmaßende Bischöfin Käßmann nach: Sein Zustand sei ja nicht lebensbedrohlich.
So abartig kann nur eine Gottesfrau sein. Der Mann saß seit 1966, also fast ein halbes Jahrhundert vom 5. Brustwirbel abwärts gelähmt im Rollstuhl und wird wohl am besten beurteilen können, ob er so weiterleben möchte oder nicht.

Das führt aber die Absurdität der Debatte vor Augen: Man kann nicht von außen objektiv festlegen welche Krankheit schlimm genug ist, um Pentobarbital zu bekommen, ALS ja, Rollstuhl nein? Lungenkrebs ja, Lungenentzündung nein?
Mukoviszidose ja, Grippe nein?

Mediziner (und Nichtmediziner wie mich) fasziniert unter anderem Langlebigkeit. Dabei stellte sich die Annahme Hochbetagte müssten besonders gesund sein, als weitgehend falsch heraus.
Über 100-Jährige haben üblicherweise das was man als „schwere Leiden“ dieses Alters annehmen würde. Enorme Bewegungseinschränkungen, Schmerzen, versagende Sinnesorgane. Ihre Besonderheit ist eher wie stoisch und gelassen sie diese Krankheiten hinnehmen.
Offenbar leiden Menschen unter den gleichen Krankheiten sehr unterschiedlich.
Was für den einen unerträgliche Schmerzen sind, kann der andere aushalten.
Ich wundere mich zum Beispiel immer über Politiker, die trotz schwerer Grippe arbeiten. Gelegentlich wird mal erwähnt, daß der ein oder andere trotz hohen Fiebers Wahlkampf macht.
Ich hatte schon mal Grippe mit Fieber, die sich so anfühlte, daß ich noch nicht mal zwei Meter vom Bett zum Klo gehen konnte, nicht reden, nicht denken konnte. Wie können andere sich dabei zwingen aufzustehen, zu denken, zu arbeiten, rumzulaufen?

Was man als „zu krank zum weiterleben“ empfindet, ist meiner Ansicht nach individuell so unterschiedlich, daß es dafür keine gesetzlichen Regeln geben darf.
Wenn sich jemand einen Schluck Pentobarbital gönnen möchte, weil ihm ein Fingernagel abgebrochen ist, oder die Dauerwelle misslungen ist, klingt das für die meisten sicher absurd.
Aber er/sie sollte das dennoch selbst entscheiden dürfen. Es geht niemand anders etwas an. Nicht die Kirchen, nicht die Bischöfin Käßmann, nicht Herrn Spahn und auch nicht die Verfassungsrichter.
Ich fordere: Eine Dosis Pentobarbital für jeden erwachsenen, zurechnungsfähigen Menschen, der es möchte. Unabhängig vom Gesundheitszustand.
Ja, verdammt, ich hätte auch gern einen Dosis Pentobarbital im Schrank.
Ich weiß nicht, ob ich das je einnehmen würde. Aber das Wissen die Möglichkeit dazu haben, wäre mir eine enorme Hilfe.