Montag, 9. Februar 2015

Wahltaktik



In Amerika ist wählen einfach. Mehrheitswahlrecht. Eine Stimme. De facto immer nur zwei Parteien.
Man muß also nur zwischen zwei Gomulken entscheiden, welchen man weniger abstoßend findet und fertig. Der Entscheidungsprozess ist allerdings im frühen 21. Jahrhundert fast Makulatur.
Die geisteskranken GOPer haben sich derart radikalisiert, sind dermaßen der Realität entrückt, daß ich gegenwärtig jedem Amerikaner in jedem denkbaren Wahlkreis guten Gewissens empfehle:
„Demokraten ankreuzen und schnell weg.“

In Deutschland ist alles viel komplizierter, weil Parteien eine viel stärkere Bedeutung haben, die 5%-Hürde existiert, weil das Verhältniswahlrecht mehr Parteien generiert und somit Koalitionen erzwingt.
Hier ist Taktik gefragt, denn die wahren Kräfteverhältnisse sind gelegentlich anders, als sie auf den ersten Blick wirken.
Der oberflächliche Blick auf die politische Landschaft zwischen Flensburg und Bodensee zeigt eine übermächtige und unschlagbare Kanzlerin, die gleichzeitig Parteichefin ist. Die zweitstärkste Partei schafft es trotz Regierungsbeteiligung nicht die 20%-Hürde deutlich hinter sich zu lassen, während die CDU locker über 40% kommt.
Betrachtet man die parteipolitische Situation genauer, zeigt sich, daß Merkels antipolitische Dominanz zwar gute zehn Jahre die Macht sicherte, dabei aber die CDU langfristig komplett auslaugen ließ. Die Merkel-CDU ist eine Partei ohne Unterleib. Personell gibt es keine Alternativen und dementsprechend bröckeln Länder und Kommunen weg.
Der Zeitgeist spricht gegen die CDU. Die CDU kann nicht Stadt, sie kann nicht Internet und sie kann nicht locker.
Heute wählt man nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus der Erwartung heraus, wer gewinnt. Man will nicht zu den Verlierern gehören und macht sich von Spins abhängig.
Seit einiger Zeit habe ich täglich Gelegenheit mit einer sehr gebildeten Dame zu sprechen, die zwar liberal ist, aber schon seit 1949 die SPD leidenschaftlich hasst.
Sie wählt immer CDU – bis auf einige Bundestagswahlen, als sie taktisch bedingt der FDP ihre Zweitstimme gab.
Die Hamburger Bürgerschaftswahl in sechs Tagen bereitet ihr Kopfzerbrechen, weil sie sicher ist, daß Olaf Scholz alles falsch macht und an Allem Schuld ist.
Wenn ich sie dezent darauf hinweise, daß er nun wirklich nichts für die Elphie-Planung könne, beendet sie brüsk das Gespräch: Komm, lass uns nicht darüber sprechen; ich will mich nicht aufregen.
Früher hätte sie wie immer CDU gewählt und am Wahlabend das Beste gehofft.
Nun aber sieht sie die Umfragen und kommt ins Grübeln. Scholz, den sie hasst, gelingt so furchtbar viel, daß er nahe der absoluten Mehrheit demoskopiert wird.
Die CDU liegt hingegen bei klar unter 20%. Herr Wersich wird also NICHT Bürgermeister werden; im Gegenteil – durch Scholz‘ Selbstbewußtsein dürfte eine „GroKo“ ausgeschlossen sein, eine Stimme an die CDU ist verschenkt.
Was also tun, wenn man nicht SPD will?
Auf Rot-Gelb hoffen?
Das tun offenbar einige Wähler des rechten Lagers, die nun aus Verzweiflung zur FDP wechseln.
Meistertaktiker Scholz weiß um die Gefahr und schlägt Pflöcke ein

[….] Katja Suding (FDP) buhlt seit Wochen mit allen Mitteln um die Gunst der Genossen – doch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) zeigt ihr die kalte Schulter, begräbt die FDP-Träume von einer rot-gelben Koalition. Angesprochen auf eine sozial-liberale Koalition sagte er der „BamS“: „Das kann ich mir nicht vorstellen.“
Ein Dämpfer für die FDP, die gestern ihren wundersamen Aufstieg in den Umfragen feierte. [….] [Scholz] hatte nicht nur gesagt, dass er sich Rot-Gelb nicht vorstellen kann, und wiederholt, die Grünen zu fragen – er betonte auch: „Und ich halte ein, was ich vor Wahlen verspreche.“ Aus dieser Nummer kommt er so leicht nicht raus.

Was also tun, wenn man rechts ist und keinen SPDler als Bürgermeister sehen will?
Man sieht sich die Zahlen an und überlegt was einigermaßen realistisch als Wahlausgang kommen kann.
Rechnerisch möglich sind SPD pur oder Zweierkoalitionen der SPD mit den Linken, Grünen, der CDU, der FDP oder der AfD.
Linke und AfD scheiden natürlich aus, da Scholz mitten in der Mitte sitzen will.
CDU und FDP schließt der Bürgermeister und SPD-Landeschef mit seinem kraftvollen Machtwort aus. Und Scholzens Glaubwürdigkeit ist sein höchstes Gut. Die letzten vier Jahre hat er haargenau das getan, was er vorher versprochen hatte.
Es dürfte bei ihm also keinerlei Wackeln geben.
Demnach bleibt nur Rot-Grün.

Das ist für mich eine Horrorvorstellung, weil die Hamburger Grünen der unangenehmste Landesverband sind – zusammen mit den Saarländern und Hessen. Absolut unwählbar.
Aber Scholz zielt nicht auf Wähler wie mich (wenn ich denn wählen DÜRFTE). Denn ich finde die Hamburger SPD gut und würde sie ohnehin wählen.
Scholz zielt auf Konservative wie meine CDU-Freundin, die ihn hasst.
Sie mag zwar die SPD nicht, aber noch schlimmer findet sie natürlich die Grünen, die alle in Strickpullis rumlaufen, sich nicht benehmen können und mutwillig die Wirtschaft mit ihrem Ökofirlefanz zerstören.
Für stramm Konservative ist Rot-Grün noch schlimmer als Rot pur.
Und so werden SPD-Hasser mit Hirn dazu gezwungen SPD zu wählen.
Wer aus xenophoben Überlegungen die rechte AfD wählt, bringt damit Rot-Grün ins Amt – also die einzige Konstellation, die noch ausländerfreundlicher als SPD pur wäre.
Das sind die Freuden des Verhältniswahlrechts.

[….] Angesichts von 18 Prozent für die Hamburger CDU fragten sich diese Woche sogar Sozialdemokraten: Womit hat Dietrich Wersich das verdient? Er ist der Mann, der die CDU nach dem Scheitern von Schwarz-Grün wieder aufrichten sollte. Und dabei immerhin eine bessere Figur gemacht hat als der glücklose Christoph Ahlhaus. Die CDU verliert bundesweit seit Jahren in Großstädten. In Hamburg verhindern ein extrem wirtschaftsfreundlicher Kurs der SPD und ein starker Bürgermeister den Erfolg. Die SPD ist hier bis weit ins bürgerliche Lager hinein wählbar, die CDU wird kaum gebraucht. CDU-Wähler mögen denken: Wählen wir SPD, verhindern wir wenigstens Rot-Grün.    Trotz zurzeit 46 Prozent würde sie die absolute Mehrheit verlieren. Auf Koalitionsgespräche mit den Grünen freut sich in der SPD höchstens Olaf Scholz, der verhandelt gern hart und erfolgreich. Siehe Neuordnung der Elbphilharmonie und Große Koalition in Berlin. Ungemütliche Vorstellung für die Grünen. Die SPD wird nicht so leicht zu haben sein wie einst die CDU vor der schwarz-grünen Koalition.
Kleine Parteien entscheidend
Doch ob Rot-Grün oder SPD-Alleinregierung - das hängt vom Abschneiden der beiden kleinen Parteien FDP und AfD ab. Beide stehen in der jüngsten Umfrage von infratest dimap bei 5,5 Prozent - sollte nur eine von beiden scheitern, reicht der SPD für eine absolute Mehrheit ihr Ergebnis von 2011 - und das waren 48,4 Prozent. Andrerseits: Erfolge von AfD und/oder FDP führen fast sicher zu Rot-Grün. Auch wenn die AfD auf ihren Wahlplakaten das Gegenteil behauptet. [….]

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