Sonntag, 16. Juli 2023

Der Wählerwille

 Man dürfe nicht immer die Wähler beschimpfen. Das muss ich mir ständig anhören.

Offenbar halten die meisten Deutschen den Souverän für eine paradoxe hochempfindliche, aber allwissende Kreatur.

Mich verblüfft immer noch, mit welcher Selbstverständlichkeit „der Wähler“ als homogenes Wesen betrachtet wird.

So war es nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 weitverbreitete Ansicht, „der Wähler“ habe klug entschieden, nach der langen Merkel-Ära der CDUCSU eine Auszeit zu gönnen, die moderneren Rot-Grünen das Ruder übernehmen zu lassen, aber ihnen die FDP als Korrektiv an die Seite zu stellen, damit nichts zu radikal umgesteuert würde.

Das war in so ziemlich jeder Hinsicht falsch. Die SPD stellte niemals radikale Kanzler und schon gar nicht mit der Hyperrealist Scholz. Und nie waren die Grünen so wenig links, wie unter den CDU-affinen Baerbock und Habeck.

Es war auch weniger eine Entscheidung gegen die CDU, als ein Unwille, den von Panne zu Panne stolpernden Armin Laschet ins Kanzleramt einziehen zu lassen.

Betrachtet man das Ergebnis genauer, ist dort wenig Klugheit zu erkennen.

Über 30% der Wahlberechtigten waren zu dumm, um sich überhaupt für eine Bundestagspartei zu entscheiden.

8% stimmten für Faschisten

4% stimmten für Querfrontlerischen Wagenknechte

9% stimmten für eine destruktive reine Lobbyorganisation der Superreichen.

18% stimmten für die Scheuer/Spahn-Parteien, die 16 Jahre lang all die Probleme, unter denen wir jetzt ächzen, durch eigene Doofheit zu verantworten haben.

Etwa 34% stimmten für die einzig möglichen Zukunftsparteien. Satte zwei Drittel der Deutschen trafen hingegen eine sehr dumme Entscheidung.

Das ist der Souverän. Klugheit kann man „ihm“ insgesamt also wirklich nicht unterstellen. Der Souverän ist heterogen. Unter im sind bei insgesamt 61 Millionen Wahlberechtigten, aber offensichtlich rund 40 Millionen Hohlköpfe.

Wieso traut man denen eine ominöse „Schwarmintelligenz“ zu?

Einerseits weiß „der Wähler“ alles besser, als Fachleute. Daher holen auch die seriösen Medien täglich Umfrageergebnisse als Totschlagargumente aus der Zauberkiste: Eine Mehrheit der Deutschen ist gegen die Abschaffung des Ehegattensplittings. Eine Mehrheit der Deutschen ist für die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Eine Mehrheit der Deutschen ist gegen ein Verbrennerverbot.

Nimm das, Ampel!

Dabei fehlt 98% der Deutschen ohnehin die Sachkenntnis, um solche Fragen überhaupt beurteilen zu können. Sie trauen sich aber dennoch eine Meinung zu, weil „die da oben“ ohnehin nur Blödsinn machen und weil rechte Presse/rechte Parteien sie manipulativ in ihrem Irrglauben unterstützen.

So kommt es, daß sich erwiesenermaßen völlig unsinnige rechtlobbyistische Talkingpoints hartnäckig als Laien-Wissen halten. Mini-AKWs, Kernfusion, E-Fuels und vage „Technologieoffenheit“ kann man schon lange aus dem Energiewende-Argumentationskasten streichen, weil sie entweder definitiv nicht funktionieren oder frühestens in vielen Jahrzehnten zur Verfügung stehen. Wir müssen aber jetzt sofort handeln.

[….] Ähnlich weltfremd ist eine weitere Idee von Union und FDP: Sie trommeln für eine Renaissance der klassischen Atomenergie per Kernspaltung. CSU-Chef Markus Söder hofft vor allem auf „Minireaktoren“, die er natürlich ebenfalls am liebsten in Bayern erforschen würde. Mini­reaktoren: Dieses Konzept klingt futuristisch, ist aber in Wahrheit uralt. Schon in den 1950er Jahren träumte man vom „Kraftwerk in der Kiste“. Die Kleinreaktoren sollten als Flugzeugantrieb dienen oder als „Babyreaktoren“ Räume heizen. Es kam bekanntlich anders. Diese Art von Minireaktoren wurde nie gebaut, und ein Grund war, dass auch sie strahlenden Atommüll hinterlassen, den niemand in seinem Wohnzimmer oder in der Küche haben wollte. Errichtet wurden stattdessen Großkraftwerke, die sich besser beherrschen ließen. Aber auch dort kam es zu den sattsam bekannten Problemen: Für den deutschen Atommüll gibt es bisher kein Endlager, und zudem wird der Bau neuer Reaktoren immer teurer. Was auch gern übersehen wird: Das Uran würde nur 13 Jahre lang reichen, wenn man den ganzen Globus mit Kernenergie versorgen wollte, um die fossilen Brennstoffe zu ersetzen und weltweit Klimaschutz zu betreiben. Momentan ist die Atomenergie ein Nischenphänomen, das weniger als 5 Prozent des globalen Endenergieverbrauchs abdeckt.  [….]

(Ulrike Herrmann, 12.05.2023)

Ich habe es gründlich satt, jede Woche wieder zu lesen und zu hören und zu sehen, daß DIE Deutschen für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke (und damit zusätzliche Putin-Abhängigkeit; denn das Uran kommt aus Russland) sind.

Die Deutschen möchten das, weil sie Idioten sind und es nicht besser wissen. Klar, nicht jeder kann und soll (wie ich zum Beispiel) Kernchemievorlesungen gehört haben und in AKWs rumgekrochen sein. Es wäre absurd, von jedem Bürger Kernphysik-Fachkenntnisse zu erwarten. Aber noch absurder ist es, ihnen genau das zu unterstellen, ihre Ansichten dazu abzufragen und diese „Meinungsbilder“ der Regierung als Handlungsanweisung zu präsentieren.

Atomkraftwerkrisikoabschätzung ist genauso wenig, wie Onkologie oder Stochastik oder Gebäudestatik eine Frage der Meinung. Das kann man nicht nach Gefühl oder politischer Ausrichtung entscheiden, sondern muss es den wenigen überlassen, die etwas davon verstehen.

Kurioserweise billigen genau dieselben Leute, die dem Wähler Kenntnis unterstellen, wo sie gar keine Kenntnis haben können, dem Urnenpöbel großzügig zu, keine Kenntnis haben zu können, wenn es sich um einfache, für jedermann offensichtliche Dinge handelt

Stichwort AfD-Rekordzahlen. Letzte Woche zappte ich versehentlich in eine Maischberger-Runde, in der der ewig lügende Bosbach wieder unter dem begeisterten Applaus des Publikums Märchen erzählte.

Auf die >20%-Partei AfD angesprochen, pawlowschte der CDU-Rechtsaußen sofort wieder los, das seien aber garantiert nicht alles Nazis, man dürfe sie auch nicht so nennen, sondern sie wären berechtigt enttäuscht von der Ampelpolitik.

Nein, Fuck You, Bosbach.

Wie ihm glücklicherweise Alev Doğan sofort antwortete, gibt es die AfD seit über acht Jahren als politische Größe in Deutschland. Niemand, kein einziger Wähler kann sich mehr damit herausreden, er wüßte nicht, daß es sich bei Höckes brauner Partei um Faschisten handelt. Faschisten, die hetzen und lügen, die aber keinerlei Lösungsvorschläge haben und mit einem hochkriminellen Putin-affinen Personal schockieren. Nein Bosbach, anders als bei der Frage nach Quantenphysik oder den Details der Uran235-Aufarbeitung, die wirklich kein Wähler beantworten können muss, gibt es keine Ausrede mehr, um nicht zu wissen, um welch destruktive Rechtsextreme es sich bei der AfD handelt.

Man wird nie jedem einzelnen Wähler nachweisen können, ob er ein Nazi ist. Aber 9-10 Millionen Deutsche sind gegenwärtig gewillt, eine Partei zu wählen, die mit Sicherheit Nazis in die Parlamente schickt. 10 Millionen stören sich nicht an Nazis.

Urnenpöbel.

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