Samstag, 11. April 2020

Der Urnenpöbel mal wieder


Während um 21.00 Uhr wieder einmal draußen auf den Balkons applaudiert und gesungen wurde, las ich gerade im heutigen Hamburger Abendblatt ein Interview mit Prof. Reichenspurner, dem Chef des Hamburger Herzzentrums im UKE. Der weltberühmte Kardiologe, der auch meiner Mutter ein künstliches Herz eingebaut hatte, fordert eine mindestens 30%ige Gehaltserhöhung für alle Pflegekräfte.
Dazu ist es wichtig zu wissen, daß im UKE die Arbeitsbedingungen für die Krankenschwestern und Pfleger deutlich besser als in den Kliniken in privater Trägerschaft sind, da das Krankenhaus letztlich dem Staat gehört und daher nicht wie die Schön- oder Asklepioskliniken auf Profitmaximierung fixiert ist.
Zuvor hatte ich die Süddeutsche Zeitung von heute gelesen, in der Co-Chefredakteur Heribert Prantl in seinem Leitartikel richtigerweise verlangt, das Gesundheitssystem dürfe nicht gewinnorientiert arbeiten.

[….] Es ist in der Corona-Krise lehrreich, die Berichte und Zahlen von damals wieder aufzurufen. "EU-Finanzkrise und die Folgen: Am Ende bezahlen die Kranken" titelte das Deutsche Ärzteblatt 2012 und berichtete von den desaströsen Verhältnissen in den krank gesparten griechischen Krankenhäusern. Es fehlte an Gerät, Material und Medikamenten. Die Ärzte arbeiteten für 1500 Euro im Monat, das Pflegepersonal musste monatelang darauf warten, überhaupt bezahlt zu werden. Diese Ärzte und Krankenschwestern sind mittlerweile ins Ausland gegangen. Es fehlen 20.000 Pflegekräfte.
Insgesamt zählt Griechenland heute nur 215 zur Corona-Behandlung geeignete Krankenhausbetten. "Austerity kills"; der Protestspruch von damals steht noch an den Hauswänden. Man fragt sich: Wieso haben damals Fernsehbilder aus griechischen Krankenhäusern nicht so aufgeregt wie heute diejenigen aus italienischen? Vielleicht, weil sie nur in Dokumentationen spätabends gezeigt wurden. [….] Die Zahl und Ausstattung der Krankenhäuser wurden allem Möglichen angepasst, aber nicht dem Bedarf der Kranken und schon gar nicht einem Bedarf, den eine Virusepidemie schafft. Auch in Deutschland ist das Gesundheitssystem auf Marktvernunft geeicht und auf Privatisierung, Gewinnorientierung und Kostensenkung getrimmt worden [….]

Dazu kommt der legendäre Wochenendteil „Buch Zwei“, in dem den „Corona-Helden – also den Altenpflegern, Krankenschwestern und Klink-Reinigungspersonal ein Denkmal gesetzt wird.

Hurra, ist es jetzt so weit? Offensichtlich besteht doch endlich Einigkeit darüber, daß der neoliberale Privatisierungspfad der 1990er ein Irrweg war.
Haben es jetzt alle begriffen, daß die drastische Lohnungleichheit ein die Gesellschaft zerstörender Kardinalfehler ist?
Der Chefarzt, der Kolumnist, die Bürger auf den Balkons – alle sind nun dafür.

Aber die CDU regiert und die tut in der Krise das was in ihrer Lobby-infizierten DNA liegt: Steuergeschenke für die Superreichen und Absage der Grundrente.
Also wenn schon der Fetisch der schwarzen Null aufgegeben werden muss, dann sollen die Ärmsten und Geringverdiener dafür büßen, während die Top 10% der Gesellschaft durch die Soli-Abschaffung 90% der finanziellen Geschenke bekommen.

[….] Die Grundrente soll ab 2021 die Renten von Menschen mit kleinen Bezügen aufbessern.
Unionspolitiker fordern nun, das Projekt auf Eis zu legen - wegen der Corona-Schulden.
SPD-Chefin Saskia Esken findet den Vorstoß aus der Union “unbegreiflich”.
[….] „Wir haben zur Bewältigung der Corona-Krise einen riesigen Schuldenberg angehäuft“, sagte Peter Weiß, der Chef der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion, Peter Weiß (CDU), dem Focus. „Deshalb müssen wir uns nach der Pandemie in der Koalition zusammensetzen und noch einmal die Finanzierung genau anschauen“, sagte er. Auch der Zeitplan zum Inkrafttreten der Grundrente müsse überdacht werden. Zuvor hatte bereits der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) der CDU/CSU, Carsten Linnemann, gefordert, die Grundrente auf Eis zu legen.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat bereits klargemacht, dass er an seinem Vorhaben festhält: Er wolle, dass die Grundrente zum 1. Januar in Kraft tritt. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken ist empört über die Debatte, die von Unions-Seite gestartet wird. „Nach zahlreichen Störmanövern hat die Koalition im Kabinett beschlossen, die Grundrente bis Anfang 2021 zum Laufen zu bringen“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND/Samstag). „Es ist unbegreiflich, dass Vertreter von CDU und CSU diesen Beschluss nun inmitten der Corona-Krise infrage stellen.“
Esken verwies auf die Debatte über die oft geringen Gehälter von Supermarktkassiererinnen und anderen in der Corona-Krise. „Es gibt in diesen Zeiten eine große politische und gesellschaftliche Einigkeit darüber, die Leistungen der oftmals gering verdienenden Beschäftigen in den systemrelevanten Berufen besser zu honorieren“, so die SPD-Chefin. „Mit ihrer Haltung zur Grundrente können CDU und CSU zeigen, dass es ihnen Ernst damit ist.“ [….]

Zum Glück, liebe Groko-Hasser, sitzt aber die SPD mit in der Bundesregierung und stellt insbesondere den Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der eisenhart den CDUCSU-Wünschen nach Steuermilliarden für die Superreichen einen Riegel vorschiebt.

Der für 2021 beschlossene Wegfall des Solidaritätszuschlages für die unteren 90% der Zahler möchte die SPD gern vorziehen, um in der Corona-Krise die unteren und mittleren Einkommen so zu entlasten, daß sie mehr Geld in den Konsum stecken können.
Die oberen zehn Prozent, die allerdings den Großteil des Gesamt-Soli-Aufkommens zahlen, sind für die Nachfrage konjunkturell eher uninteressant, weil ein Multimillionär mit einer zusätzlichen Million auch nicht mehr ins Restaurant geht oder Zahnpasta kauft, sondern Extra-Geld eher in Steueroasen verschieben wird.
Die Union will aber keine Vorverlegung des Soli-Endes für 90% der Zahler, weil ihr nur die Top-Verdiener am Herzen liegen.

[….] "Wir können die steuerliche Entlastung von Millionen Beschäftigten notfalls sehr kurzfristig beschließen", sagt Scholz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Das ist kein Hexenwerk." Und er schiebt der Union den schwarzen Peter zu. "Das ständige Gerede von CDU und CSU über Steuersenkungen bezieht sich ausnahmslos auf Reiche und Spitzenverdiener." Scholz trifft die Finanzpolitiker der Union an einer empfindlichen Stelle. Erst mussten sie zähneknirschend zustimmen, dass nur 90 Prozent der Steuerzahler keinen Soli mehr zahlen müssen und jetzt sollen sie schuld sein, dass der Soli doch erst 2021 gestrichen wird. [….]

Diese Groko zeigt sehr klare Ergebnisse je nach Amtsinhaber.

Hubertus Heil, SPD, Grundrente – CDU gegen die Geringverdiener.
Olaf Scholz, SPD, Soli – CDU für die Topverdiener.

So ist es auch in anderen Politikbereichen.
Beispiel Julia Klöckner, CDU, die sich gegen den SPD-Wunsch sperrt das Kükenschreddern zu verbieten.
Sie war sehr erfolgreich dabei die Wünsche der Agrarlobby zu erfüllen:

[….] Die Zahl der getöteten Küken ist im vergangenen Jahr wieder gestiegen. Nachdem sie 2018 noch bei rund 42 Millionen Tieren gelegen hatte, lag sie 2019 bei rund 45,3 Millionen Tieren. [….]
Die Wähler können sich entscheiden: Wollen sie lieber Tierschutz und Zuschläge für Geringverdiener und arme Rentner?
Oder wollen sie mehr Kükenschreddern und Milliarden für Millionäre?

Ein Blick auf die Umfragen zeigt es deutlich:
Die Werte der CDU gehen durch die Decke; der Urnenpöbel findet die Union offenbar ganz großartig und will keine Sozialpolitik.
"Austerity kills"? Nicht für den deutschen Wähler. Sie honorieren die Politiker, die jetzt wieder bei den Ärmsten den Gürtel enger schnallen wollen, um massiv nach oben umzuverteilen.

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