Dienstag, 18. Juli 2023

Metaphorik

 Die Demokratie stößt nicht nur wegen der offensichtlichen Verblödung großer Teil der Wählerschaft an ihre Grenzen.

Hochproblematisch ist auch die Aufkündigung einer gemeinsam anerkannten Realität. Große Teile des Urnenpöbel sind so in die rechten verschwörungstheoretischen Social-Media-Blasen abgeglitten, daß sie Fakten und wissenschaftlichen Konsens rundherum ablehnen.

[…] Ob Medizin, Physik oder Klimaforschung - nie war der Wissensstand der Welt so gut wie heute. Dennoch leugnen einige Menschen wissenschaftliche Erkenntnisse. […] Die Erde ist eine Kugel. Menschen und Affen haben einen gemeinsamen Vorfahren und teilen mehr als 90 Prozent ihrer DNA. Die Erde erwärmt sich, und menschliche Aktivität ist die Hauptursache dafür.

Alle diese Aussagen haben eines gemeinsam: Sie gelten als wissenschaftlicher Konsens, als gesicherte Erkenntnis - und dennoch erkennt ein nennenswerter Teil der Menschen das nicht an. So glaubt laut einer Umfrage vom März knapp ein Viertel aller Deutschen nicht an den menschengemachten Klimawandel. Kreationisten vor allem in den USA sind überzeugt, dass Gott den Menschen, so wie er ist, geschaffen hat. Und selbst dass die Erde eine Scheibe ist, wird von einigen Menschen als wahr angenommen.  [….]

(Alexander Steininger, 17.07.2023)

Wenn aber Menschen, angefeuert von CDU, FDP, AfD und CSU, die bewußt aus parteitaktischen Überlegungen ebenfalls Lügen verbreiten, Tatsachen allein deshalb für falsch halten, weil sie von Tagesschau, SPIEGEL oder auch der Bundesregierung verbreitet werden, ist eine politische sinnvolle Meinungsbildung unmöglich, weil jede Diskussion unmöglich wird.

In weiten Teilen der Ex-DDR werden Politiker fast jeder Couleur; ob CDU-Kanzlerin, ob SPD-Kanzler, ob Grüner Vizekanzler; mit abscheulichem Nazivokabular niedergebrüllt. Es besteht keinerlei Bereitschaft mehr zuzuhören. Schamgefühl kennen diese Urnen-Neandertaler ohnehin nicht; im Gegenteil, sie sind stolz darauf, nur debile Verschwörungstheorien zu glauben.

Davon konnte sich Außenministerin Baerbock am Wochenende im Chemnitz ein Bild machen.

[.....] Am Mittag rollt Baerbocks Reisebus ins tschechisch-sächsische Grenzland, nach Bärenstein im Erzgebirge. [.....] Auf der deutschen Seiten, in Bärenstein, wird gebrüllt, als die Außenministerin mit ihrem Amtskollegen Jan Lipavský über eine Fußgängerbrücke spaziert.

"Haut ab", "Volksverräter" , Kriegstreiber", "blöde Kuh", "Keiner will euch haben", schreien Demonstranten nach Leibeskräften. Stark Tätowierte schlagen hier Krach, auch ältere Damen mit sorgfältig gelegtem Haar und Anwohner mit Trillerpfeifen. Irgendjemand hält ein Schild hoch: "Grüne an die Ostfront".[.....] Elisabeth Kahl ist eine von ihnen, die brüllt, sie ist 66 und war mal arbeitsmedizinische Assistentin. Jetzt schwenkt sie eine Fahne des sächsischen Königreichs von 1815, Erkennungszeichen auch der rechtsextremistischen Freien Sachsen. Die Baerbock, der Scholz, der Merz, alles Verbrecher, sagt Elisabeth Kahl. "Die geben das Geld mit vollen Händen aus, und es bekommen alle, nur nicht die Deutschen." Die Schulen kaputt, Rentner als Flaschensammler, und diese "Gendermenschen", Kahl wird lauter. "Wir sind als Volk der Souverän. Und der Souverän wird nicht mehr wahrgenommen." Nirgends kämen Leute wie sie in Medien oder Politik noch vor, deshalb schätzt sie die AfD, hat das Zeitunglesen eingestellt, informiert sich bei Gleichgesinnten. Wann hat sie eigentlich angefangen, diese Abwendung vom Staat? Frau Kahl schüttelt den Kopf. "Wir wenden uns nicht von Staat ab, wir engagieren uns."  [.....]

(Constanze von Bullion, 15.04.2023)

Mit so einem dysfunktionalen Volk lässt sich schwer umgehen, wenn Politiker bei 18 großen Wahlen innerhalb von vier Jahren (Landtagswahlen, Europa- und Bundestagswahl) permanent befürchten müssen, abgestraft zu werden.

Spätestens die Bundestagswahl von 1990, Kohl versus Lafontaine, zeigte, daß die Wähler Ehrlichkeit bestrafen und sich stattdessen lieber den ganz offensichtlichen Lügen zuwenden.

Kohl und Merkel regierten genau deswegen jeweils lange 16 Jahre und richteten die Bundesrepublik fast zu Grunde, weil sie es strikt vermieden, dem Urnenpöbel reinen Wein einzuschenken.

Ein großartiges Sinnbild für die Unmöglichkeit in einer durch Social Media verblödeten Demokratie vernünftig zu regieren, stellt der Palace of Westminster, also das britische Parlamentsgebäude dar.

Die zu dem Gebäudekomplex gehörende Westminster Hall, in der der Leichnam Queen Elizabeth II. aufgebahrt wurde, ist bereits 1.000 Jahre alt. Die Gebäude des House of Commons (Unterhaus) und des House of Lords (Oberhaus) wurden ab 1840 im neugotischen Stil errichtet.

Dieses UNESCO-Weltkulturerbe ist weltbekannt und gigantisch:

Die direkt an der Themse gelegene Gebäudefront erstreckt sich über 300m. Dahinter befinden sich mehr als 1.100 Räume mit insgesamt 112 000 Quadratmetern auf über drei Hektar Grundfläche, mehr als hundert Treppenhäuser und 4,8 Kilometer Gänge.

Unglücklicherweise ist der Palast total Schrott. Verschimmelt, moderig, es regnet durch und insbesondere die gemeingefährliche total verworrene Verkabelung ist ein so kontinuierlicher Brandherd, daß allein in den letzten sechs Jahren 44 Brände im Parlamentsgebäude ausbrachen Eine Palastfeuerwehr muss rund um die Uhr patrouillieren und möglichst jede Kabelkokelei rechtzeitig austreten. Die Mehrzahl der Toiletten ist „out of order“ und die noch Geöffneten stinken bestialisch, weil alle Fäkalrohre undicht sind. Wohl fühlen sich nur noch die Myriaden Ratten und Mäuse, die das gewaltige Gewirr bewohnen.

Natürlich gibt es weder funktionierende  Heizung, noch Klimaanlagen, so daß sich die Abgeordneten mit elektrischen Heizlüftern behelfen, die aber aufgrund der hoffnungslos veralteten elektrischen Leitungen eine ständige Brandgefahr bilden; siehe oben.

Damit das Parlamentsgebäude, welches sinnbildlich für die britische Demokratie steht, nicht buchstäblich zusammenbricht, werden zwei Millionen Pfund pro Monat, also 24 Millionen Pfund/28 Millionen Euro im Jahr für Reparaturtrupps ausgegeben, die das Notwendigste irgendwie flicken.

Kein Zweifel, aus ökonomischer Sicht gehört der Schrotthaufen abgerissen und neu gebaut. Aus kulturellen und politischen Überlegungen heraus, geht das natürlich nicht. Helfen kann nur eine Totalsanierung, die immer wieder mal, zuletzt 2018, grundsätzlich vom Unterhaus beschlossen wurde.

[….] Das Problem ist: Zwei Millionen Pfund pro Woche sind irrsinnig viel Geld, aber der Steuerzahler wird nicht jede Woche daran erinnert. Die aktuell vorliegenden Varianten für eine Renovierung dagegen kosten mehrere Milliarden auf einmal.

Möglichkeit eins wäre, alle Abgeordneten und Mitarbeiter ziehen für die Dauer der Restaurierung woandershin, für ungefähr zwölf bis zwanzig Jahre, Kostenpunkt: zwischen sieben und dreizehn Milliarden Pfund. Möglichkeit zwei: Nur ein Teil muss ausziehen, für eine geschätzte Dauer von sechsundzwanzig bis dreiundvierzig Jahren, die Kosten lägen dann irgendwo zwischen neun und neunzehn Milliarden Pfund. Bei Möglichkeit drei würde niemand ausziehen, es würde im laufenden Betrieb renoviert. Geschätzte Dauer: bis zu sechsundsiebzig Jahre. Geschätzte Kosten: bis zu zweiundzwanzig Milliarden Pfund.

Möglichkeit eins wäre also die sinnvollste, aber Möglichkeit drei hat gerade unter älteren Abgeordneten der Konservativen erstaunlich viele Anhänger.  [….]

(Michael Neudecker, 11.07.2023)

Passiert ist aber nie etwas, weil kein Parlamentarier, der wiedergewählt werden will, sich traut, seinen Wählern reinen Wein einzuschenken. Anders als König Ludwig II., ist der parlamentarische Betrieb, nicht in der Lage so eine Entscheidung zu treffen, weil er bei jeder Variante vom Urnenpöbel davon gejagt würde.

In Deutschland wäre es sicherlich nicht besser, wie die Streiterei um des Gebäudeenergiegesetz zeigt.

Die demokratische Lösung, die in der Realität umgesetzt wird, ist also aufgrund des Dysfunktionalität des Wahlsystems, zu warten, bis wie beim letzten großen Feuer im Jahr 1834, als bis auf die Westminster Hall und wenige andere Teile alles abgebrannte.

Welch perfekte Metapher für die westlichen Demokratien.

Xi oder Putin hätten das Problem nicht.

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