Sonntag, 14. August 2022

Auswandern

Natürlich kann ich mich den ganzen Tag über die üblen Zustände in Deutschland aufregen. FDP, Merz. AfD, Sachsen, Modegeschmack, Schlagermove. Da kommt einem schnell mal der Gedanke, irgendwo anders auf der Erde, müsste es sich viel besser leben lassen. Wenn man darüber länger als zehn Sekunden nachdenkt, wird nur zu offensichtlich, daß die vielen Kritikpunkte an den deutschen Zuständen von der genauen Kenntnis des Landes herrühren.

Sobald man sich etwas intensiver mit der Parteipolitik einer anderen Nation beschäftigt, verdüstert sich das Bild schlagartig. Auch wenn ich keinen Funken Patriotismus oder Nationalismus für irgendeine Nation in mir verspüre, muss ich doch konzedieren, in Hamburg mehr Wohlstand, Frieden und Sicherheit, als in den allermeisten anderen Weltgegenden zu erleben.

Wer aus Deutschland auswandern will, weil er nicht irgendwohin, sondern weg will, jammert auf sehr hohem Niveau.

Zudem bin ich grundsätzlich zu einem Langweiler mutiert; ich sitze gern allein in meiner Bude und beschäftige mich geistig mit all den Themen, die mich interessieren.

Eine grandiose Natur mit pittoresken Wanderwegen (zB Yosemite-Nationalpark, Island) oder eine Weltkultur-Metropole (Paris, Amsterdam) wären Verschwendung an mir. Wozu also all mein Hab und Gut umständlich und teuer durch die Welt schleppen?

Es gibt aber grundsätzliche Erwägungen, die mit zunehmenden Alter wichtiger werden. Insbesondere kinderlose Singles wie ich, müssen sich überlegen, wie sie als klapprige Geronten gepflegt werden, wenn sie nicht das Glück haben, zu sterben, bevor sie leidend werden, oder sich rechtzeitig selbst ausschalten.

Es gibt daher deutliche Migrationsströme deutscher Senioren nach Osteuropa oder Thailand. Da sind Pflegekräfte vergleichsweise billig; man wäre mit Altersbezügen aus Deutschland vergleichsweise reich.

Es gibt aber einige Haken an dem Plan. Viele fidele Rentner mit Sonnenaffinität zieht es mit Mitte 60 auf die Balearen oder an die Algarve oder das Ferienhaus in Andalusien. Das stellt sich oft aber als nicht finale Lösung heraus. Ist man gesetzlich versichert und wird mit Mitte 80 immer hilfsbedürftiger, muss man oft zurück nach Deutschland: Wegen der ärztlichen Versorgung und kann sich dann nur noch ein winziges Zimmerchen leisten. Es gilt also so zu planen, daß es der letzte Umzug sein wird.

Für mich erhöhen aber zwei weitere Gründe den Emigrationsdruck. Erstens sind mittlerweile durch diverse Todesfälle meine privaten Verpflichtungen entfallen. Ich muss niemanden mehr versorgen, bin ungebunden. Zweitens war ich schon als kleiner dünner Junge psychrophil veranlagt. Ich konnte ewig im eiskalten Wasser schwimmen und lief bis in den Herbst nackt draußen rum. Meine Oma beobachtete mich beim Spielen und gelegentlich klopfte sie an die Panoramascheibe ihres Gartenzimmers. Das war das Signal für mich, zu ihr zu flitzen, über die Rosenbeete zu ihr auf die Terrasse zu springen. Sie legte dann die Hand auf meinen Rücken und ich sagte lachend „nein, Oma, mir ist überhaupt nicht kalt“.

Als Schüler und Student mochte ich keine Wärme. Inzwischen sind die Temperaturen in Deutschland eine monatelange Qual für mich. Am 20.07.2022 wurden in Hamburg offizielle 40,1°C gemessen. Seit einer Woche habe ich kaum noch geschlafen, weil es jeden Tag über 30°C heiß wird und meine Bude sich kontinuierlich aufheizt.

Ich kenne natürlich a) die Gründe und b) die Aussichten für die nächsten Jahre.

Dagegen hilft nur Umzug in ein modernes Haus mit leistungsstarker Klimaanlage; das wäre aber ein finanzielles und stromverbrauchendes Problem. Oder eben auswandern.

Es wird also Zeit, den Gedanken zu konkretisieren.

Sehr viele Länder, die zweifellos für die meisten Menschen Traumziele sind, fallen für mich weg:

1.) Es kommt nur kühleres Klima als Deutschland in Frage.

2.) Ich spreche leider nur deutsch und englisch fließend, will mich aber unbedingt problemlos mit den Einheimischen verständigen. Ohne das Sprachtalent meiner Mutter geerbt zu haben, muss ich mich also auf französisch, spanisch oder italienisch (da habe ich immerhin Grundlagen) oder eine deutsch-ähnlich Sprache konzentrieren (Niederländisch, schwedisch). Etwas ganz Neues wie finnisch traue ich mir nicht zum, für andere Schriftzeichen bin ich zu faul.

3.) So sehr ich Multikulti-Fan bin und mich über jedes nicht käseweißes Gesicht in Hamburg freue; ich bin mir des weltweiten Rassismus‘ durchaus bewußt und muss zu meiner Schande zugeben, daß ich ungern meinen Lebensabend irgendwo verbringen würde, wo ich optisch immer auffalle.

4.) Nach dem Umstand einer Auswanderung, möchte ich nicht an einem Ort landen, an dem ich mir um Dinge wie Erdbeben, Hochwasser, Hurrikans, Vulkane, Feuersbrünste oder Sturmfluten Sorgen machen muss. Ich hege beispielsweise eine große Liebe zu Holland, aber angesichts weltweit dramatisch steigender Meeresspiegel, will ich nicht auf einem Polder sitzen. Die ständige Atlantik-Brise an den Outerbanks von North Carolina fasziniert mich genau wie die dortige Architektur. Aber die leben in Holzhäusern oder fundamentlosen Konstruktionen, bei denen bloß ein Ständerwerk verputzt und mit Gipsplatten versehen wurde.

Ich würde mir bei jeder Orkan-Saison sorgenvoll in die Hosen machen.

Was bleibt dann eigentlich übrig?

Die politisch sympathischsten Nationen mit für mich akzeptablen Klimazonen sind Kanada und Neuseeland. Die erfüllen viele Bedingungen, Die Sprache wäre kein Problem, mein Teint würde nicht auffallen, es gibt ein gutes Gesundheitssystem.

Nachteil: Da möchten viele Menschen gern leben, daher gibt es strenge Einwanderungsregeln mit Punktesystemen, an denen ich vermutlich schon wegen meines Alter scheitern würde

Da ich über einen USA-Pass verfüge, wäre Amerika eine naheliegende Wahl. Eine der wenigen Möglichkeiten ohne Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung.

Die meisten Bundesstaaten sind aber viel zu heiß, die liberalen kleinen Staaten an der Nordostküste sind extrem teuer und unwettergefährdet. Mein Lieblingsbundesstaat ist Washington, die Natur an der Nordgrenze liebe ich. Aber da wird es neuerdings im Sommer auch unerträglich heiß, Wälder brennen und die Immobilienpreise sind astronomisch. Klimatisch wäre Alaska ideal.

Aber das ist Trumpland, von 2006 bis 2009 regierte Sarah Palin dort als Gouverneurin. Seit 20 Jahren regieren dort Republikaner, beide alaskanischen US-Senatoren sind Republikaner. Seit 1968 stimmte Alaska bei US-Präsidentschaftswahlen immer nur für den Republikaner, 2016 und 2020 siegte Trump haushoch. Natürlich herrschen die Trumpster auch auf Bundesstaatsebene.

Zudem sind die Alaskaner alle bis an die Zähne bewaffnet und den USA steht ein Bürgerkrieg bevor.

Da möchte ich ungern als der einzig Unbewaffnete aus diesem eigenartigen kommunistischen Deutschland dazwischen sitzen.

In Europa wäre abgesehen von Finnland (wegen der Sprache), Skandinavien interessant. Aber die Lebenshaltungskosten sind exorbitant; insbesondere in Norwegen. Und die Scheiß Mückenplage im Sommer! Außerdem haben wir da ein klitzekleines Problem mit Russland. Putin ist schwer genervt vom Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO. Ob es da so schlau ist, noch viel näher an die russische Grenze zu ziehen?

Irland ist schön und (noch) nicht ganz so heiß wie Deutschland, aber da sind die Immobilienpreise gewaltig. Viel günstiger und wohl noch etwas kühler wäre Schottland. Aber nach dem Brexit herrschen im Vereinigten Königreich sehr xenophobe Tories, die Migranten pauschal nach Ruanda ausfliegen lassen.

Mit der britischen Wirtschaft geht es rapide bergab. Ich hätte weder Lust von einem ausländerfeindlichen Mob mit Forken und Mistgabeln gejagt zu werden, noch nach Ostafrika verschleppt zu werden – da ist es mir definitiv zu heiß.

Island wäre ein natürlich ein Traum. Da wird aber die Sprache ein Problem, das Leben dort ist extrem teuer und zudem essen die den ganzen Tag nur gekochten Hammel oder vergammelten Eishai.

Als Vegetarier bekomme ich dort, genau wie in Grönland, ein extremes Ernährungsproblem, weil Gemüse eingeflogen werden muss, was weder finanziell noch ökologisch verantwortungsvoll ist.

Damit kann ich schon die gesamte nördliche Hemisphäre als neue Heimat ausschließen.

Es bleiben also nur noch die kühleren Inseln rund um die Antarktis.

Malvinen, südliche Sandwich-Inseln, südliche Orkneyinseln und Südgeorgien etwa. Französische Süd- und Antarktisgebiete, Heardinseln, McDonaldinseln.

Südgeorgien und die südlichen Sandwichinseln im subantarktischen Südatlantik gehören zu England. Oder zu Argentinien, wenn man in Buenos Aires fragt. Das Wetter gefällt mir, aber da alle diese Inseln unbewohnt sind, dürfte die Infrastruktur für einen faulen und potentiell pflegebedürftigen Rentner mit Appetit auf frisches Gemüse eher suboptimal sein. Ähnliches gilt für die weit entfernten Inseln Amsterdam und Sankt Paul, die Crozetinseln, das Adélieland und das Kerguelen-Archipel; also die Französischen Süd- und Antarktisgebiete (Terres australes et antarctiques françaises, TAAF) im indischen Ozean.

Auf allen Inseln zusammen leben nur zwischen 100-200 Bewohner; alles Antarktisforscher oder Militärs.

Auch die Heardinseln und McDonaldinseln, die heute zu Australien gehören, sind unbewohnt. Dort landeten vor 150 Jahren Robbenfänger und nachdem sie jedes einzelne Tier ausgerottet hatten, zogen sie wieder ab. Menschen; man muss sie einfach lieben.

Es bleiben also tatsächlich nur die Falklandinseln, die Maggie Thatcher 1982 in Europa bekannt machte.

Der wärmste Monat ist der Februar, wenn das Thermometer auf durchschnittlich 9°C klettert. Herrlich. Die 3.000 Bewohner werden nur von der britischen Luftwaffe versorgt. Viel los ist also nicht gerade. Aber man kommt mit englisch durch.

Ich werden also mal nach den Immobilienpreisen der rund 200 Falkland-Inseln googeln.

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