Mittwoch, 2. Oktober 2024

Das Chamäleon

Der Einfluss der US-Präsidentschaftsdebatten steht in keinem Verhältnis zu dem enormen Aufwand, den Sender und Journalisten darum veranstalten.

Kamala Harris hatte ihre Debatte gegen Donald Trump eindeutig gewonnen, ohne relevante Änderungen am Umfragen-Patt zu erreichen. Den ganz kleinen positiven Push erzielte die US-Vizepräsidentin eher mit Meme-tauglicher Mimik.

Hillary Clinton gewann 2016 alle drei TV-Debatten gegen Trump und wurde dennoch nicht US-Präsidentin. Es gibt also sehr wenig zu gewinnen bei den quotenstarken Duellen.

 Gleichwohl kann man alles verlieren, wie das Biden-Desaster vom 27.06.2024 zeigte: Seine katastrophale Performance ließ Trump anschließend als so sicheren Wahlgewinner aussehen, daß der mächtige amtierende US-Präsident bekanntlich seine Kandidatur ganz aufgab. Aufgeben musste.

Von der gestrigen VP-Debatte war also kaum ein Effekt auf die Umfragen zu erwarten. Dennoch herrschte in den USA Neugier, weil Walz and Vance im Gegensatz zu ihren jeweiligen Running Mate,s den meisten Wählern völlig unbekannt sind. Wie würden sie sich präsentieren? Ich verband damit tatsächlich die Hoffnung auf eine wahlentscheidenden Vance-Blamage, da dieser sich seit seiner Berufung zu Trumps Stellvertreter, beinahe täglich mit neuen Peinlichkeiten und Auftritten mit höchstem Cringe-Faktor präsentierte. Auch für ihn wurde das Prädikat „weird“ erfunden. Und zwar vom Gouverneur Walz, der scheinbar wie Kai aus der Kiste auf der politischen Bühne auftauchte und sich dort als äußerst fähiger Wahlkämpfer erweist. Seine energiegeladenen Auftritte und Reden wirken extrem mitreißend. Er kann sich mit klaren Ansagen sofort in die Herzen des Publikums katapultieren.

Tim Walz schien die deutlich besseren Karten zu haben, weil er die Argumente auf seiner Seite hat, während Vance den „nicht zu verteidigenden“ Wahnsinn seines Chefs verteidigen musste. Zudem spiele mit Pete Buttigieg einer der intelligentesten US-Politiker überhaupt, bei der „debate prep“ den Vance. Der demokratische VP-Kandidat sollte also perfekt vorbereitet sein und vernichtende Treffer setzen können.

Long story, short: Meine Hoffnungen wurden enttäuscht. Die Debatte wird allgemein als „tie“ oder gar mit leichten Vance-Vorteilen bewertet. Mein demokratischer Spin lautet: Immerhin, eine totale Blamage leistete sich Walz nicht und damit wird die verpasste Gelegenheit auch vermutlich keinen Einfluss auf den 05.November 2024 haben.

Aber wie konnte es passieren, daß ein so diskussionsfreudiger, von Buttigieg vorbereiteter und redegewandter Walz kaum einen harten Punch gegen Trumps Vize setze?

Offenkundig hatten die Demokraten unterschätzt, was für ein politisches Chamäleon J.D. Vance ist. Der Senator aus Ohio lügt nicht nur wie gedruckt, wechselt willkürlich seine Ansichten, wurde von einem der schärfsten Trump-Kritiker zum glühenden Trump-Fan, sondern kann auch seinen Ton und die Persönlichkeit wie eine Amöbe verändern. In den letzten Wochen war er hauptsächlich als ultrarechtsradikaler Social-Media-Troll unterwegs, der zum Vergnügen Trumps die abscheulichsten rassistischen Lügen in die Welt posaunte.


Auf diesen Vance war Walz offenkundig eingestellt und wollte ihn verbal hart treffen.

Stattdessen gab sich Vance unerwartet liebenswürdig, höflich, zugewandt und kompromissbereit, während er immer wieder seine beiden Haupt-Narrative wiederholte:  

1.) Grenz-Zarin Harris habe 20 Millionen Kriminelle ins Land geschleust, welche die Ursache aller Übel wären.

2.) Während der Trump-Präsidentschaft boomte die Wirtschaft und herrschte Weltfrieden. Mit Biden/Harris wurde die Welt in Flammen gesetzt und die US-Wirtschaft schmierte ab.

Das sind selbstverständlich glatte Lügen. Aber sie kamen so freundlich und verbindlich daher, daß Walz vor Erstaunen vergaß zu factchecken und offenbar Beißhemmungen entwickelte.

Es ist, wie so oft in der Politik; Brandolini macht es möglich: Lügen zahlen sich aus. Die Wähler bestrafen die Ehrlichen. Auch in Deutschland sind die Parteien, deren Chefs am meisten lügen, die erfolgreichsten: CDU, CSU und AfD. Der dreisteste Lügner von allen; Markus Söder; wurde damit gar zum Lieblingskanzlerkandidaten der Wähler.

Diesem Orkan aus Fehlinformationen konnte auf Tim Walz kaum etwas entgegensetzen. Der Irrsinn ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß sich Vance gestern ausdrücklich das Fact Checken verbat, als die Moderatorin eine besonders perfide von ihm behauptete Lüge kurz richtigstellte.

2016 beklagte sich Rick Santorum, der rechtsextreme Katholik, damals noch als CNN-Angestellter darüber, Kandidaten zu fact checken. Das sei unfair, da damit Trump eindeutig benachteiligt würde.

Damals lachten wir noch. Man empfand es noch als dreist, nicht die Lügen Trumps, sondern die Richtigstellungen zu verurteilen.

Heute ist es Mainstream: AFD, FPÖ, CDUCSU, BSW, GOP lügen, verbreiten ihren Bullshit-Kosmos auf Social Media. Das wird akzeptiert. Wer sich aber gegen rassistische Lügen wehrt, indem er die Lügner nicht mehr in seine Shows einlädt, ihnen widerspricht oder gar ihre Postings mit Fact-Check-Hinweisen versieht, bekommt die Shitstorms. Der Trumpismus zerstörte mittlerweile die Debattenkultur in allen westlichen Demokratien. Wenn sich jemand nicht auf extreme Weise selbst blamiert, wie es Trump durch seine Kombination aus Borniertheit und Senilität tut, können die Ehrlichen argumentativ kaum gewinnen. Insbesondere, wenn die Faschisten sich den Schafspelz überziehen.

[….] Der Vize-Kandidat von Donald Trump war bei diesem Auftritt ganz klar auf einer Mission: Er wollte freundlich wirken, nahbar, moderat. Er trat deutlich anders auf als sonst, wenn er vor eingefleischten Trump-Anhängern spricht. Von Einwanderern, die angeblich in Ohio Katzen und Hunde essen, war bei ihm diesmal beispielsweise keine Rede.

Es ging ihm offenkundig darum, seine eigenen, eher schlechten Sympathiewerte in der breiten Bevölkerung zu verbessern. Zugleich richtete er sich auch an unentschiedene Wechselwähler, also Menschen, die von Trumps aufbrausender Art abgeschreckt werden. An sie war die Botschaft gerichtet: Seht her, wir sind doch gar nicht so schlimm.

Immer wieder sprach Vance über seine Familie, seine »drei wunderbaren Kinder«, seine »großartige Frau« und seine Großmutter. Diese habe einst in kalten Wintern wenig Geld zum Heizen gehabt, erinnerte er. Er wisse, wie sich Armut anfühle, so Vance. Donald Trump und er wollten deshalb sicherstellen, dass sich alle Amerikaner in ihren Häusern sicher fühlen könnten und eine gute Zukunft hätten, säuselte er.  […..]

(SPON, 02.10.2024)

Besser als politische Mittel, funktionieren Satirische.


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