Die Hamburger Morgenpost mag nur ein kleineres, etwas seriöseres Boulevardblatt sein, aber glücklicherweise sind ihre Meinungsartikler allesamt Hellseher und können daher ungeheuer sicher prognostizieren, was Putin wann, warum, unter welchen Umständen tun wird.
Das ist eine feine Sache, während Militärs, Regierungen und Experten aller Fachrichtungen über die besten Strategien grübeln müssen.
Ich bin unglücklicherweise auch nicht klug genug, um klar die Zukunft der Ukraine und Russlands vor mir zu sehen. Anders als die Hamburger Morgenpost, die einheitlich und vehement auf Hofreiter-Linie argumentiert, viel schneller, viel mehr deutschen Waffen in die Ukraine schaffen will, höhnisch über die angebliche Zögerlichkeit der Ampel herzieht und bedingungslos zu Andrij Melnyk steht.
Wenigstens die Mopo-Hobbyautoren aus der Lokalredaktion, die sonst über entlaufene Katzen und das Liebes-Aus zwischen Marc Terenzi und Jenny Elvers berichten, haben den klaren Durchblick.
(…) Die Feuilletonisten und die Verfasser offener Briefe an die Bundesregierung können sich aufgrund schweren Hinkens auch nicht auf den passenden Weltkriegsvergleich einigen: Erinnert die Situation eher an den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, als allgemeine Begeisterung und übergroße Bereitschaft, sich an Konflikten außerhalb der Landesgrenzen zu beteiligen zu Millionen Toten führten? Oder passt eher der Vergleich mit 1939, dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, als es genau umgekehrt war, und die mangelnde Bereitschaft vieler Europäer, sich rechtzeitig Hitler entschieden entgegen zu stellen und sich kriegerisch in anderen Ländern zu engagieren, dazu führte, daß Deutschland immer weiter ging und schließlich über 60 Millionen Tote und einen zerstörten Kontinent hinterließ?
Ist Putin so hitzköpfig, daß er militärisch in die Enge getrieben und von einem entschlossenen Westen aufgehalten, neroesk mit seinem Untergang alles mitreißt und Atombomben abschießen lässt?
Ist Putin so eiskalt, daß er kleine Atombomben oder andere Massenvernichtungsmittel gegen die Ukraine/Moldau einsetzt, wenn er eben nicht von einem entschlossenen Westen militärisch aufgehalten wird?
Die Argumentationslinien sind kompliziert in so einer Gemengelage. Es ist einfacher, die Ungereimtheiten in den Argumenten der Gegner herauszustellen, als stringent die eigenen Argumente vorzulegen.
Müssen wir jetzt dringend, ganz schnell, viele Deutsche Panzer in die Ostukraine schicken, weil nur so Putins gewaltige Militärmaschine daran gehindert werden kann auch in Polen einzumarschieren?
Oder handelt es sich bei Putins Wunderwaffen eher um Potemkinsche Truppen, die von ukrainischen Zivilisten mit Traktoren vernichtet werden können?
Kommt die russische Armee eher nach Berlin, wenn sie sich gerade im Zuge der Feierlichkeiten des Sieges über Hitlerdeutschland über westliche Demütigungen und Nato-Engagement ärgert?
Oder hatte die russische Armee das nie vor, macht es aber, weil die NATO so viel Rücksicht nimmt, sich in der Ukraine zurückhält und das in Moskau als Schwäche gedeutet wird? (…)
(Maximal-Whataboutism, 07.05.2022)
Der Rigorismus der Hofreiter/Melnyk-Fraktion ist aber nicht nur absurd, weil er das Ende des Krieges schon kennt; nämlich daß der angeblich so „irre“ Putin nach ein paar Jahren der zermürbenden Erfahrung mit den tapfer kämpfenden Ukrainern, rational einsehen würde, sich verzettelt zu haben, um dann für Verhandlungen bereit zu sein.
Absurd ist aber meiner Ansicht auch, das Verhalten des Westens über Jahre zu extrapolieren. Ich hingegen halte es für wahrscheinlicher, daß die Russen unter dem Trommelfeuer der Kreml-Propaganda noch jahrelange drastische Entbehrungen aushalten, als Westeuropa.
In Deutschland haben wir bisher im Alltag noch kaum merkbare Einschränkungen – im Vergleich zu Russland. Die Benzinpreise sind raufgegangen, man sieht ab und zu Autos mit der UA-Kennung auf den Straßen und das Sonnenblumenöl ist überall ausverkauft.
Schon das führt aber zu innenpolitischen Verwerfungen und schweren parteipolitischen Gefechten über die Frage, wie und ob man den Pendlern an der Tankstelle unter die Arme greift. Laut Umfragen ist jetzt schon die Hälfte der Deutschen dafür, keine schweren Waffen gen Osten zu schicken. Das ist insofern schlecht, weil CDU, CSU, Grüne, FDP und SPD im Bundestag für die Lieferung schwerer Waffen sind und damit 50% der Bürger nur noch von Linken und AfD vertreten werden. Darunter werden aber viele sein, die genau mit diesen beiden Parteien, oder mindestens einer von ihnen, gar nichts zu tun haben wollen.
Schon jetzt haben wir einen 20%-Sumpf von Deutschen, die ins Covidioten-Leerdenker-Pegidisten-Seuchenfreunde-Putinisten-Milieu abgerutscht sind und nicht mehr von seriösen Informationen erreicht werden. Das können noch viel mehr werden, wenn sich so viele nicht mehr von der ganz großen Koalition der „Altparteien“ vertreten fühlen.
Zudem sind die Deutschen mental nur für eine Krise geeicht. Mehr halten sie nicht aus, dann beginnt das große Verdrängen.
„Corona ist vorbei“, niemand trägt im Supermarkt noch Masken. Das ist aber nicht etwa so, weil die Infektionszahlen drastisch sinken würden, oder die Impfquote endlich ausreichend hoch wäre. Nein, die Fakten erfordern weiterhin Maskenpflicht, aber nun haben die tumben Teutonen die Ukraine im Kopf und in die kleinen Hirne passt einfach nicht mehr rein; deswegen wurde die Pandemie einfach rausgeworfen. Putin ist das Kuckucksei in unserem Nest zwischen die Ohren. Kaum ausgeschlüpft, wirft er die anderen Nestbewohner über den Rand, um zukünftig ganz allein alle Zuwendung zu bekommen.
Deutschland war 20 Jahren intensiv militärisch in Afghanistan engagiert. 16 Jahre lang schickten CDU/CSU-Bundesverteidigungsminister Soldaten und Ausrüstungen an den Hindukusch.
Na gut, vielleicht würde man doch nicht die Demokratie einführen können, aber es ginge schließlich um die Menschenrechte, die Frauen, die selbstbestimmter leben könnten, die Mädchen, die erstmals zur Schule gehen könnten. Daher wäre der Afghanistan eben nicht umsonst und wichtige humanitäre Ziele erreicht.
Und nun? Wenige Monate später ist auch das komplett aus den deutschen Hirnen gelöscht. Die Taliban sind voll durchmarschiert, haben ihr Schreckensregime wieder eingeführt, zwingen jede Frau in die Burka, schariamorden durch die Provinzen und verbieten Mädchen in die Schule zu gehen.
Der einzige Unterschied zu vor 20 Jahren: Uns ist es scheißegal, was mit den Mädchen geschieht.
[….] Das vergessene Land: Die Taliban berauben die Frauen wieder systematisch ihrer Rechte, sogar die Burka ist wieder Pflicht [….] Im vergangenen Sommer, haben die Taliban Kabul wieder eingenommen. Eine unfähige afghanische Regierung und ein an seiner Hybris gescheiterter Westen ermöglichten ihnen den Weg zurück an die Macht. Der Präsident floh, in seinem Palast präsentierten nun die Vollbärtigen stolz ihre Kalaschnikows. Ein Bild des Schreckens.
Der Einsatz des Westens steht im Lehrbuch für fehlgeschlagene Interventionen an besonders prominenter Stelle. Am Ende verweisen die Besiegten noch kleinlaut auf die unter ihnen erreichten Fortschritte für Frauen und Mädchen, die arbeiten und zur Schule gehen dürfen. Doch einige Monate später ist klar: Die Taliban haben die Uhren längst wieder zurückgedreht.
Die Taliban schließen erneut Frauen aus dem öffentlichen Leben aus. Afghaninnen dürfen nicht mehr allein reisen, nicht den Kabuler Zoo besuchen, ältere Mädchen in vielen Teilen des Landes nicht in die Schule gehen. Nach einer Reihe frauenfeindlicher Dekrete haben die Taliban nun ein Burka-Gebot erlassen und belegen damit erneut, wie grundlegend sie das Selbstbestimmungsrecht für Frauen missachten. Dieser Schritt hat die längst vorherrschende Afghanistan-Apathie im Westen wenigstens für einen Augenblick unterbrochen und ein wenig Kritik nach sich gezogen. Aber mehr als geißeln können und wollen die Westler auch nicht mehr. Afghanistan, das steht nicht nur für eine peinliche Niederlage. Es gerät auch in Vergessenheit. Das Land untersteht jetzt erneut Männern, die sich militärisch und auch diplomatisch geschickt an die Macht zurückgebracht haben, die aber gesellschaftspolitisch in der Vergangenheit verharren. Die oberste Maxime der Taliban: Die eigenen Reihen schließen, die religiösen Fanatiker zufriedenstellen. Besonders bitter ist das für die Frauen und Mädchen, die das Land nicht verlassen können - die Fortschritte der vergangenen beiden Jahrzehnte werden ihnen nun einfach wieder weggenommen. [….]
So könnte es bei der Ukraine auch laufen. Wenn 2024 immer noch Krieg herrscht und die Deutschen frieren müssen, werden sie ihre Solidarität mit dem angegriffenen Volk längst vergessen haben.
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