Dienstag, 24. Juli 2018

Der Weg zum Tod.


Man sollte tunlichst gesund und plötzlich sterben.
Voraussetzung ist, daß man vorher so schlau wie ich war und bereits ein paarmal beim Notar war, um alle Angelegenheiten zu regeln – Testament, Vermächtnisse, Beerdigungsvertrag, persönliche Vollmachten, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung – jeweils hinterlegt im Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer.

Sterben müssen wir alle und sollte einem in der Blüte des Lebens der sprichwörtliche Ziegel auf den Kopf fallen, so daß man tot umfällt, ist das ein optimaler Exit. Insbesondere wenn man in der letzten Sekunde noch das beruhigende Gefühl hat denjenigen, die einen wegräumen müssen, maximal mögliche Rechtssicherheit hinterlassen zu haben.

Tatsächlich, als ich dieses Jahr operiert wurde und unmittelbar vorher diesen so gern in TV-Serien verwendeten verschwommenen Blick auf die OP-Lichter hatte, man mir die Atemmaske auf die Nase drücke und das Licht ausging, war das mein letzter Gedanke: Wenn ich nicht mehr aufwache, ist wenigstens alles geregelt. Insofern spricht nichts dagegen jetzt den Löffel abzugeben.

 Bekanntlich kam es dann aber anders. Bei den meisten kommt es anders.
In einem urbanen Lebensraum, in dem deutlich über 50% der Wohnungen Singlehaushalte sind, in dem Menschen immer älter und individualisierter leben  - und das ist ein Zeichen von Freiheit und Wohlstand – wird die Sterberei allerdings zunehmend schwierig.
Zumal die sich ständig verbessernde medizinische Versorgung dazu führt, daß man ohnehin nur schwer stirbt. Lungen- und Herzleiden, die einen vor 100 Jahren umgehend ins Grab befördert hätten, werden inzwischen zwar nicht unbedingt vollständig kuriert, aber es findet sich ein therapeutischer modus vivendi, um richtig lange was davon zu haben.
Statt also recht gesunden Fußes ins Grab hinabzusteigen, rettet man sich immer wieder hinüber zu den Atmenden. Man wird immer malader, hat aber noch Puls.
Positiv ausgedrückt:
Älter werden ist Mist, aber die einzige Möglichkeit, um länger zu leben.

Wenn man richtig alt wird, den terminus technicus „hochbetagt“ für sich erobert (>91 Jahre), gibt es zwei angenehme Varianten:

-      Man gehört zu den sehr wenigen Menschen, die auch in dem Alter noch geistig nicht abbauen und außerdem auch noch beweglich und schmerzfrei leben.
-      Man gehört zu den sehr wenigen Menschen, die über reichliche finanzielle Mittel verfügen, so daß Pflegeeinrichtungen der Luxusklasse oder extrem teure Individuallösungen zu Hause möglich sind.

Alle anderen haben leider Pech.
Möglicherweise ist die eigene Wohnung nicht barrierefrei, so daß man schnell zum Gefangen wird.
Arztbesuche und die sonstigen therapeutischen Notwendigkeiten werden zu logistischen Großproblemen. Es gibt kaum noch Ärzte, die Hausbesuche machen, Physiotherapeuten schon gar nicht. Jedenfalls nicht für den Kassenplebs, der nicht mit seiner Privatversicherungskarte wedeln kann.

[…..] Minister Spahn weitet Raum für Profitinteressen in der Gesundheitsversorgung aus
„Vor allem der Versichertenstatus ist entscheidend dafür, welche Behandlung Patientinnen und Patienten  in Arztpraxen erhalten und wie lange sie auf einen Termin warten müssen. Das ist eine Folge der unterschiedlichen Vergütung für die Behandlung von privat und gesetzlich Versicherten. Eine Ausweitung der offenen Sprechstunden – wie in Gesundheitsminister Spahns Versorgungsgesetz vorgesehen – wird an der Schlechterstellung von 90 Prozent der Versicherten deshalb nur scheinbar etwas ändern. Die strukturelle Fehlausrichtung der Gesundheitsversorgung an finanziellen Anreizen wird dadurch nicht beseitigt“, erklärt Achim Kessler, Sprecher für Gesundheitsökonomie und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Ausschuss für Gesundheit. […..] Die Profitlogik in der medizinischen Versorgung muss grundsätzlich durch die Orientierung am Wohl der Patientinnen und Patienten ersetzt werden. Stattdessen weitet Minister Spahn die Räume für Profitinteressen sogar noch aus. Insbesondere die von den Kassenärzten geforderte Entbudgetierung bei der Behandlung von neuen Patienten würde zu Verhältnissen führen, wie wir sie aus dem Fallpauschalensystem der Krankenhäuser kennen. […..]

Schon Busfahren kann aufgrund der wohl oder übel eintretenden Gangunsicherheit unmöglich werden, weil man beim Anfahren und Bremsen sonst lang hinschlagen würde.
Bleibt also Taxi. Teuer.
Kaum ein Hochbetagter, der nicht ein Dutzend Tabletten am Tag nehmen muss. Natürlich, denn ohne die Dinger wäre er ja nicht so alt. Irgendwann werden aber die Beschriftungen auf den Packungen zu klein, die komplizierten Namen zu verwirrend und die Dosierung zu umständlich, weil man mikroskopisch kleine weiße Pillen, die auch noch alle gleich aussehen womöglich noch teilen muß.
Im günstigsten Fall bemerkt das ein aufmerksamer Arzt, verschreibt eine „Med Gabe“ und es findet sich ein Pflegedienst, der bereit ist drei Mal am Tag für je drei Minuten rauf in den Dritten Stock zu laufen.
Mit noch mehr Glück wird das über die Krankenkasse abgerechnet und man zahlt nur eine Gebühr  von ca 50 Euro im Monat, nachdem man schon für hunderte Euro zusätzliche Schlüssel anfertigen lassen hat und auch für 500 Euro im Jahr einen Hausnotruf installieren lassen hat.
Sträubt sich die Kasse, weil sich nicht zweifelsfrei klären lässt, ob diese Medgabe wirklich notwendig ist, oder ob das nicht auch mit einer Wochenbox zu bewerkstelligen ist, wird man allein für diese Dienstleistung auch noch mal 700 Euro monatlich los.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird man aber auch noch Hilfe beim Duschen, beim Kochen benötigen, kann vielleicht schon länger nicht mehr selbst einkaufen gehen.
Nun springt der medizinische Pflegedienst ein und bietet „Pflege auf Zeit an“.
Täglich vormittags 15 Minuten, um einen Tee zu kochen und ein Frühstück zu bereiten, sowie einmal wöchentlich 30 Minuten, um zu duschen, kosten leicht noch mal 500 bis 600 Euro im Monat.



 Nun ist statt der Krankenversicherung die Pflegeversicherung gefragt. Dafür muß aber der MDK (medizinischer Dienst der Krankenversicherungen) zu einer Begutachtung der häuslichen Situation dagewesen sein. Man kann diesen MDK natürlich nicht etwa einfach anrufen und um einen Besuch bitten. Nein, dazu muss man sich schriftlich an die Krankenkasse wenden, über die auch die Pflegeversicherung läuft und sich ein Antragsformular schicken lassen.
Ein Formular, welches unser Beispiel-91-Jähriger sicher nicht allein ausfüllen kann. Vielleicht hat er aber einen sehr fürsorglichen Pflegedienst von der Medgabe, der ihm dabei hilft und den Antrag auch einreicht. Bis zu dem eigentlichen Begutachtungstermin vergeht ein weiterer Monat.
Welche Pflegestufe schließlich zugeteilt wird, ist ein Rätsel. Man erfährt es auch nicht etwa gleich, sondern die MDK-Prüfer verschwinden mit Pokergesicht und schicken Wochen später eine Nachricht.
Während all der Zeit sitzt man finanziell allein auf allen Kosten.
Möglicherweise ist auch das nicht so leicht, denn die täglichen Dinge des Lebens – putzen, einkaufen, kochen, Blumen gießen, Wäsche waschen – sind bisher noch nicht abgedeckt.
Auch dafür muss man jemand bezahlen. Wenn man Glück hat, geht das schwarz, indem man den Nachbarsjungen beauftragt und ihm fürs Einkaufen einen Zehner in die Hand drückt.

Wer sich gesetzestreu verhalten will, wendet sich an einen professionellen Hilfsdienst wie „Hamburg Care“. Eine vorbildliche Firma, die ich nur empfehlen kann. Dort kauft man gewissermaßen Zeit und bekommt eine geduldige Fachkraft in die Wohnung geschickt, die nicht ständig auf die Uhr sieht, weil sie in 20 Minuten beim nächsten Patienten sein muss, sondern sich zwei oder vier Stunden nur für eine Person reserviert hat, ohne daß ein bestimmtes Pensum erledigt werden muß.
Mit diesen Damen und Herren kann man klönen, sich etwas vorlesen lassen, sich im Haushalt helfen lassen oder auch spazieren gehen.
Kostet pro Stunde 32 Euro zuzüglich Wegpauschale, Investitionskosten, Ausbildungsumlage und Mehrwertsteuer.
Hinzu kommen Verbrauchmaterialien wie Desinfektionsmittel. Besonders teuer sind die vielfach notwendigen Hilfen bei Inkontinenz. Es gibt aber auch viele einmalige Anschaffungen, wie Haltegriffe, Dusch-Sitze, Rollatoren, Rollstühle, Gehhilfen, Greifhilfen, physiotherapeutische Hilfsmittel.

Irgendwann meldet sich der MDK und teilt – hoffentlich – einen Pflegegrad mit.

Nun rollt endlich der Rubel.
Bei Pflegegrad 1 gibt es eine monatliche Kostenerstattung von bis zu 125 Euro pro Monat für Betreuungs- und Entlastungsleistungen.

Die weiteren Abstufungen:
2: Pflegegeld bei häuslicher Pflege von 316 Euro pro Monat
3: Pflegegeld bei häuslicher Pflege: 545 Euro pro Monat
4: Pflegegeld bei häuslicher Pflege: 728 Euro pro Monat

Und dann gibt es noch den sehr seltenen Fall von Grad 5 („Schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. In diesem Fall sieht der Gutachter besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung vorliegen. Bisher entsprach dies der Pflegestufe 3 mit eingeschränkter Alltagskompetenz bzw. sogenannten Härtefällen.“)

Pflegegeld bei häuslicher Pflege: 901 Euro pro Monat

Ein Hochbetagter mit Pflegegrad 5 bekommt allerdings auch ganz andere Rechnungen vom medizinischen Pflegedienst, als das von mir genannte Beispiel von 15 Minuten täglich „Zeitpflege“ plus Medgabe. Der Stundenlohn beträgt knapp 50 Euro.

Sagen wir, man bräuchte pro Tag zwei Stunden Pflege nach Zeit, sind das schon deutlich über 3000 Euro im Monat.
Und zwar ohne all die anderen Notwendigkeiten wie Einkaufen, Waschen, Putzen.

Offensichtlich passt hier etwas nicht zusammen.
Und wir sprechen immer noch von dem optimalen Fall, in dem der Senior wunschgemäß in seiner eigenen Wohnung bleibt.

Millionen landen in Pflegeheimen und dann wird es übel, wie zum Beispiel Lina Sparla, die „zierliche 24-Jährige mit dünnem, hellbraunem Haar und Sommersprossen auf dem Nasenrücken“ Pflegeschülerin aus Münster berichtet.

Unser Gesundheitsminister hört offensichtlich auch diese Kunde.
Allerdings ändert ein echter Konservativer wie Spahn nicht extra seine festgefügte Meinung, nur weil sie nicht zu den schnöden Fakten passt.

[….] Wie dramatisch die Situation ist, wurde Lina Anfang des Jahres klar. Damals war sie im Einsatz auf einer chirurgischen Station mit 33 Betten, hinzu kamen die, die als vierte Betten in die Dreibettzimmer verlegt wurden, weil Platz fehlte. […..] In ihrer Zeit auf der chirurgischen Station musste Lina Entscheidungen treffen, die sie schrecklich fand: „Es ist furchtbar, wenn man den Patienten sagen muss, dass man leider keine Zeit hat, sie zu waschen.“ Die Infusionen konnten nicht zu den vorgegebenen Zeiten angehängt werden, es gab nicht genug Zeit, das Essen anzureichen: „Man macht dann schnell, schnell, dass jeder ein bisschen was gegessen hat.“ Patienten, die eigentlich auch im Rollstuhl hätten sitzen können, wurden im Bett gelassen, weil keine Zeit da war, sie zu mobilisieren. Die Mobilisation ist aber ein wichtiger Bestandteil der Pflege: Ein Patient, der liegt, bekommt schneller eine Lungenentzündung, die Muskeln bauen sich ab und die Angst aufzustehen wächst. […..]
 Und schließlich meldet sich sogar das Bundesgesundheitsministerium.
Fast die ganze Klasse ist gekommen, ebenso die Lehrer. Sie wollen hören, was Jens Spahn zu sagen hat
 […..] Spahns erste Frage lautet: „In welchem Krankenhaus arbeitet ihr denn?“ Lina grätscht direkt rein: „Darum soll es heute gar nicht gehen.“ „Ja, aber das ist doch wichtig“, sagt Spahn, „vielleicht solltet ihr mal mit der Geschäftsleitung reden.“ Lina holt tief Luft: Natürlich haben sie mit der Geschäftsleitung gesprochen, mit der Pflegedienstleitung, mit dem Träger des Krankenhauses, mit den Praxisanleitern. […..]
Deswegen fordern Lina und ihre Mitschüler klare Regeln dafür, wie viele Praxisanleiter für die Auszubildenden da sind. „Man kann doch nicht alles regulieren“, sagt Spahn. „Ich zum Beispiel habe eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht. In der Bank wird auch nicht alles vom Staat kontrolliert.“ „Ein Bankkaufmann gefährdet mit einem Fehler ja auch keine Menschenleben“, flüstert eine Pflegeschülerin ihrer Nachbarin zu. […..] Lina, Karen, Barbara und Johannes geben alles. Argumentieren, erklären, geben Beispiele. […..] „Wir würden gerne wissen, was Sie aus diesem Gespräch mitnehmen“, fragt Karen nach einer Stunde mit Blick auf die Uhr. Ihnen wurde gesagt, dass der Minister 60 Minuten Zeit für sie hat. „Zunächst mal fühle ich mich bestärkt in dem, was wir tun“, sagt Spahn und erwähnt noch einmal, dass nun bald alle Stellen refinanziert werden. Lina und ihre Mitschüler schauen sich verwundert an. Das hat er aus dem Gespräch mitgenommen? Dass alles gut läuft? Er erzählt von der „Arbeitsgruppe Ausbildung“ im Ministerium. […..]
 Lina muss das jetzt erstmal sacken lassen. Hat Spahn nicht verstanden, dass man die Praxisanleitung gesetzlich regeln sollte, oder wollte er das nicht verstehen? Will er wirklich, dass Pflegeschüler für ihr Engagement ihr Examen aufs Spiel setzen? […..]

Spahn eben.


Sich allzu sehr in die Nöte anderer Menschen hineinzudenken, ist seine Sache nicht. OK, ein paar Pfleger mehr.
Er ordnet das an und dann fallen sie vom Himmel:
Motiviert, zuverlässig,  blond, deutsch und voll zufrieden mit 3 Euro pro Stunde.

[…..] "Der Gesundheitsminister hält die Menschen in der Pflege hin. Er versucht, Beschäftigte, Menschen mit Pflegebedarf und Angehörige ruhig zu stellen, statt endlich ein schlüssiges Konzept für den Bereich zu präsentieren“,  erklärt Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der Fraktion DIE LINKE,  zu den jüngsten Äußerungen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Zimmermann weiter:
„Spahns Pflegepolitik bleibt ein Flickenteppich, und die Betroffenen bleiben im Unklaren. Die Beitragssatzerhöhung zur Pflegeversicherung hat er nach oben korrigiert, ohne dass Menschen dafür einen erkennbaren Mehrwert bekommen. Er verspricht neue Pflegekräfte, dabei ist der Bundesregierung bekannt, dass schon jetzt zehntausende Stellen nicht besetzt werden können. So bleiben seine Versprechen Sonntagsreden, die die Menschen beruhigen sollen, aber den Staat kein Geld kosten. […..]