Dienstag, 5. Dezember 2017

Weihnachtswahn.


Gerade komme ich vom Groceryshopping bei meinem REWE.
Für einen Supermarkt ist dieser REWE recht angenehm, weil er so groß ist, daß man nicht mit anderen Kunden kollidiert und insbesondere, weil dort keine Hintergrundmusik läuft.
Um 22.00 Uhr da zu sein ist besonders gut, weil dann auch keine lärmigen Kinder mehr durch die Gänge toben.
Allerdings begegnete ich einem entfernten Bekannten, der mir erklärte, ohne daß ich ihn dazu aufgefordert hätte, wie ihn die vielen Stände mit Weihnachtsdekoration, Glühwein und Stollen nervten.

Ich sah mich kurz um; tatsächlich. Alles voll mit dem Zeug.
Offenbar habe ich mir inzwischen einen derartigen Tunnelblick angewöhnt, daß ich die saisonalen Dinge, die mich nicht interessieren, gar nicht wahrnehme.
Meine Mutter fuhr vor ca 20 Jahren mal einen schwarzen Fiat Barchetta mit Hardtop. Wirklich ein süßes Auto, das durch seine runden Formen so extravagant wirkte.









„So ein kurioses Auto hast Du noch nie gesehen“ sagte ich zu einer Freundin, die ich von der Arbeit abholte. Barchetta kannte sie nicht. Kurze Zeit später fuhr ein anderer Barchetta auf der Nebenspur. Ich konnte es nicht fassen, weil ich annahm, meine Mutter fahre den Einzigen weit und breit. Aber weit gefehlt. Wenn man drauf achtet, sieht man die Dinger an jeder Ecke. Das war mir nur früher nie aufgefallen, weil mich Autos nicht interessieren.

Genauso erging es mir einst, als ich völlig geschockt ob meiner MINUS-EIN-VIERTEL-DIOPTRIN-Diagnose vom Augenarzt kam, der mir empfahl mit einem Optiker zu sprechen. Meine erste Brille wäre fällig. BRILLE? Optiker? Ich kannte keine Optiker. Wie findet man so einen? Wo muss man denn da ganz hinfahren?
Auf dem kurzen Weg nach Hause dann die Überraschung – sage und schreibe fünf Brillengeschäfte zählte ich beim Vorbeifahren. Die gibt es wie Sand am Meer. Ich hatte nur nie vorher einen wahrgenommen, da ich selbst keine Brille trug.

Wenn mir also nicht gerade in penetranter Lautstärke irgendwo in der Öffentlichkeit „Stille Nacht“ vorgespielt wird, bemerke ich weihnachtliche Dekoration nicht.
Klar, wenn man drauf hingewiesen wird, ist der REWE voll mit dem Zeug. Aber wen wundert es? Schließlich ist morgen schon Nikolaus.
Offensichtlich gibt es haufenweise Kinder und Eltern, die dem entsprechenden Konsumzwang frönen.
Für mich ist das aber zu lang her. Weihnachten, Silvester, Ostern und Co ignoriere ich seit mehr als drei Dekaden.
Meine Mutter pflegte auf die Frage „was machst du Weihnachten?“ zu antworten „da gehe ich nicht hin!“

Wie viele Menschen habe auch ich etwas rosige Kindheitserinnerungen an Weihnachten, das wir bei meiner Oma mütterlicherseits begingen.
Meine Oma starb aber 1982; der 24.12. 1982 war das erste Weihnachten ohne sie und endete in allgemeiner Depression.
Wie sich herausstellte, hing der Rest weniger an dem christlichen Fest, der Tradition oder den Geschenken, denn an meiner Oma, die eine sehr besondere Stellung innerhalb der Familie einnahm. 
Sie wurde geliebt, war aber auch gleichzeitig Autorität. Mein Oma war eine extrem elegante und selbstbewußte Frau, die schon im 1. Weltkrieg einen Führerschein machte und in den 20er Jahren in einem Cabrio durch die Stadt düste; ihre beiden ältesten Kinder hinten auf dem aufgeklappten Notsitz.
Sie hielt die Familie, die längst nicht mehr zusammenwohnte, zusammen.
 Ich bewunderte sie grenzenlos und wußte wohl schon als Kind instinktiv, daß wir nachfolgenden Generationen verglichen mit ihr alle Proleten waren; nie so viel Haltung zeigen könnten.
Haltung in vielfachem Sinne. Im ganz hohen Alter saß sie immer kerzengerade, hätte niemals gejammert oder sich gehen lassen.
In den 1930ern ging sie bewußt im hellen Tageslicht zu ihren jüdischen Schneidern, denen die Familie seit Generationen verbunden war. 
Es ging ihr womöglich gar nicht so sehr darum ein Zeichen zu setzen oder der Gestapo zu trotzen. Aber ihr persönlicher Anstand erforderte es zu ihnen so höflich wie immer zu bleiben.
Es gab dann einige anonyme Anzeigen gegen sie, weil die Deutschen nun mal zu gerne denunzieren. Aber auch das Nazi-Regime zeichnete sich durch eine gewisse Willkür aus, so daß sich meine Oma immer wieder herausreden konnte.
So eine Frau war meine Oma und nach dem Weihnachten 1982 ohne sie, sagte meine Mutter aller weiteren Weihnachtsfeiern für den Rest ihres Lebens ab.
Ich fand das nur konsequent. Die Generation meiner Oma, die noch im 19. Jahrhundert geboren wurde, war ausgestorben.
 Einige Jahre später; ich wohnte zum erstem mal allein, studierte, wurde mir erstmals bewußt, wie viel Glück im Unglück ich hatte.
Freunde, die in anderen Ländern oder Städten studierten, kamen über Weihnachten nach Hamburg, riefen mich an, wunderten sich, wie ich die Tage ganz allein verbringen konnte. Bis zum 25.12., spätestens 26.12. – da riefen sie wieder an, auf der Flucht vor ihrer eigenen Familie.
„Kann ich vorbei kommen? Ich halte das hier nicht mehr aus. Du machst es richtig!“
Ich begann mich privilegiert zu fühlen.
War das ein Glück, daß ich diesen Kaufrausch, das Singen und „festliche Beisammensein“ nicht mitmachen musste.
Das Wort „chillen“ war noch lange nicht erfunden, aber tatsächlich chillte ich in diesen Tagen. Zu keiner anderen Zeit im Jahr hat man als Großstadtbewohner in einem Mietshaus mit kleinen Wohnungen so eine Ruhe.
Schließlich wohnen in den umliegenden Wohnungen fast nur Singles, die zu diesem Familienfest ihre Verwandten in größeren Behausungen aufsuchen.
Drei Tage völlige Ruhe. Kann es etwas Schöneres geben?

Inzwischen habe ich vergessen, daß es familiäre Zwänge, gesellschaftliche Konventionen und christliche Riten gibt, die eine Weihnachtsfeier erfordern.

Seit einiger Zeit lese ich allerdings wieder in den sozialen Netzwerken Postings wie dieses.


Angeblich soll es zur Feier von Christi Geburt die meisten Suizide geben, weil den Menschen ihre Einsamkeit so schmerzlich bewußt wird.
Ich konnte dafür keinen klaren Beleg ergoogeln.
Aber scheinbar gibt es selbst in einer Stadt wie Hamburg, in der mehr als 50% der Wohnungen Singlehaushalte sind, massenhaft Menschen, die sich durch diese Feiertage sozial derartig unter Druck gesetzt fühlen, daß sie bei Nichterfüllen des angemessenen Festprogramms schon Wochen vorher in Depressionen versinken.

Ich verstehe es aber nicht. Wir haben das Jahr 2017, das Internet, leben weitgehend säkular und selbstbestimmt.
Wie kann das Nichtfeiern eines  Festes, das dem Konsum huldigt und heidnische Bräuche mit einer Ekelreligion verquickt, Menschen so verunsichern?

Macht Euch frei von Weihnachten.
Kein (erwachsener) Mensch braucht das.

6 Kommentare:

  1. Irgendwie schmerzhaft aber auch schoen hast du so einig extrem aehnlich vertraute Erinnerungen in mir getriggert. Vor allem ueber deine Oma, in meinem Fall Opa und Oma(muetterlicherseits), was ich im grossen ganzen ebenso erlebte und empfinde. Ich bewundere sie aus eben den gleichen Eigenschaften und werde die lieblich weisen Generaele immer vermissen. Danach uebernahm meine Mutter den Zusammenhalt der Familie und nachdem sie 2004 ging, brach die Familie unverzueglich auseinander. Es gibt immer wieder Menschen, die nicht zu ersetzen sind. ....

    Und du hast mich uA.an meinen X 19 erinnert. Thanks?

    Thanks
    Jake

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    1. I am sorry.
      Scheinbar nehme ich inzwischen eine recht fatalistische Haltung ein, weil meine gesamte Familie inzwischen tot ist.
      In Deutschland ist keiner mehr übrig. Jedenfalls niemand, mit dem ich Kontakt habe.
      Und die USaner sind entweder indiskutabel (wie die Trumpfans in Californien) oder zumindest so religiös, daß ich mit denen zu Weihnachten auch lieber nichts zu tun haben will.
      Die beiden richtig guten Typen aus meiner US-Familie sind 2013 und 2015 endgültig abgereist.

      Bei meiner Mutter und meinem Vater denke ich immer, daß sie wenigstens nicht mehr erleben mussten, daß Trump kandidiert. Insbesondere meine Mutter würde das völlig fertig machen was jetzt in den USA abläuft.

      Mein Vater ist als geborener Amerikaner, der aber schon mit ca 30 das erste mal für Jahre die Staaten verließ nicht so sentimental gewesen was seine Heimat betrifft. Aber für meine Mutter war die USA so ein Sehnsuchtsort. Sie ist ja bewußt nach NY ausgewandert und LIEBTE die Amerika.
      Sie hat schon die GWB-Jahre kaum ertragen und sagte immer fassungslos "was macht der aus meinem Amerika!"

      Vermutlich würde sie es jetzt auch nicht fassen können, daß sie GWB im Vergleich zu dem aktuellen Amtinhaber doch noch ganz fähig findet.
      Bleibt ihr glücklicherweise erspart.

      LGT

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  2. 'Auf dem kurzen Weg nach Hause dann die Überraschung – sage und schreibe fünf Brillengeschäfte zählte ich beim Vorbeifahren. Die gibt es wie Sand am Meer. Ich hatte nur nie vorher einen wahrgenommen, da ich selbst keine Brille trug.'

    Nur fünf? Die gibt es in Massen. Warum? Weil Optiker Industrie-Brillen für den Preis einer handgefertigten Edelholz-Lesehilfe verkaufen. Optiker machen ein Bombengeschäft! Du wirst es erleben, wenn du dann im Gespräch die Kosten für jedes Extra präsentiert bekommst. Entspiegeln etwa kostet richtig was. Dabei ist das ein Arbeitsschritt, der praktisch keine Kosten verursacht. Die Gläser kommen lediglich in ein chemisches Bad. Frecherweise bieten sie da sogar noch Teil- und Vollentspiegelung an. Sie wissen, dass die Kunden jeden Preis für entspiegelte Gläser zahlen. Wenn du Stubenhocker bist und das Haus nur selten verlässt, reichen auch unentspiegelte Gläser.

    Apropos Gläser. Glas werden sie dir nicht einmal anbieten. Heute nehmen sie Plastik, weil es billiger ist. Plastikgläser sind wegen der schlechteren Brechungswerte mindestens doppelt so dick wie Glas. Dreisterweise erzählen sie dir, dass Glas schwerer als Plastik sei, was wegen der bei Plastik größeren Masse nicht stimmt und auch so überhaupt kein Problem wäre. Die paar Gramm merkt man nicht einmal auf der Nase. Dann malen sie ein Horrorbild, dass Glas bei einem Unfall splittert. Bei einem Unfall, bei dem deine Brillengläser splittern, brauchst du dir darum keine Sorgen mehr zu machen. Bei der Wucht würden dir Plastikgläser im Stück in den Hirnstamm getrieben werden.

    Plastik verkratzt auch sofort, wenn man es mal nicht mit Wasser sondern nur mit einem Tuch reinigen kann. Das kommt sehr oft vor. Bestehe unbedingt auf echtem Silikat-Glas! Ist nicht teurer (für den Kunden). Da werden sie einiges versuchen dir das auszureden. Nicht zu bekommen, führen wir nicht, ist unverantwortlich usw. Lass dich da nicht abwimmeln. Die Rohlinge sind ohnehin Massenware aus China, die dann mit einem Computer gefräst werden. Natürlich tun sie so, als müssten sie wie vor hundert Jahren mit dem Schleifstein nächtelang von Hand bearbeiten.

    Noch ein Tipp: Nimm ein kostenloses Kassengestell. Brillen altern sehr schnell. Das Haufett und Säuren greifen das Material schnell an. Edelmetalle wären da die Ausnahme, aber die Anschaffung lohnt nicht, da Sehstärke und Mode sich ohnehin dauernd ändern. Du wirst die Brille maximal zwei Jahre tragen. Wenn der Verfall der Sehkraft gerade angefangen hat, eher ein Jahr.

    Zusammenfassung: Nimm ein billiges Kassengestell, Silikatglas mit einer Entspiegelung. Da musst du probieren, was für dich am besten ist. Das kostet schon genug, da verdienen sie auch gut an dir. Das ist aber sinnvoller, als sich alle Jahre für viel Geld etwas überteuertes und sinnloses aufschwatzen zu lassen.

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  3. Nachtrag: Auch Gleitsichtgläser brauchst du nicht. Die werden sie dir nur zu gerne aufschwatzen, weil sie daran gut verdienen. Deine Sehstärke ist aber nur leicht schlechter als normal. Deshalb ist es Humbug. Gleitsichtgläser können deiner Sehkraft auch schaden. Mit zunehmendem Alter wirst du sowieso zwei Brillen brauchen und mit Lese- bzw. Arbeitsplatzbrille und Alltagsbrille auch besser bedient sein.

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  4. Das war wohl irgendwie ein Missverständnis.
    Meine -0,25 Dioptrin Diagnose ist ca 25 Jahre her. Solange trage ich schon Brillen.
    Mittlerweile bin ich auch wesentlich blinder geworden und ein echter Experte was die verschiedenen Möglichkeiten angeht.

    Ich wollte nur ausdrücken, daß man solange man keine Brille braucht nicht auf sowas wie Optiker achtet.
    Nachdem man selbst die Erste gekauft hat, beschäftigt man sich mit dem Thema und bemerkt dann natürlich Optiker, guckt sich die Schaufenster an.
    Ich habe auch früher nie Brillen an anderen Menschen wahrgenommen und mich immer gewundert wieso eine schon als Kind bebrillte Freundin so darunter litt. Ich fand das gar nicht störend an ihr.

    Wenn man aber erst mal selbst so ein Ding trägt, ist das anders.

    Gute 20 Jahre wurde ich dann immer kurzsichtiger und bekam immer stärkere Brillen, um in die Ferne zu sehen.
    Ganz neu ist jetzt, daß ich auch schlechter lesen kann und meine Augenärztin mir tatsächlich die erste Gleitsichtbrille verschrieb.
    Ich habe dann lang und breit alls pro und contras abgewogen und mich schließlich dagegen entschieden.
    Jetzt habe ich verschiedene Brillen zum Wechseln.

    LGT

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    1. 'Das war wohl irgendwie ein Missverständnis.'

      Hatte es später dann auch gemerkt. Aber das beschriebene Problem haben ja noch andere.

      'Ich habe dann lang und breit alls pro und contras abgewogen und mich schließlich dagegen entschieden.
      Jetzt habe ich verschiedene Brillen zum Wechseln.'

      Vernünftig. Ich habe vor einem Jahr meine erste Gleitsichtbrille bekommen, weil ich auch im Büro langsam Probleme bekomme, meinen Monitor lesen zu können. Die Umgewöhnung war schwierig. Hat auch nicht wirklich funktioniert. Im Februar bekam ich dann Probleme mit dem rechten Auge; bin zum Augenarzt. Die Gleitsichtbrille wäre zu stark für meine Augen, sagte der. Seither benutze ich die alte Brille wieder.

      Demnächst lasse ich mir dann eine Arbeitsplatzbrille machen. Bin leider noch nicht dazu gekommen. Suche noch einen vertrauenswürdigen Optiker.

      Ich nehme übrigens immer Kassengestelle und unentspiegelte Silikatgläser. Kosten: 19,90 Euro. Ich habe davon gehört, dass ein Optiker einer alten Dame eine Brille für 2500 Euro angedreht hat. Für mich ist das Betrug. Aber die Leute zahlen das ja freiwillig. Für das Geld kann man sich beide Augen lasern lassen.

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