Als großer Bill Maher-Fan war ich natürlich vorgestern voll an Bord, als er über die unerträgliche „Awareness“-Inflation herzog.
Die Amerikaner übertreiben es wirklich mit ihrer politischen Korrektheit und Betroffenheit und Empfindlichkeit.
Das ist leider mehr als ein Kuriosum, denn Begriffe wie „Cancel Culture“ in den USA oder „Gendergerechte Sprache“ in Deutschland, triggern die politische Rechte.
Durch demonstrativen Verstoß gegen diese angeblichen neuen Zwänge, werden solche Typen wie Trump zu Helden und generieren Wählerstimmen.
Sie beginnen das große Heulen und verbreiten abstruse Übertreibungen. Manch ein AfDler befürchtet, daß er sofort von Alice Schwarzers Armee niedergeknüppelt wird, wenn er versehentlich „Salzstreuer“ statt „Salzstreuerin“ sagt.
Auf dieser Welle surft nun leider auch Wolfgang Thierse, der seiner Methode treu bleibt, stets nun mit den ultrakonservativsten Organen der rechten Presse zu reden – gestern im Cicero – um dann pathetisch-unschuldig damit zu prahlen wie viel Zuspruch er bekomme. Seine erste Attacke gegen die Queer-Community, fand genau wie seine NS-Pöbelei wider das Bundesverfassungsgericht in der rechten FAZ statt. In der konservativen weißen männlichen Mehrheitsgesellschaft fühlt Thierse sich am wohlsten.
[….] Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) erlebt im Streit mit der Parteispitze um den richtigen Dialog mit sexuellen und anderen Minderheiten nach eigenen Worten „überwältigende Zustimmung“. In einem Interview des Magazins „Cicero“ bekräftigte er zugleich Kritik an der Gesprächs- und Debattenkultur einer sogenannten Identitätspolitik, weil diese nicht auf Versöhnung und konkrete Fortschritte ziele. […..]
Nach dieser Logik darf man also Schwule und Lesben diskriminieren, weil sie so wenig sind? Man darf andere mobben, wenn man in der Mehrheit ist? Da hatte ich das Wort "Solidarität" wohl bisher völlig falsch verstanden.
Die quantitative Argumentation der Thierse-Fans ist abstoßend. Queere wären ja nur eine kleine Minderheit, vielleicht 5% der Menschen in Deutschland; die Majorität sehe es wie Thierse.
Nein, sozialdemokratische Solidarität gilt nicht nur den Starken und den Mehrheiten!
Auch als weißer Cis-Hetero fühlt man sich absolut solidarisch mit LGBTIQs und stellt sich vor sie, wenn Thierse auf sie losgeht.
[…..] Falls die SPD-Legenden Gesine Schwan und Wolfgang Thierse wirklich vorhatten, mit ihren Thesen zu Identitäten und Minderheiten dem Auseinanderdriften der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, dann scheinen sie zumindest in einer Hinsicht einen Erfolg verbuchen zu können: Selten war sich – zumindest in der veröffentlichten Meinung – die Mehrheitsgesellschaft in der letzten Zeit so einig: In ihrer Empörung gegen Minderheiten. […..]
Die Mehrheit hat nicht automatisch auch Recht. Große Mehrheiten wählten Hitler, Berlusconi, Orbán. Wir wissen doch, wie noch vor ein paar Jahrzehnten große Mehrheiten über Schwulenrechte, Sinti und Roma, Feministinnen und Schwarze dachten.
Das macht Diskriminierung nicht richtiger.
Auch eine kleine Minderheit soll gefälligst die gleichen Rechte bekommen, wie die große Mehrheit.
(…..) Vanja hat sich nicht ausgesucht welches Geschlecht er/sie hat.
Er/sie wurde wie etwa 100.000 weitere Menschen in Deutschland weder als Mann noch als Frau geboren. Nicht in die biblischen Schablonen zu passen bedeutete über Jahrtausende entweder gleich getötet zu werden oder später gequält zu werden. In den letzten 100 Jahren wurden schon Säuglinge rücksichtslos so operiert, daß sie zwangsweise häufig sterilisiert und immer äußerlich in ein (meist falsches) Geschlecht gezwungen werden.
Das ist zutiefst menschlich, denn Menschen sind abartige, grausame und vorurteilsbeladene Wesen, die das töten und quälen, was sie nicht kennen.
Auch ich erfasste erst vor etwa 20 Jahren bei der Lektüre von und über Del Lagrace Volcano welche unfassbare Grausamkeit heimlich, still und leise an tausenden Kindern jährlich begangen wird.
Immerhin erfreulich, daß es im Jahr 2017 kurz nach der „Ehe für fast alle“ (einige bleiben weiterhin ausgeschlossen) nicht mehr erneut Jahrhunderte dauerte, bis Intersexuelle auch rechtlich ein eigenes Geschlecht bekamen.
[….] Bei Frauen ist es XX, bei Männern XY. Vanja hatte nur ein X, mehr nicht. Die Ärztin war geschockt. Vanjas Reaktion? Verwirrt. Erschreckt. Aber auch einen Schritt näher bei sich selbst. "Irgendetwas in mir hat ja gewusst, dass sich da keine Weiblichkeit entwickelt." Nur: Wer oder was war Vanja nun? Die ärztliche Diagnose klang nach Frau mit Defekt, sie könne eben keine Kinder kriegen: "45,X0, numerisch pathologischer Karyotyp mit Monosomie X/Ullrich-Turner-Syndrom". Das ist nur eine der diversen Varianten medizinisch unklarer Geschlechtszuordnung; mal sind es die Gene, mal fehlende Enzyme oder hormonelle Fehlsteuerungen. […..] Die Mediziner empfahlen, Östrogen zu geben, das weibliche Sexualhormon. Vanja sollte doch noch die Kurve zur Frau kriegen. Letztlich entsprach das einer rigiden Haltung, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Davor, etwa im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, hatten Betroffene bis zum 18. Lebensjahr das Recht, einen Irrtum der Eltern bei der Geschlechtszuordnung zu korrigieren - das Recht also, das eigene Geschlecht zu wählen, wenn auch nur zwischen zwei Möglichkeiten. Hundert Jahre später wurde aus dem Wahlrecht eine behördliche Zuweisung: Einzutragen war das "wahre Geschlecht" - im Zweifelsfall mussten die Mediziner entscheiden. Aus diesem Zwang zur Eindeutigkeit sollte sich eine mitunter barbarische Praxis entwickeln. […..]
(Wolfgang Janisch, SZ, 06.11.2017)
Woher kommt diese extreme menschliche Bösartigkeit gegenüber völlig unschuldigen Artgenossen? Offensichtlich aus der tiefen Borniertheit des Denkens. (…..)
Es gibt ziemlich wenige Linkshänder in Deutschland, 10-15%. Bis in die 1970er wurden sie zwangsweise umerzogen.
Extrem selten ist beispielsweise Heterochromie. Soll das ein Grund sein, Menschen mit zwei unterschiedlichen Augenfarben weniger Rechte zuzubilligen?
Das ist ganz gefährliches Terrain, in dem Thierse und die veröffentlichte Mehrheitsmeinung derzeit rumsurfen.[….] Die Eskalation der Debatte zeigt, wie dünn die Akzeptanz queerer Menschen in Deutschland tatsächlich ist und wie wenig Bewusstsein es nach wie vor für die verschiedenen Formen von Queerfeindlichkeit gibt – das Gerede über eine angebliche ‚Identitätspolitik“, das immer zu einem minderheitenfeindlichen Diskurs führt, gehört dazu. Es erschreckt mich dabei allerdings weniger, dass sich die „üblichen Verdächtigen“ in den Redaktionen großer Tageszeitungen nun so heftig über die Kritik an Thierse empören. Viel mehr Sorgen macht mir, dass sich bislang nur sehr wenige Journalist*innen wirklich ernsthaft mit dem spalterischen FAZ-Essay des ehemaligen Bundestagspräsidenten beschäftigt haben und der LGBTI-Community solidarisch zur Seite springen. Die Reaktionen sind insgesamt auch nicht wirklich überraschend. Wenn wir über die Queerfeindlichkeit der AfD berichten, gibt es von allen Seiten Beifall und es wird uns versichert, wie wichtig unsere Arbeit ist. Wenn wir dagegen queerfeindliche Äußerungen in sogenannten queerfreundlichen Parteien thematisieren, gibt es jedes Mal große Empörung, das gilt als Tabu. […..]
(Queer.de-Herausgeber Micha Schulze, 06.03.2021)
Ich verstehe die „Vernünftigen“ in der SPD, die sich darüber empören das Thema jetzt, unmittelbar vor zwei wichtigen Landtagswahlen auszubreiten, während sich doch gerade die CDU in einen gewaltigen Korruptionssumpf stürzt.
Müssen Schwusos und Thierse sich gerade dann bekriegen? Kann man den alten Zausel nicht einfach reden lassen?
Aber der Zeitpunkt für solche grundsätzlichen Debatten ist immer falsch.
Es ist auch immer falsch Diskriminierungen unwidersprochen stehen zu lassen.
[…..] Communities entstehen eben meist erst dadurch, wenn sich deren Mitglieder nirgends gesehen, geschützt und wertgeschätzt fühlen. Sie grenzen sich also nicht selbst aus, sie werden ausgegrenzt. Gesine Schwan und Wolfgang Thierse, beide in der SPD-Grundwertekommission beheimatet, haben in den letzten Wochen durch verschiedene Beiträge in der FAZ, im Deutschlandfunk und in der Süddeutschen eine alte Diskussion angestoßen, wie ich sie persönlich für die heutige, die moderne und zukunftsorientierte Sozialdemokratie für nicht mehr notwendig, für überwunden erachtet hatte. Doch ich hatte mich getäuscht. Gut, dass wir nochmal darüber reden. Beide beklagen die Vehemenz, mit der Minderheiten ihren gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft einfordern. Gesine Schwan stellte sogar die Frage auf „Gibt es überhaupt eine normale unverzichtbare Verschiedenheit und dagegen ‚unnormale‘ inakzeptable Verschiedenheiten? Oder ist alles, was anders ist, gleich gut oder zu akzeptieren?“ Diese tradierte Überlegenheit, diesen Anspruch auf Deutungshoheit und diese Macht, andere in gut und böse, in normal und unnormal, in richtig und falsch einzuteilen, gilt es zum Wohle aller endgültig zu überwinden. Denn dieses Streben nach Akzeptanz, Daseinsberechtigung und Partizipation ist keine Ideologie, sondern Politik – eine des Respekts. Wir erheben heute also unsere Häupter, wir erheben unsere Stimmen und bringen diese gesellschaftspolitisch ein – in Vereinen, Initiativen und auch in der Politik. […..]
(Alfonso Pantisano, 03.03.2021 ist Landesvorsitzender der SPDqueer Berlin und im Bundesvorstand des Lesben und Schwulenverbands Deutschlands.)
Eine andere Minderheit, die im öffentlichen Diskurs oft diskriminierend angesprochen wird, ist kurioserweise eine Mehrheit: Frauen.
Auch Frauen gegenüber soll man sensibel und „aware“ sein.
Deutschlands bekannteste Feministin, Alice Schwarzer, seit Jahren auf Merkelschen und islamophoben Abwegen, verfasste in ihrer Emma ein Essay wider des Frauentags. Die sozialistische Geschichte und die männliche Gönnerhaftigkeit disqualifizieren.
[….] Warum der „Frauentag“ – der in Berlin seit 2019 sogar ein Feiertag ist – der reinste Hohn ist. Der 8. März gehört einfach abgeschafft! Das hat Alice Schwarzer schon im Jahr 2010 gefordert. Sie plädiert für 365 Tage für Menschen – und die Tiere und die Natur gleich dazu. […..]
Ich finde die Argumentation so überzeugend, daß ich den Link mit einer entsprechenden Karikatur auf Facebook teilte.
Mark Zuckerberg stufte den Beitrag umgehend als „Hassrede“ ein, verwarnte mich und sperrte meinen Account.
Alice Schwarzer ist also so frauenfeindlich, daß man dafür eine Social Media-Sperre kassiert?
Wir müssen noch so einiges lernen in unserer öffentlichen Gesprächskultur.
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