Das war schon im Januar, als ich mit einem Freund sprach,
den ich aus der Schule kenne und der damals schon intensiv seine
Hypochondrie pflegte.
Er scannte jede freie Minute die Medien nach neuen
Erkenntnissen über diesen Virusausbruch in Wuhan, fing an sich Vorräte zusammen
zu preppern und hatte seinen in anderen Städten lebenden Eltern bereits Pulsoxymeter,
Desinfektionsmittel und Masken per Post geschickt.
Ich erklärte ihm, wieder einmal, er sei ja wohl völlig
durchgedreht und ob er eigentlich wisse wie viele alte Menschen in Deutschland
jedes Jahr an Grippe oder durch Sommerhitze stürben.
„Jetzt redest Du genauso wie Trump!“ entgegnete er mir und
ich wurde ernsthaft wütend.
Das lasse ich mir wirklich nicht gern sagen.
Nach dem Telefonat googelte ich nach verlässlichen Zahlen zu
den Grippetodesfällen. „25.000“ hatte ich behauptet, da mir die Zahl
gelegentlich schon begegnet war. Dazu wollte ich noch ein paar Links per
Whatsapp hinterher schleudern.
Blöderweise gibt es diese konkrete Zahl aber gar nicht;
dabei handelt es sich lediglich um eine Hochrechnung.
[….] Zudem wurden in der ungewöhnlich schweren Grippesaison 2017/18
tatsächlich „nur“ 1674 Todesfälle an Grippe im Labor bestätigt. Da in Jahren,
in denen die Grippe stark wütet, mehr Menschen sterben als sonst
(„Übersterblichkeit“) und Influenza oft nicht als Todesursache angegeben wird,
stellt das RKI jedoch Hochrechnungen an, wie hoch die tatsächliche Zahl der
Opfer sein könnte. So kommen die 25 000 Todesfälle für 2017/18 zustande. In der
elfwöchigen Grippesaison 2019/20, die beendet ist, liegt die Zahl der
Todesopfer bei 509. [….]
Ein paar Wochen später gab es ein großes Rauschen in der
Hamburger Boulevardpresse, weil auch ein Hamburger an Covid19 erkrankt war.
Als ich die Story checkte, stellte ich fest, daß es sich um einen
älteren Herren handelte, der zwar aus Hamburg stammte, sich aber auf einer
längeren Reise in Italien befand.
Typisch yellow press, dachte ich. Die Schlagzeilen klangen
so, als ob die Krankheit schon in der Stadt wäre, dabei war immer noch alles
ziemlich weit weg, südlich der Alpen.
Persönlich musste man ja noch nicht beunruhigt sein.
In dem Pflegeheim, das ich regelmäßig besuche, hingen auf
einmal Hygieneratschläge im Fahrstuhl. Ich fand immer noch, das ginge mich
nicht wirklich was an; ich bin es schon lange aus Krankenhäusern gewöhnt mich
hygienisch zu verhalten und fasse nirgendwo Türklinken oder Fahrstuhlknöpfe mit
nackten Fingern an.
Dann aber waren auf einmal auch in der Hamburger Uni-Klinik
UKE zwei Corona-Infizierte isoliert worden und nach meinem Gefühl waren auch kurz danach die Läden geschlossen, alle öffentlichen Veranstaltungen
gestrichen.
Die Stimmung war von „betrifft uns nicht“ binnen kürzester
Zeit in totale Hysterie gekippt.
Der Klopapierwahn brach los. Zum Glück neige ich gar nicht
zur Hysterie, bin aber als Single, der schon mal ein Bein gebrochen hat auch
nicht so doof meinen Haushalt völlig ohne Reserven zu führen. Ich musste noch
nie im Leben bei den Nachbarn klingeln, um nach einem Ei oder einer Tasse Zucker
fragen.
Das einzige, das ich tat, war einige ältere Nachbarn zu
kontaktieren und ihnen Hilfe anzubieten.
Ich selbst blieb erst mal zu Hause und ließ mir nach Bedarf
Lebensmittel liefern.
Im Zeitungskiosk oder bei meinem Gemüsemann stellte ich fest,
daß alle Kunden fast ausnahmslos besonders diszipliniert waren. Alle trugen
Masken und wenn man sich auf der Straße begegnete hielt jeder penibel Abstand.
Man sah es den anderen an, daß man für eine potentiell
tödliche Gefahr gehalten wurde.
Vor circa zwei Wochen fiel mir das erste mal in einem REWE-Supermarkt
auf, daß zwar eine gute Hälfte der Kunden immer noch genauso diszipliniert alle
Regeln einhielt, aber inzwischen auch eine große Minderheit geradezu
demonstrativ dagegen verstieß.
Es wurde wieder gedrängelt, in Gruppen zusammengestanden und
an der Alster bildeten sich bei wärmerem Wetter sofort wieder dicke Pulks
junger Menschen, die zusammen aßen, Bier tranken und jedem Corona-Besorgten
ihren Mittelfinger entgegen streckten.
Armin Laschet hielt man für unverantwortlich, etwas blöde. Vergaloppiert
im Kampf um den CDU-Vorsitz.
Aber plötzlich geht es wieder ganz schnell.
Kretschmann, Kretschmer, Ramelow preschen vor; in den
Zeitungen wird drastisch Stimmung gegen vorsichtige Politiker gemacht, die noch
nicht bedingungslos Kitas und Schulen öffnen.
Es ist wieder gekippt, meine ich. Disziplin lässt sich in
einer social-media-Welt mit all den Kens, Atilas, Tils und Xavers offenbar nur
einige Wochen durchhalten.
Schlagartig adaptieren alle die Boris Palmer-Ethik, die
einen darwinistisch-hedonistischen Umgang mit der Pandemie propagiert: Lass Oma
und Opa doch krepieren. Die sind doch eh schon so alt. Deren Ansteckungsrisiko
ein bißchen zu senken ist keine Rechtfertigung sich den Spaß verderben zu
lassen.
Vatertag, Pfingsten, all die schönen Feiertage. Nun ist mal
Schluß mit Corona, jetzt wird wieder auf Haptik umgestellt.
In den red states wie Alabama lässt sich diese
Schamlosigkeit mustergültig beobachten.
Gibt es Viren überhaupt? Man kann sie doch gar nicht sehen!
Appell an die Ratio? Welche Ratio?
Appell an die Ratio? Welche Ratio?
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