Freitags ist mein Einkaufstag. Da habe ich immer Gelegenheit mit Hinz und Kunz zu sprechen. Es war heute relativ unerfreulich. Alle reden über den Krieg in der Ukraine (ich auch) und genauso schnell wie 82 Millionen Menschen in diesem Land Bundestrainer und Virologen werden können, sind sie nun auch einmal Geostrategen und Militärexperten, verbreiten dabei mit großer Selbstsicherheit Prognosen. Dabei kommen aber eklatante Wissenslücken zu Vorscheinen. Kaum einer weiß offensichtlich, welche Länder wann NATO-Mitglieder wurden.
Noch mal zum Mitschreiben: Die drei baltischen Republiken, Polen und Norwegen sind in der NATO. Ebenso Albanien, Kroatien und Montenegro. Es ist äußerst schwer vorstellbar, daß Russland eins dieser Länder angreifen könnte, denn dann gälte Artikel 5, die USA wären involviert, Atombomben, Weltkrieg, Planet aus.
Finnland, Schweden, die Ukraine und die Republik Moldau sind aber wie Österreich oder die Schweiz nie dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis beigetreten. Diese Staaten können schon etwas weniger sicher sein, weil die NATO nicht eingreifen müsste und mE auch nicht wollte.
Erstaunt hörte ich aber auch, man wisse schon seit dem Super-GAU von Tschernobyl wie Putin lüge, weil er damals alles vertuscht hätte. Nur der Form halber: Tschernobyl explodierte 1986, als noch die Sowjetunion existierte. Putin war zu der Zeit KGB-Hauptmann in Sachsen und überwachte Besuchergruppen des in Dresden ansässigen Kombinats Robotron.
Diese hanebüchenen Fehlinformationen erklären, wie es möglich ist, daß die Hälfte der US-Amerikaner Putin liebt und stattdessen ihren eigen Präsidenten Joe Biden hasst.
[….] Ukraine-Debatte bei US-Republikanern:
Biden böse, Putin gut! Trotz Ukrainekrieg zeigen sich Donald Trump und andere Republikaner beeindruckt von Wladimir Putin – sie schmähen US-Präsident Joe Biden als »nutzlosen, senilen Mann«. Die Kremlpropaganda greift das gern auf. […..]
Wenn in einem Land mit freier Presse, freiem Zugang zum Internet, schon so ein Propaganda-Schaden eintritt, weil die Hälfte der TV- und Radiosender rechte Verschwörungstheorien verbreiten, kann man sich ausmalen, wie indoktriniert die Russen sind, nachdem es de facto gar keine freie Presse mehr gibt und alle TV-Sender Putin lobpreisen.
Die Lügen-Propaganda, Verschwörungstheorien und Fehlinformationen, die sich in Deutschland ausbreiten, kennen wir schon lange (Stichwort „Covidioten“). Das ist deswegen so ärgerlich, weil die seriöse Presse in Deutschland gerade eine Sternstunde erlebt. Mit brillanten Analysen, ausführlichen Berichten und kritischen Kommentaren, die Hintergründe des Ukrainekonfliktes und das aktuelle Kriegsgeschehen höchst informativ begleitet.
Süddeutsche Zeitung und SPIEGEL nenne ich in diesem Fall
zuerst, aber neben den usual suspects, bin ich zum Beispiel auch höchst
beeindruckt von der Mikroredaktion des Greifswalder Printmagazins „Katapult“,
die (u.a. auf Instagram) laufend das Geschehen und alle Hintergründe in
einfachen Graphiken zusammenstellt. Hier nur wenige Beispiele von Dutzenden.
Man kann sich so leicht seriös und faktisch richtig informieren. Ob nun ausführlich mit hintergründigen Artikel in der SZ, oder für die schnellen, nicht ans lange Lesen gewöhnten Meta-User; alles wird angeboten. Warum gucken nur dennoch so viele Menschen lieber die reißerische PR auf BLÖD-TV?
Ich gehe weitgehend konform mit den gestrigen Überlegungen Maximilian Popps.
Jetzt wird sich sehr viel ändern in Deutschland.
[….] Die europäische Ordnung, die dem Kontinent nach dem Ende des Kalten Kriegs drei Dekaden relativer Sicherheit und Stabilität beschert hat, zerbricht. Eine neue, gefährliche Zeit beginnt. Und die Frage ist, ob Europa darauf hinreichend vorbereitet ist. Die Europäer haben sich bequem in der alten Ordnung eingerichtet. Sie haben in Sonntagsreden Demokratie und Menschenrechte hochgehalten und gleichzeitig Geschäfte mit Diktaturen wie Russland oder China gemacht. Für Sicherheit sorgten im Zweifelsfall die Amerikaner. Nun gilt es, sich von einigen lieb gewonnenen Lebenslügen zu verabschieden. […..]
Dazu ergänzend möchte ich Hubert Wetzel zitieren, der darauf hinweist, daß die USA auch gar nicht mehr die Kraft haben, Europa zu verteidigen; selbst wenn sie wollten. Und ob sie bereit wären, darf unter republikanischer Führung sehr bezweifelt werden. Die Republikaner liegen in allen Umfragen vorn für die US-Wahlen im November 2022. JFK, Ronald Reagan und auch Bill Clinton hätten ohne zu zögern, europäische NATO-Staaten gegen russische Angriffe verteidigt. Biden täte das vielleicht. Trump sicher nicht.
[….] Der politische Spielraum des US-Präsidenten ist heute sehr viel kleiner. Amerika hat weder das Geld noch den Willen, auf ewig die Ordnungsmacht in Europa zu sein. Das Land ist auch in der Frage, wer der Feind ist, längst nicht mehr geeint. Die Trumpisten unter den Republikanern, die in der Partei den Ton angeben, hassen Biden und die Demokraten mehr, als sie Putin fürchten. Sie unterstützen inzwischen offen den Autokraten im Kreml. Wäre Putin vor zwei Jahren in der Ukraine einmarschiert, hätte der damalige US-Präsident Donald Trump ihm vermutlich per Tweet zum gelungenen Überfall gratuliert. Die Europäer müssen sich dessen bewusst sein. Im Moment haben sie im Weißen Haus einen Transatlantiker als Partner, der die Verteidigung der Nato für eine "heilige Pflicht" hält. Aber das kann sich in wenigen Jahren ändern. So gesehen, ist das, was derzeit in der Ukraine passiert, vielleicht nur ein Vorgeschmack - darauf, wie es ist, wenn Amerika nicht mehr den Frieden in Europa garantiert. [….]
Es ist verrückt, wie sich wieder einmal die kontra-parteipolitische Politik der Bundesregierungen bestätigt.
Der konservative Helmut Kohl, der privat SS-Hilfsvereine unterstützte, war es, der die verhasste Oder-Neiße-Linie anerkannte und zusammen mit der FDP den Spitzensteuersatz auf sagenhafte 56% anhob.
Die friedensbewegte soziale rotgrüne Bundesregierung ab 1998 gab ihr Placet zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Europa, senkte die Spitzensteuer drastisch ab und verschlankte das Sozialsystem deutlich.
Die konservative CDU-Frau Merkel schlachtete ebenfalls gleich mehrere heilige Kühe ihrer Partei. Sie setzte den Atomausstieg durch, schaffte die Wehrpflicht ab und in ihre Amtszeit fiel auch die Ehe für alle.
Und nun ist die Ampel mit starken Grünen, die ganz offensichtlich wieder Säbelrasseln lernen muß und drastisch aufrüsten wird.
Putin und die sagenhafte Naivität des Westens machen es notwendig.
[….] Der Angriffskrieg auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wird in die Geschichte eingehen als Wendepunkt der Nachkriegsordnung von 1945. Mit Ausnahme der friedlichen Revolutionen von 1989 hat dieser Kontinent keinen so gravierenden Eingriff in seine Ordnung, keine so gefährliche Herausforderung für seine Lebensgrundlage erlebt. [….] Der Überfall auf die Ukraine muss deswegen mit größtem Ernst als Auftakt einer viel langfristigeren, möglicherweise über Jahre angelegten Kampagne zur Zerschlagung der europäischen Stabilität betrachtet werden. Putins ultimatives Ziel, das hat er in seiner Kriegseröffnungsrede klargemacht, ist die Vertreibung der USA aus dem europäischen Mächtegleichgewicht. Putin will ein schwaches, zerschlagenes Europa, das von Russland manipuliert werden kann. Er will das Europa des Wiener Kongresses, in dem Grenzen neu gezogen werden und Macht neu verteilt wird - allein, dass es nun Russland ist, das in zaristischer Größe aufersteht. [….] Dies bedeutet, dass neben der Ukraine alle früheren Staaten des Warschauer Pakts in ihrer Souveränität bedroht sind. Putin wird die Forderung nach einem Rückzug der Nato aus diesen Staaten nicht aus seinem Repertoire streichen, er wird dies zu erzwingen versuchen - mit Mitteln "wie Sie sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben".[….]
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