Sonntag, 24. April 2022

Nationalpauschalverurteilung

Heute hätte die EU endgültig untergehen können.

[…] Der Amtsinhaber kommt laut Prognose auf 58,8 Prozent der Stimmen. Herausforderin Le Pen erhält demnach lediglich 41,2 Prozent - und blickt schon auf die Parlamentswahl im Juni.  [….]

(SZ Wahlblog, 24.04.2022)

Natürlich bin ich äußert erleichtert über Marcons Sieg, aber „ich tanze“ nicht, wie Frau Esken, denn ich bin noch entsetzter von den über 40% für die Nazis.

Ein Drittel der Franzosen konnte sich angesichts einer von Putin bezahlten rechtsextremen EU-Zerstörerin, noch nicht mal aufraffen überhaupt wählen zu gehen. Was für ein Armutszeugnis für die zentral in Europa gelegene Kulturnation: Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten mochten gegen Le Pen stimmen.

Wie beschissen sind die Franzosen eigentlich?

Das Ergebnis ähnelt ein wenig der US-Präsidentenwahl von 2020. Ja, Trump unterlag, aber weit weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten konnten sich aufraffen gegen den extrem korrupten, verlogenen Sexisten und Rassisten Trump zu stimmen.

Wie beschissen sind die Amerikaner eigentlich?

Bei der britischen Unterhauswahl am 12.12.2019 fuhren Johnsons Tories einen Erdrutschsieg ein und bekamen (mit 43,6% der absoluten Stimmen) 365 von 650 Sitzen und damit satte 56% im Parlament. Für einen skandalösen gewohnheitsmäßigen Lügner, der das Königreich gleich in mehrfacher Hinsicht in eine Katastrophe geführt hatte.

Wie beschissen sind die Engländer eigentlich?

Der rechtsextreme Antisemit Viktor Orbán hatte in Ungarn die Pressefreiheit und unabhängige Justiz abgeschafft. Bei der Parlamentswahl am 03.04.2022 erhielt seine faschistische Fidesz-Partei 54,1% und sicherte sich damit sagenhafte 135 von 199 Sitzen, also eine 68%-Mehrheit im Parlament.

Wie beschissen sind die Ungarn eigentlich?

Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die faschistische AfD mit 25,7% stärkste Partei in Sachsen und gewann zehn von 16 Wahlkreisen direkt.

Wie beschissen sind die Sachsen eigentlich?

Aber es gibt eben nicht den einen typischen homogenen Amerikaner/Franzosen/Sachsen, der zu einem großen Teil Scheiße ist.

Wenn jemand von „der Russe“ oder „der Franzose“ spricht, kann man gleich aufhören zuzuhören.  Nationen sind heutzutage heterogener denn je. Es gibt in den USA die hinlänglich bekannten wissenschaftsnegierenden, mit Waffen fuchtelnden, pseudofrommen, rassistischen, homophoben, intellektuell minderbemittelten, geistig verwahrlosten Trump-Fans. Daneben gibt es aber auch eine außerordentlich diverse und insgesamt noch größere Gruppe von Amerikanern, die von diesen Landsleuten so abgestoßen ist, daß sie konsequent den Kontakt mit ihnen meidet.

Eine Hälfte der US-Amerikaner sieht in der anderen Hälfte einen echten Feind.

Ich behaupte, Nationen sind heute weniger denn je mit pauschalen Assoziationen zu versehen.  Ein großer Teil befindet sich in Opposition zur eigenen Nationalität und ein weiter großer Teil verharrt in innerer Emigration, interessiert sich nicht für den Staat, kennt die Minister gar nicht, partizipiert nicht an Wahlen.

Ein heißer Krieg kann offensichtlich immer noch diese intranationale Spreizung sehr schnell überdecken. Nach dem 24.02.2022 stehen die meisten Ukrainer fest zu ihrem Präsidenten. Selbst der bitter mit ihm verfeindete Wahlgegner und Vorgänger Poroschenko erklärt öffentlich seine absolute Unterstützung für Selenskyj.  Dieses nationale Zusammenrücken im Licht einer gewaltigen tödlichen externen Bedrohung ist sicherlich emotional verständlich.

Aber die damit verbundenen Pauschalisierungen bleiben falsch.

Botschafter Melnyk ist dafür ein besonders unangenehmes Beispiel, weil er sich nicht nur gegen die russische Invasion, gegen die angreifende Armee, gegen den Kreml oder gegen Wladimir Putin wendet, sondern immer wieder betont, jeden einzelnen Russen, überhaupt alles Russische zu hassen.

Und ja, ich lege nicht die Hand dafür ins Feuer, daß ich als Ukrainer, wenn russische Bomben über mir einschlagen, nicht auch so denken würde. Aber falsch bleibt es dennoch, alle Russen als gleich anzusehen und jeden einzelnen zu hassen.

[…] "Alle Russen sind Feinde", sagt der ukrainische Botschafter heute, was auch bedeutet: Alle Russen sind schuld. 146 Millionen Feinde, so viele Menschen leben in Russland, sind eine ganze Menge. Vor dem Krieg hätte man eine Alle-sind-Aussage auf ihren Rassismusgehalt geprüft, weil Alle-sind-Behauptungen zu den grundlegenden Argumentationsmustern der diskriminierenden Ausgrenzung, in schlimmeren Fällen: der Dehumanisierung, der Entmenschlichung von kleineren und größeren Gruppen gehören. (Man kann das gut an Putins Tiraden über den "wahren" Charakter der Ukrainer sehen.) Seit dem Beginn des Krieges aber sind viele Menschen in Deutschland dazu bereit, manche Alle-sind-Aussagen mit Verständnis hinzunehmen - auch weil die eigene Ohnmacht und der Verdacht, durch die Gasheizung zu Hause selbst den Krieg Putins zu finanzieren, ein schlechtes Gefühl, wenn nicht sogar ein schlechtes Gewissen verursachen. Vielleicht gehört man ja selbst zu den Schuldigen? Also, "wir" alle? […]

(Kurt Kister, 17.04.2022)

Iryna Tybinka, die Ukrainische Konsulin in Hamburg – und man sieht jetzt sehr viele Autos mit UA-Kennzeichen in Hamburg – ist ebenfalls emotional außerordentlich aufgewühlt. Wer würde es ihr verdenken?

Aber zu negieren, daß es sowjetische Russen waren, die deutsche KZs befreiten, während heute noch in Kiew verehrte ukrainische SS-Einheiten den Deutschen eilfertig dabei halfen, Juden umzubringen, ist absurd.

Sie vergreift sich gewaltig im Ton, wenn sie pöbelnd eine Einladung zum 77. Jahrestag des Kriegsendes ausschlägt, weil gewagt wurde, überhaupt Stimmen aus Russland dazu zu hören.

[….] Die Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat wegen des Kriegs in der Ukraine keine offiziellen Vertreter aus Russland und Belarus zum 77. Jahrestag des Kriegsendes eingeladen. Die ukrainische Generalkonsulin begrüßt das – übt aber dennoch heftige Kritik an der Gedenkfeier.  Nach scharfem Protest des ukrainischen Generalkonsulats in Hamburg hat die KZ-Gedenkstätte Neuengamme das Programm einer Veranstaltung zum 77. Jahrestag des Kriegsendes geändert. Generalkonsulin Iryna Tybinka hatte der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen vorgeworfen, weder Taktgefühl noch Einfühlungsvermögen im Zusammenhang mit dem von Russland geführten Krieg zu haben. Sie kritisierte insbesondere, dass das Programm für den 3. Mai auch einen Beitrag mit „Stimmen aus der ukrainischen/russischen Zivilgesellschaft“ vorgesehen hatte. [….]

(Mopo, 24.04.2022)

Bei der Befreiung der Konzentrationslager und der Befreiung vom deutschen Faschismus wurden 25 Millionen Sowjet-Bürger getötet; darunter auch ukrainische Sowjets. Und das darf man 77 Jahre später durchaus auch erwähnen, Frau Tybinka.

Natürlich sind die Russen scheiße, weil sie offenbar mehrheitlich Putin unterstützen. Aber das ist erstens bei der massiven Propaganda nicht erstaunlich und zweitens sind es eben nicht die, sondern viele Russen.

Millionen mutige Russen stellen sich auch dem Krieg entgegen.

Der russische Tennis-Weltranglisten-Achte Andrej Rublew hatte beim Turnier in Dubai, das er gewann, »No War Please« auf eine Kameralinse geschrieben, spricht sich klar gegen den Ukraine-Krieg aus und kündigte an, in Wimbledon gewonnenes Preisgeld zu 100% für humanitäre Zwecke zu spenden. Dennoch wurden pauschal alle Russen und Belarussen vom Grand Slam Turnier 2022 in Wimbledon ausgeladen, einfach weil sie zufällig Russen sind.

Das ist antirussische pauschale gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und klar abzulehnen.

Andrij Melnyk bepöbelte den Bundespräsidenten, weil er es gewagte hatte zu einem Friedenskonzert zu laden, bei dem Russen und Ukrainer gemeinsam spielte. Er wolle mit russischer Musik nichts zu tun haben.                                                            

[….] Musiker aus Russland, der Ukraine und anderen Ländern setzen ein eindrucksvolles Zeichen gegen den Krieg. Mit seiner Absage zeigt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, dass er die Bedeutung der Kultur nicht verstanden hat. Es ist eine tolle Idee in Zeiten des Krieges: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte am Sonntagvormittag zum Solidaritätskonzert der Berliner Philharmoniker geladen. "Für Freiheit und Frieden" lautete das Motto der Veranstaltung, ukrainische, deutsche, russische, belarussische Musiker sendeten ein gemeinsames Zeichen gegen die russische Aggression. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk war ins Schloss Bellevue eingeladen. Doch der lehnte die Einladung brüsk ab. [….]

(Carsten Heidböhmer, 27.03.2022)

Ich bin nicht bereit, mich der von Melnyk, Selenskyj und Typinka oktroyierten generellen Russenverachtung zu beugen.

Selbstverständlich verurteile ich Putins Angriff auf das Schärfste. Und ich ärgere mich über die Russen. Aber ich liebe und bewundere auch viele einzelne Russen, adoriere russische Literatur, Musik, Akrobatik, Tanz und vieles andere mehr.

Natürlich finde ich die Amerikaner zum Kotzen, weil sie immer noch an Trump hängen und Bidens Demokraten höchstwahrscheinlich im Herbst abstrafen werden. Aber deswegen gibt es dennoch viele einzelne grandiose und intellektuelle Amerikaner, großartige Filmschaffende, Musiker und Künstler.

Und heute verachte ich die Franzosen, weil sie zu 41% Marine Le Pen wählten.

Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Frankreich wunderschön ist, großartige Menschen hervorbringt und ohne französischen Käse kann ich sowieso nicht leben.

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