Es stimmt schon, was Kolumnisten in den Wochenend-Feuilletons
gern schreiben:
Während sich die gesamte Wahlaufmerksamkeit auf Laschet und Baerbock konzentriert,
findet die SPD nicht statt.
Für mehr als ein Duell reicht die Öffentlichkeits-Hirnkapazität nicht.
Und so suchen wir nun eine Merkel 2.0, für die sich insbesondere Frau Baerbock qualifiziert hat, weil sie in ihrem Leben niemals irgendwo aneckte, konsequent klare Aussagen vermeidet, sich bei allen umstrittenen Bundestagsabstimmungen enthält.
Exemplarisch steht dafür ihre zutiefst erbärmliche Haltung zur Religion.
„Ich bin nicht gläubig, aber trotzdem in der Kirche, weil mir die Idee des Miteinanders extrem wichtig ist.“
(Annalena Baerbock, April 2021)
Auch in dieser grundlegenden Frage, entscheidet sie sich dafür möglichst niemand vor den Kopf zu stoßen. Meiner Ansicht nach ist das noch verwerflicher als tiefe Frömmigkeit, die man mit einer neurologischen Inselverarmung oder einer tiefen kulturell-psychologischen Prägung erklären kann. So ein Fall ist Andrea Nahles. Sie kann offensichtlich nichts für ihren kindlichen Glauben und zeigt seit 30 Jahren immer wieder, daß ihr Verstand nicht ausreicht, um ihre Irrtümer zu erkennen. Legendär ihre begeisterten standing ovations nach Ratzingers homophober Bundestagsrede von 2011, als er das theologische Konstrukt des „Naturrechts“ wider die Modernität (zB LGBTI-Rechte) anführte und Nahles anschließend in sagenhafter Unkenntnis aller philosophischen und theologischen Konzepte, das katholische Naturrecht mit „Naturschutz“ im ökologischen Sinne verwechselte. Arme Andrea. So ein schlichtes Gemüt kann sich kaum von den geistigen Fesseln des Katholizismus befreien. Ich bedauere sie dafür.
Wer aber wie Baerbock intellektuell in der Lage ist, nicht an das biblische Märchenbuch zu glaube, das Sklaverei, Frauenunterdrückung, Homophobie, Antisemitismus und die Tötung Ungläubiger postuliert, aber dennoch diese Ideologie wider besseres Wissens durch Mitgliedschaft finanziell unterstützt, verdient Verachtung.
Besonders ärgerlich, daß die mögliche nächste Kanzlerin ausgerechnet die exkludierende Idee des Christentums, die ihren Mitgliedern ein „wir sind besser als die“ einpflegt, so daß es immer wieder zu schwerer Gewalt gegen Anders- und Ungläubige kommt – und nichts anderes waren die letzten 2.000 Jahre Christentum – als „Idee des Miteinanders“ preist.
Mit dem tiefgläubigen Laschet und seinem homophoben erzkatholischen Opus-Dei-Mastermind Liminiski würde eine dehnbare Baerbock in einer grünschwarzen Kanzlerkoalition harmonieren.
In so einer Konstellation wünsche ich mir natürlich umso mehr eine moderne aufgeklärte SPD von 1998, unter deren Ministern viele ohne den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ eingeschworen wurden – vornweg Kanzler und Vizekanzler.
Schröders Staatsminister Rolf Schwanitz wurde zu einer Ikone der Konfessionsfreien. Er bezeichnet sich selbst als einen “leidenschaftlichen, überzeugten Atheisten“ und streitet seit elf Jahren für die Gründung eines Arbeitskreises „Laizistinnen und Laizisten in der SPD“.
[…..] Also ich finde drei Dinge ganz zentral und wichtig. Das eine betrifft – ja, schon seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts – aus dem Staat gekommene Zahlungen, die der Allgemeinheit obliegen, das sind die Dotationen, wo Bischofsgehälter quasi vom allgemeinen Steuerbürger bezahlt werden. Ich glaube, das ist von vorgestern und muss geändert werden. Da gibt es auch einen Verfassungsauftrag, der seit 90 Jahren unerfüllt ist. Das Zweite, was mir sehr am Herzen liegt, ist die Schlechterstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im kirchlichen Bereich. Wir haben dort Sonderrechte, dass das Mitbestimmungsrecht nicht gilt, wir haben dort Sonderrechte, was Tarifsituationen betrifft. Ich glaube, dass die Kirchen dieselben Tendenzschutzregelungen brauchen wie andere Bereiche auch, aber nicht mehr. Und dann gibt es natürlich viele, viele weitere Einzelfragen, wo der Staat ja eigentlich seine Neutralität zu Religions- und Glaubensgemeinschaften infrage stellt, wenn also beispielsweise Kreuze in öffentlichen Gebäuden hängen, wenn in Gerichtssälen oder in Schulen eine derartige Präsenz von einseitigen Glaubenssymbolen da ist – auch darüber muss geredet werden. […..] Mir geht es nicht um die Abschaffung der Religion oder der Religionsgemeinschaften. Das ist aus meiner Sicht gar nicht das Thema, sondern es geht um die Frage, ob der Staat Recht daran tut, einen ungleichen Abstand zu einzelnen Religionsgemeinschaften zu haben, und einzelne Religionsgemeinschaften in einer besonderen Art und Weise zu privilegieren. Da beginnt das Problem, und da beginnt übrigens auch Ausgrenzung. Wenn wir also beispielsweise in der Integrationsdebatte Töne hören wie, jemand, der eben das christliche Menschenbild nicht präferiert, habe in Deutschland nichts zu suchen – dann entstehen damit natürlich neue Ausgrenzungen. Und deswegen müssen wir über das Kirche-und-Staat-Verhältnis in einem Deutschland reden, das sich glaubensseitig viel pluraler entwickelt hat, als es noch vor 50, 60 Jahren war. […..]
(Staatssekretär a.D. Schwanitz SPD, 2010)
Diese Positionen haben mit den frommen und CDU-affinen Grünen von 2021 natürlich keine Chancen mehr.
Olaf Scholz hingegen tat im Gegensatz zur grünen Spitzenkandidatin, das einzige, das man als gebildeter und intelligenter getaufter evangelischer Christ tun kann: Als Erwachsener trat er aus der Kirche aus, fertig. Auch die beiden SPD-Vorsitzenden sind nicht gläubig. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sind beide konfessionslos. Esken muss man sogar hoch anrechnen, daß sie von katholischen Medien wie der Tagespost, zutiefst gehasst wird für ihren öffentlichen Unglauben. Im Herbst 2015 stimmte sie gegen alle Entwürfe des „Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“, weil sie eine totale Liberalisierung wünschte.
Aber auch abgesehen von der Religionsfrage gibt es zwischen den Grünen und der CDU/CSU natürlich Platz für eine Arbeiterpartei.
Wann, wenn nicht in, bzw nach der großen Pandemie, in der sich zeigte, wie prekär Beschäftigungsverhältnisse sind, in der völlig neue Probleme wie massenhafter Home-Office, tiefgreifender Wandel bei den geringqualifizierten Jobs im stationären Handel, sowie mangelhafte Bezahlung der medizinischen Dienstleister offensichtlich wurden, braucht es eine Arbeiterpartei?
[….] Mit Armin Laschet und Annalena Baerbock vollendet sich der Siegeszug des west- und norddeutschen Kleinbürgertums aus der - wie man nüchtern sagt, um das Wort Provinz zu vermeiden - Fläche. Es regiert die Sehnsucht nach Ruhe, Gemütlichkeit, einem Früher mit Sendeschluss, Vereinsfest, plus Insektenhotels für die Bienen. Wer, außer einer neurotischen Koalition aus Geringverdienern, Gewerkschaftern, Tech-Freaks und Nerds sollte etwas dagegen haben? Genau das kann einem also behaglich vorkommen. Oder wahnsinnig. Merkel mit Radwegen. Gibt es mit der SPD mehr politische Fantasie, Dynamik, Fortschritt? Ohne sie jedenfalls nicht. Die SPD half, die deutsche Außenpolitik aus ideologischen Sackgassen zu führen und zugleich wertegebunden zu gestalten, die Wirtschaft fairer aufzustellen; sie rettete den Sozialstaat in Zeiten des Neoliberalismus, sie öffnete Bildung, Wissenschaft und Kunst für Menschen aus ärmeren Verhältnissen, sie sorgte für die Realisierung von Minderheitenrechten, demokratisierte und reformierte dieses Land. Herkulesaufgaben, geleistet oft von Leuten aus den kleinsten Verhältnissen. Werden sie es hinkriegen, ihren eigenen Laden wieder flottzukriegen? Die SPD fehlt. Sie sollte sich finden. [….]
(Nils Minkmar, SZ, 29.04.2021)
Olaf Scholz ist es in der aktuellen Presselandschaft kaum möglich sich zu präsentieren.
In einem idealen Wahlkampf würde sich ein Kanzlerkandidat, der schon Vizekanzler ist, als seriöser, qualifizierter Mann präsentieren – das tut Scholz.
Die beiden Vorsitzenden seiner Partei würden den gesamten SPD-Apparat in Gang setzten, um mit einem Ideenfeuerwerk die Wähler auf ihren Kandidaten aufmerksam zu machen. Sie würden permanent in den Medien sein, um in ganz klaren Worten stets die Alternative zu CDUCSUGRUEN zu präsentieren. Sie würden Scholz, der für die gesamte Regierung stehen muss, programmatisch flankieren, indem sie jedem einhämmern, was SPD pur bedeutet und weswegen man die SPD also bei der Bundestagswahl stärker als 2017 machen muss.
Das tun Esken und Nowabo nicht.
Ich bin gar nicht sicher, ob Walter-Borjans noch lebt. Von ihm habe ich schon ein Jahr gar nichts gehört. Esken taucht zwar gelegentlich auf, aber vornehmlich in ihrer eigenen Twitterblase, um sich mit rund einem Dutzend anderer User auseinander zu setzen.
Ganz kurz sah es so aus, als könnte sie zusammen mit Kühnert mal einen Pflock einschlagen, als sie sich vor die LGBTIQ-Gemeinde und damit gegen die homophoben Töne Thierses und Schwans stellten. Aber beim kleinsten Windhauch knickten sie sofort wieder um und schafften es nach den säkularen Sozis, auch die Schwusos endgültig zu verprellen.
Fast 50% der Deutschen sind konfessionsfrei und im Jahr 2021 traut sich die SPD immer noch nicht, offensiv für diese Menschen einzutreten.
Die ganz großen Themen, also beispielsweise, die hier angesprochene konfessionsfreie Position und eine klare arbeitnehmerfreundliche Homeoffice-Perspektive, lassen sie einfach liegen.
Es gibt dazu ein sinnvolles SPD-Programm, das ich sehr schätze. Aber niemand liest Programme. Dafür müssten Klingbeil, Kühnert, Esken und Nowabo eintreten und medialen Wirbel veranstalten.
Leider sind alle vier komplette Fehlbesetzungen.
Das hat man nun mal von der elenden Basisdemokratie. Bei Mitgliederbefragungen handelt es sich um eine Diktatur der Inkompetenz und so haben wir genau die Vorsitzenden, die es nicht können.
Der Mainzer Generalsekretär Roger Lewentz ist extrem verärgert über seine schläfrigen Bundesparteichefs.
[….] SZ: Die Union hat sich soeben fast zerlegt. In den Umfragen sackt sie ab, aber die SPD profitiert überhaupt nicht. Wieso?
Roger Lewentz: Bei CDU und CSU haben Chaostage geherrscht. Armin Laschet und Markus Söder gaben beide ein verheerendes Bild ab. Ich hätte mir gewünscht, dass wir dies Tag für Tag in den Medien benennen. Wir hatten hier in Rheinland-Pfalz mal einen CDU-Spitzenkandidaten namens Christoph Böhr. Als der sein Schattenkabinett zusammenstellte, habe ich als SPD-Generalsekretär gesagt: Christophs Resterampe. Genau so muss man heute deutlich sagen, dass dies Chaostage in der CDU waren. Dass dies für ein Land in allergrößter Not eine Katastrophe ist. Dass Laschet und Söder verantwortungslos sind. Was ich sagen will: Wir müssen jetzt offensiv an die Dinge rangehen. Die Bürger müssen spüren, dass wir gewinnen wollen.
SZ: Ihr Wahlkampfchef ist Generalsekretär Lars Klingbeil. Ist er zu vornehm?
Roger Lewentz: Zu vornehm oder zu zurückhaltend, das ist egal, denn es läuft auf dasselbe hinaus. Wir liegen in den Umfragen bei 15 Prozent.
SZ: In einigen mittlerweile bei 13.
Roger Lewentz: Und in so einer Lage ist es wie im Fußball: Wenn du null zu zwei hinten liegst, kannst du doch nicht auf Ergebnishalten spielen. Dann muss man angreifen und jede Chance ergreifen. Wenn einem der wichtigste Gegner, die CDU, das Feld so öffnet! Wir verpassen gerade den Wahlkampfstart und handeln uns einen Rückstand ein, der dann später nicht mehr aufzuholen ist. Zumal wir auch bei der Bundestagswahl viel mehr Briefwahl als früher haben werden - das heißt, die Wahl geht viele Wochen vor dem eigentlichen Termin, dem 26. September, los. Wenn man sich die erfolgreichen SPD-Landesverbände, ihre Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ansieht, unseren tollen Kanzlerkandidaten und das Programm, an dem wir gerade arbeiten - dann haben wir keinen Grund, in Sack und Asche zu gehen. Wir müssen den Wahlkampf jeden Tag austragen, und zwar laut. [….]
Die Vorsitzenden sind keine Religioten mehr wie die Vorgängerin. Darüber bin ich sehr froh.
Allein das reicht allerdings nicht.
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