Wenn ein
weltweit derartig bedeutender Mann wie Helmut Schmidt im Alter von fast 97
Jahren stirbt, ist keine Zeitungsreaktion unvorbereitet.
Die Nachrufe
liegen in den Schubladen und erwartungsgemäß ergießt sich nun eine Flut von Laudationes
über Deutschland.
Und
womit? Mit Recht.
Da dies
überall geschieht, erspare ich mir Schmidts Leitungen zu wiederholen und ihn
persönlich zu lobpreisen.
In Deutschland
betrachte ich drei Menschen als Vorbilder; Egon Bahr, Marion Gräfin Dönhoff und
Helmut Schmidt. Ich verwende Präsens, weil alle Publizisten waren und ihre
Texte weiter existieren.
Helmut
Schmidt lese ich seit 30 Jahren; ich habe eben gezählt; in meiner Bücherwand
stehen inzwischen 34 Bücher von ihm.
Da
Schmidt in den letzten beiden Dekaden zur Ikone wurde, die auch im 100.
Interview damit bestach doch immer wieder etwas Neues und unfassbar Richtiges
zu sagen, ist so viel über ihn bekannt, daß es die Moderatoren und Redakteure
heute an seinem Todestag schwer haben nicht abgedroschene Formulierungen zu
finden.
Nach
erster Sicht der Texte möchte ich einige wenige Punkte ergänzen.
Schmidt
war auch gegenüber Deutschlands engsten Freunden stets ehrlich und sachlich.
Pragmatischer als man es in Israel oder Amerika hören mochte.
Noch
heute wird ihm das übel genommen, wie man aus dem Nachruf der NEW YORK TIMES
entnehmen kann:
Moreover, his intemperate criticism of Washington promoted neutralist, anti-American tendencies in his Social Democratic Party, which only helped undermine his chancellorship. [….] “I have always regarded myself as a reliable friend of the United States, but never have I misunderstood an alliance to be a system of control and command,” he said in a 1984 interview with The New York Times. “It’s rather a system of advice and consent, if I may borrow a phrase from your Constitution.”
Jimmy
Carter ist noch heute stinksauer auf Helmut Schmidt, weil er sich von ihm nicht
angemessen bewundert fühlte.
Während
Schmidt also in Deutschland als absoluter Atlantiker wahrgenommen wird,
beschwert man sich in Amerika noch heute über seine mangelnde politische
Folgsamkeit.
Ein
Problem, das Washington mit Kohl und Merkel nie hatte, das aber bekanntlich unter
Schröder 2002/2003 wieder virulent wurde.
Schmidt
war der Gegenentwurf zu den sehr national denkenden Außenpolitikern der USA; er
war tatsächlich ein Weltbürger.
Jahrzehnte
saß Schmidt dem von ihm und dem ehemaligen japanischen Premierminister Takeo
Fukuda erdachten Interaction Council vor, dem nur ehemalige Staats- und Regierungschefs
angehören und mit ihrer Erfahrung zur Lösung der Weltprobleme beitragen sollen.
The InterAction Council was established in 1983 as an independent
international organization to mobilize the experience, energy and international
contacts of a group of statesmen who have held the highest office in their own
countries. Council members jointly develop recommendations and practical
solutions for the political, economic and social problems confronting humanity.
The Council is unique in bringing together on a regular basis, and in an
informal setting, more than thirty former heads of state or government. Serving
in their individual capacities, the Council aims at fostering international
co-operation and action in three priority areas:
Peace and security
World economic revitalization
Universal ethical standards
The Council selects specific issues and develops proposals for action
from these areas and communicates these proposals directly to government
leaders, other national decision-makers, heads of international organizations
and influential individuals around the world.
Eine
bedeutende Tat des IAC ist die 1997 vorgeschlagene „Allgemeine Erklärung der
Menschenpflichten“ als Ergänzung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
vor.
Es ist
natürlich undenkbar, daß anti-intellektuelle Menschen wie Kohl oder Merkel in
dieser Runde eine Rolle spielen könnten, oder gar zum Vorsitzenden aufsteigen
könnten. Mal ganz abgesehen von sonstigen Regierungsblitzbirnen wie Berlusconi,
Sarkozy oder gar George W. Bush.
Der
deutsche Michel weiß über Helmut Schmidt, daß er frei von Pathos und völlig
unprätentiös lebte. Während Typen wie Kohl oder Westerwelle auf ihre
Privilegien und Titel pochen, ist Schmidt derartige Selbsterhöhung völlig
fremd. Er lebte immer nur in seinem kleinen Langhorner Reihenhaus und ließ sich
mit „Herr Schmidt“ anreden.
Während
der RAF-Zeit setzten Loki und Helmut Schmidt Briefe auf, die für den Fall ihrer
Entführung die klare Anweisung gaben nicht mit Entführern zu verhandeln. Sie
waren bereit zu sterben.
Wir
wissen alle, er war ein Macher, ein Erklärer, ein historisch versierter
Mensch, der als „Weltökonom“ einer der wenigen Menschen war, der die globalen
Finanz- und Wirtschaftsströme verstand.
Nicht
ganz so ins Bewußtsein gedrungen ist, daß Schmidt auch ein richtiger
Intellektueller war; ich würde sogar so weit gehen ihn als „Universalgelehrten“
zu bezeichnen; wohlwissend, daß der Begriff nach Leibniz eigentlich abgeschafft
wurde. Er gründete nach seinem Ausscheiden aus dem Amt die geniale Freitagsgesellschaft und war
bis zum Schluß auf alles neugierig; stellte den Menschen, die er traf
kontinuierlich Fragen, sog Wissen jeder Art wie ein Schwamm auf.
Er war
ein hochgebildeter Philosoph, in geradezu unheimlicher Weise belesen und dazu
Kenner von Musik und Kunst, selbst ein guter Pianist.
Kaum
einem bleibt es vergönnt über 96 Jahre bei klarem Verstand zu sein. Wenn man
dazu noch hochintelligent ist und nichts vergisst, bildet sich ein
Wissensschatz, den wir heute für immer verloren haben.
Das ist
die Tragik.
Heute ärgere ich mich aber auch.
Ich
ärgere mich über all die vielen „R.I.P.“-Postings in den sozialen Netzwerken,
all das Ruhe in Frieden“ und „nun ist er mit seiner Loki wiedervereint“-Geplapper.
Helmut
Schmidt war nicht religiös, glaubte ausdrücklich nicht an ein Leben nach dem Tod
oder sonstige transzendentalen Schnickschnack.
Dazu war
er viel zu intelligent und vertrat diese Auffassung vehement. Zuletzt vor genau
einem Jahr, als sein atheistischer Freund Siegfried Lenz starb und Pfaffen bei
dem Trauerakt auftrumpfen wollten.
Die
Frechheit [Hauptpastor] Röders sogar trotz des Widerwillens der Witwe Psalmen
zu verwenden, nach denen Gott für das Lenzsche Talent verantwortlich war, muß
man erst einmal haben.
Wer
Lenz‘ Bücher auch nur ein bißchen kennt, dem biegen sich bei der Predigt die
Fußnägel hoch.
Scheinbar
ist es so bei dieser Art Großbeerdigungen, daß es aber auch immer einen gibt, der die richtigen Worte
findet.
Vorgestern
war es wieder Helmut Schmidt, der seinen toten Freund tapfer gegen den Pfaff
verteidigte.
Es war aber ebenfalls
Helmut Schmidt, der sich einer wohlüberlegten Spitze gegen das christliche
Zeremoniell in Hamburgs schöner Hauptkirche nicht enthalten konnte.
Michel-Pastor Alexander Röder hatte einleitend von "wir Christen"
gesprochen und eine nicht ganz passende Bibelstelle zum Zentrum seiner Rede
gemacht: ein Gleichnis über fünf Zentner Silber, deren selbstlose Vermehrung
durch uns "Knechte" mit der freudigen Einkehr beim Herrn belohnt
werde.
Dieser Eingemeindung
von Lenz ins Christliche musste Schmidt im Geiste der Aufrichtigkeit, die er
als Kern ihrer Freundschaft beschrieb, widersprechen: Er und "Siggi",
wie er Lenz konsequent nannte, seien sich immer darüber im Klaren gewesen, dass
sie "keinen metaphysischen Trost erhoffen dürfen, der uns über die
Vergänglichkeit hinweghelfen könne".
Keine andere Rede
reichte an diese Mischung aus tiefer Betroffenheit und Reserve gegen falsche
Trostworte heran.
[…]
Sehr
erfreulich, wenn ein Mann in einer Kirche das Wort ergreift und den Pastor
verbal auskontert.
Ich
ärgere mich ebenfalls über die unzähligen diminuierenden Charakterisierungen
Schmidts als „Raucher.“ Das Überhöhen dieser nun wirklich unwichtigen
Eigenschaft Schmidts. Es gäbe 1000 wichtigere Aspekte zu nennen.
Das ist
eine Primitivierung im Sinne der Assoziationswitze aus der untersten Schublade,
die Pointen nach dem Muster, Calmund-dick, Inge Meysel-alt, Papst-katholisch,
funktionieren.
Ich
ärgere mich am meisten über selbstherrliche Jugendliche, Studenten und
Jung-Redakteure, die sich auf Erika-Steinbach-Niveau begeben und sich
aufgrund eines einzigen aus dem Zusammenhang gerissenen Satzes vor 35 Jahren
anmaßen Schmidt verurteilen zu können.
Das sind
Menschen, die offensichtlich viel zu ungebildet sind, um auch nur ein oder zwei
Bücher Helmut Schmidts gelesen zu haben, die selbst noch nie irgendwo Verantwortung
trugen, nie ein politisches Amt innehatten und aufgrund ihrer extrem eingeschränkten
Weltsicht meinen sich Urteile erlauben zu können.
Nur wer
nichts weiß, denkt er weiß genug, um zu beurteilen.
Helmut
Schmidt tat das bis zum Schluß nie. Dinge, die er nicht beurteilen konnte,
kommentierte er nicht, sagte sehr oft „Das weiß ich nicht!“.
Die
Küken, die heute in unerträglicher Altklugheit auf Schmidt-kritisch machen
unterliegen dem fatalem Irrtum Schmidt wäre ein Gott, den sie als einzige
enttarnt hätten, weil er einmal etwas gesagt hat, das unter heutigem Licht
merkwürdig wirkt.
Was für
eine Albernheit.
Helmut
Schmidt publizierte 70 Jahre lang, produzierte Millionen O-Töne, fällte
Myriaden Entscheidungen. Entscheidungen, die oft nur eine Wahl zwischen „sehr
schlecht“ und „besonders schlecht“ sein konnten, wie man es von der Schleyer-Entführung
kennt.
Sich auf
einen einzigen unglücklichen Satz zu kaprizieren, bedeutet im Umkehrschluss man
erwarte von einem Menschen, der derartig viel geschrieben und geredet hat, sich
niemals geirrt zu haben.
Was für
eine Absurdität. Selbstverständlich hat Schmidt auch Fehler gemacht, manchmal
Dinge falsch eingeschätzt (so wie beispielsweise den Erfolg der Grünen) und
unter dem ungeheuerlichen Druck und Stress, unter dem er stand auch mal über
das Ziel hinausgeschossen.
Da
Schmidt aber klug war, hat er sich selbst auch nie als unfehlbar eingeschätzt
und irgendwann doch anerkennend mit Joschka Fischer gesprochen.
Überhaupt
auf die Idee zu kommen, daß ein großer Politiker über 96 Jahre hinweg
vollkommen unfehlbar sein soll und nicht ein einziges mal missverständlich
formuliert hat, ist bemerkenswert dämlich. Insbesondere wenn es von
Mitzwanzigern kommt, die nie auch nur annähernd solche Probleme wie Schmidt zu
lösen hatten und immer wieder selbst mit unsäglichen Fehlurteilen glänzen.
Nein,
niemand ist unfehlbar und niemand macht immer alles richtig.
Aber
Helmut Schmidt kam dem schon verdammt nahe.