Mittwoch, 20. April 2022

Wenn Putinversteher-Hasser, Putin verstehen.

Es ist seit 1998 Tradition der liberalen Hamburger wöchentlichen Periodika kampagnenartig gegen SPD-Kanzler anzuschreiben. Gabor Steingart, die vor 20 Jahren treibende neoliberale Kraft beim SPIEGEL, ging zwar den üblichen Broder/Tichy/Matussek-Weg nach ganz rechts und wirkt nun als scharfrechter Podcaster und Blogger. Aber seit Olaf Scholz vor anderthalb Jahren Kanzlerkandidat wurde, ist kein auch nur halbwegs neutraler oder gar lobender Artikel mehr über ihn erschienen. Sie wollen ihn ganz offensichtlich loswerden, so wie sie Rot-Grün im Jahr 2002 durch ihre Traumkoalition Merkel-Westerwelle zu ersetzen trachteten, wie sie versuchten Ministerpräsident Stolpe zu stürzen oder Gregor Gysi zu vertreiben.

Nun ist es selbstverständlich das gute Recht eines politischen Magazins gegen SPD-Politiker Stellung zu beziehen und taktisch für die CDU zu arbeiten. Das gehört zum Presse-Pluralismus, der in Deutschland glücklicherweise existiert. Hier wird eben nicht wie in Warschau, Budapest oder Moskau, der private Journalismus eingeschränkt. Hier darf jeder so regierungskritisch sein, wie er möchte. Gut so!

Wenn es mir zu einseitig wird, kann ich aufhören, den SPIEGEL zu bezahlen. Niemand zwingt mich, die unablässigen Anti-Scholz-Tiraden zu lesen.

[…] Zaudern, bremsen, patzen

Waffenstreit, Schwesig-Skandal, Ärger um Gabriel – und der jüngste Auftritt von Kanzler Scholz hat nicht überzeugt: Die SPD steht massiv unter Druck. [….]

(Kevin Hagen, 20.04.2022)

[….] Der deutsche Lumpen-Pazifismus

Ein substanzieller Teil der Friedensbewegung ist in seiner Selbstgerechtigkeit das Beste, was Putin passieren kann. Leider hat er in der Politik und besonders in der SPD mächtige Partner.   [….]

(Sascha Lobo, 20.04.2022)

[….]  Wagt die Union das Projekt Kanzler-Sturz?

Zu zögerlich, zu zaudernd – das sind die Vorwürfe an Kanzler Scholz in der Ukrainekrise, auch aus der eigenen Koalition. Oppositionschef Merz könnte den Kanzler nun mit einer Initiative im Bundestag schwer in die Bredouille bringen. [….]

(Sophie Garbe und Florian Gathmann, 20.04.2022)

Ich versuche, es sportlich zu nehmen und amüsiere mich über die Annahme, Serienlügner Merz würde zusammen mit Dobrindt, Scheuer und Spahn eine bessere Regierungsmannschaft stellen.

Die gestrige Rede des Bundeskanzlers war anders, als in der Darstellung vieler Zeitungen, klar und nachvollziehbar.  In dieser Rede schwurbelt Scholz rein gar nicht.

Es leuchtet mir ein, daß es keinen Sinn macht, jetzt sofort Leopard-Panzer zu schicken, wenn die Ukrainer damit nicht sofort umgehen können und die entsprechenden Ersatzteile nicht da sind. Zumal laut Militärexperten gar nichts zur Verfügung steht. Nach 16 Jahren CDU-Verteidigungsminister, sind die Lager leer und unbrauchbar.

[…] Laut Vize-Generalinspekteur: Laubenthal Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine würde Bundeswehr beeinträchtigen

Der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr weist die Behauptung zurück, Deutschland könne sofort schwere Waffen an die Ukraine liefern. Das deutsche Militär brauche sie aktuell selbst.   […]

(Spon, 20.04.2022)

Daher ist es sehr sinnig, so wie von Scholz vorgeschlagen, wenn osteuropäische Länder, die noch Waffen haben, die die Ukrainische Armee kennt und sofort einsetzen kann, rüberschicken und Deutschland die Lieferung und Finanzierung modernerer Waffensystem an Polen, Estland und Co übernimmt. Ich bin froh, daß Scholz nicht dampfplaudernd, wie Merz oder Hofreiter willkürlich, Forderungen der BILD aufgreift, sondern genau die Konsequenzen abwägt und in enger Rücksprache mit den anderen G7-, EU- und NATO-Ländern handelt.

Die politisch-strategische Weltlage 2022 ist nicht so simpel, wie beim „Risiko-Brettspiel“, sondern erfordert extrem komplexe Überlegungen.

Russisches Gas oder Öl zu boykottieren, ist angesichts des Krieges in der Ukraine nicht abwegig. Aber es ist ganz sicher auch nicht so simpel, daß es Deutschland einfach ein paar Milliarden kostet. Elisabeth Dostert, Silvia Liebrich, Lisa Nguyen und Hannah Wilhelm erklären die dramatischen Konsequenzen an wenigen Beispielen. Und wieder bin ich sehr froh, einen Bundeskanzler zu haben, der die Konsequenzen genau abwägt und nicht einfach mit halb ausgegorenen Handlungen losprescht, auch wenn das seinen demoskopischen Werten viel helfen würde.

Richtig ärgerlich werde ich aber bei Boulevardpresse-Journalisten, die so tun, als ob sie alles schon immer ganz genau durchschaut hätten und nun in Bausch und Bogen, die Regierung als „naiv“ brandmarken.

Christian Burmeisters Leitartikel in der heutigen Morgenpost (auch ein eher liberales Blatt) ist so ein Negativbeispiel.

[….]  DIESE NAIVITÄT IST ATEMBERAUBEND Im Osten der Ukraine hat Russland eine Großoffensive begonnen. Wochenlang hatte Kiew besonders für diesen Fall um schwere Waffen gebeten. In der Bundesregierung und speziell in der SPD stieß dies allerdings auf taube Ohren. [….]  

(Christian Burmeister, Mopo, 20.04.2022)

Das ist eine glatte Lüge.

Deutschland hat bisher geliefert:
56 PbV-501 IFVs, 1,000 anti-tank weapons and 500 Stinger anti-aircraft defense system, plus permission for select other countries to send weapons controlled by Germany. (Quelle)

[…] Nach einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft liegt Deutschland bei den Regierungshilfen für die Ukraine an vierter Stelle nach den USA, Polen und Großbritannien.  [….]

(WAZ, 20.04.2022)

Wesentlich ärgerlicher ist aber, daß diejenigen, die mit Verve auf die „Putin-Versteher“ eindreschen, als ob es nicht dringend nötig wäre, Putin zu verstehen, nun auf die Scholz-Regierung einprügeln, weil sie auf einmal meinen, Putin genau zu verstehen. Burmeister ist offenbar Putinversteher.

[….]  die Natur von Putins (Vernichtungs-)Krieg: Verhandeln wird er nur, wenn er militärisch nicht mehr weiterkommt. Und: Wird Putin nicht in der Ukraine gestoppt, wird er sich auch NATOLändern „zuwenden“. Der Sturz der bisherigen Sicherheitsordnung ist sein erklärtes Ziel! Das Zögern der Bundesregierung, die Ukraine jetzt mit wirklich allen Mitteln zu unterstützen, könnte sich bald rächen. Es drohen – im besten Fall – lange Jahre der politischen Instabilität mit verheerenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft auch in Deutschland. [….]

(Christian Burmeister, Mopo, 20.04.2022)

Putin wird also plötzlich ganz mild gestimmt sein, wenn er mit schweren (deutschen?) Waffen zurückgeschlagen wird? Dann wird Putin also einlenken, sich denken „Huch, da habe ich mich wohl verkalkuliert und werde ab jetzt nur noch höflich und friedlich und ehrlich sein!“

Woher weiß Burmeister das?
Wieso versteht er Putin offenbar besser als alle anderen?

Woher weiß Burmeister so genau, daß nicht das genaue Gegenteil eintritt, daß nämlich ein zurückgedrängter Putin, noch dazu mit deutschen Waffen, also aus dem Land, das im zweiten Weltkrieg 25 Millionen Sowjetbürger ermordete, dann nicht endgültig rot sieht und Chemiewaffen einsetzt? Oder Atombomben abschießt?

Im Gegensatz zu Burmeister, weiß ich nicht ganz sicher, was Putin dann tut. Daher möchte ich auch nicht in Olaf Scholz‘ Haut stecken, bin aber froh, einen besonnenen Kanzler zu haben.

NACHTRAG: Die Tagesschau berichtet "Melnyk kritisiert Scholz" und verlangt schwere Anriffswaffen aus Deutschland. Das kommt nicht gut an beim Wahlvolk - auch wenn SPIEGEL und MOPO das nicht wahrhaben wollen.