Nein, ich habe immer noch
keine Entscheidung über meine Stimmabgabe beim GroKo-Mitgliederentscheid
getroffen. Inhaltlich lehne ich das „Werk“ weiterhin ab, befürchte aber, ein „Nein“
der Basis könnte der SPD so schaden, daß einzig die CDU/CSU davon profitiert,
indem sie in Zukunft locker absolute Mehrheiten holt.
Ein weiteres kleines
Schrittchen in Richtung „Ja“ bedingt meine Persönlichkeitsstruktur, die
prinzipiell immer gegen den Strom schwimmt.
Ich habe mein ganzes Leben
lang extrem skeptisch und misstrauisch reagiert, wenn alle einer Meinung sind.
In den Kreisen, in denen ich (virtuell) verkehre, ist die Stimmung so extrem
gegen eine GroKo aufgehetzt, daß ich schon aus Prinzip anfange das Ding zu
verteidigen.
Anyway. Ich habe ja noch
ein paar Tage Zeit.
Interessant finde ich wie
nervös die Parteioberen offensichtlich werden – obwohl sie natürlich dastehen
wie ein Mann: Alle Landesverbände bejubeln den Vertrag und legen ihren Mitglieder
dringend ein „Ja“ ans Herz. Offenbar glauben sie also nicht, daß das ein
Selbstgänger wird. Die SPD-Mitglieder sind schon lange keine Arbeiter mehr, sondern ältere Männer mit Uniabschluß, die
werden ihren eigenen Kopf benutzen.
Gabriel verlor gar in
einem harmlosen ZDF-Interview mit Marietta Slomka so sehr
die Fassung, daß ihm heute Crazy Horst beisprang und in alter
CSU-Tradition beim ZDF intervenierte. Medienfreiheit wird im Königreich
Seehofers immer weniger geduldet.
Inhaltlich war übrigens
Frau Slomka ein bißchen auf dem Holzweg und eher Gabriel im Recht – aber was zählt das
schon heutzutage?
Grundsätzlich ist aber der
Mitgliederentscheid demokratietheoretisch in Ordnung. Es war immer klar, daß
die SPD es so handhaben würde und die Wähler haben so gewählt, daß diese Option
zum Tragen kam. Wer jetzt sauer ist, daß er nicht mitabstimmen kann, hat selbst
Schuld. Er hätte ja rechtzeitig in die SPD eintreten können.
Die Zeit arbeitet
allerdings gegen die Parteiführung. Zunächst einmal hatte niemand die 185
Seiten des Vertrages gelesen und die Berichterstattung stützte sich auf die
Jubelbeschreibungen der Autoren.
„Stimmt zu, Genossen!“ schrieb der von mir eigentlich hochgeschätzte und oft
zitierte Thorsten Denkler.
Inzwischen fangen aber
immer mehr Menschen an das Konvolut zu lesen. Das ist sehr suboptimal für eine
Mitgliederpartei wie die SPD. Die CSU hat es da einfacher. Sie verzichtet auf
das ganze demokratische Chichi. Noch nicht mal Seehofer hat alle 185 Seiten
gelesen und dennoch hat die Partei schon offiziell den K.O.alitionsvertrag abgesegnet.
Das ist der klassische strategische Vorteil der Konservativen: Sie sind
handlungsfähiger, weil sie das lästige eigene Denken vermeiden und stets
obrigkeitshörig das abnicken, was die Führung möchte.
Bei den Sozis werden
allerdings die Lupen rausgekramt und im Kleingedruckten wimmelt es nur von
Kröten. Die hopsen überall umher und quaken von Stunde zu Stunde lauter.
Keine Finanzierungspläne,
lange Übergangsfristen, keine Transparenz, keine Reform der Unternehmens- oder
Mehrwertsteuer, Rentenerhöhung einseitig zu Lasten der gesetzlich Angestellten,
keine Reformen im Gesundheitssystem, keine Bafög-Reform, 400.000 Privatversicherte,
die de facto keine Versicherung mehr haben, weil sie sich die rasant steigenden
Beiträge nicht mehr leisten können werden einfach im Stich gelassen und bei den
Minderheiten sieht es noch dürftiger aus: Flüchtlinge und Asylanten werden im
Stich gelassen, es gibt keine rechtliche Gleichstellung von Schwulen und obwohl
Gabriel und Co werbewirksam aufsagen „die doppelte Staatsbürgerschaft kommt!“,
kommt diese eben NICHT.
Wer älter als 23 ist - ich bin selbst ganz knapp drüber – muß Ausländer
bleiben und ist in Deutschland nicht willkommen.
Und übrigens, liebe CDU
und liebe Journalisten: Nicht alle Ausländer in Deutschland, die gern Deutsche
werden wollen, sind Türken.
Ach Schweden, Kanadier,
Schweizer, Japaner, Australier und US-Amerikaner wie ich werden vor den Kopf
gestoßen.
Allerdings nicht so sehr
wie Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten. Die waren es offenbar keiner
Partei bei den Koalitionsverhandlungen wert sich für sie einzusetzen.
Triumph der Hardliner.
[…]
Tatsächlich festigt der Koalitionsvertrag
den Status quo in der Asylpolitik. […] Lampedusa,
war da etwas?
Von dem angekündigten Wandel jedenfalls
ist im Koalitionsvertrag so gut wie nichts übrig geblieben. Die Beschlüsse der
Arbeitsgruppe Integration und Migration, die die Koalitionäre als
"bedeutende Fortschritte" für Flüchtlinge verkaufen, sind in Wahrheit
eine als Reform getarnte Zementierung des Status quo.
Beispiel Arbeitsverbot: Flüchtlinge sollen nach dem Willen von Union und
SPD künftig nach drei statt wie bisher neun Monaten arbeiten dürfen. Die
sogenannte Vorrangprüfung durch das Arbeitsamt, das kontrolliert, ob eine freie
Stelle adäquat durch EU-Bürger besetzt werden kann, bleibt jedoch bestehen.
Gerade in strukturschwachen Regionen führt dies zu einem faktischen
Arbeitsverbot. Die Gesetzesänderung bleibt wirkungslos.
Beispiel Residenzpflicht: Die Regel, wonach Asylbewerber die Region, in
der sie untergebracht sind, nicht verlassen dürfen, ist eine in Europa
einzigartige Schikane. Schwarz-Rot will sie nun lockern. Flüchtlinge sollen
sich künftig zumindest innerhalb eines Bundeslandes frei bewegen dürfen. Das
klingt nach neuer Freiheit, ist jedoch in allen Bundesländern mit Ausnahme
Bayerns und Sachsens längst Alltag. Vernünftig wäre gewesen, die Bestimmung
ganz aufzuheben.
Beispiel Asylentscheid: Bislang warten Flüchtlinge durchschnittlich neun
Monate auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag, manchmal bis zu eineinhalb
Jahren. Das Procedere soll nun auf drei Monate verkürzt werden. Dies ist ein
richtiges Ansinnen, auf das sich die EU allerdings bereits vor etwa einem
halben Jahr in ähnlicher Form verständigt hat.
[…]
Schwarz-Rot [will] Serbien und Mazedonien als "sichere
Drittländer" einstufen. Menschen, die von dort nach Deutschland fliehen,
hätten künftig keine Chance mehr auf Schutz. Dabei hat Maria Böhmer, die
Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die für die Union die
Verhandlungen mit der SPD bei dem Thema führte, vor kurzem selbst noch
"erhebliche Diskriminierungen" von Roma auf dem Balkan beklagt. […] Auch Schwarz-Rot hält an der deutschen
Abschottungspolitik fest.