(…..) Ich werde mich nicht an einem Wettbewerb um die schlimmsten Fanatiker-Terroristen nach Religion beteiligen.
Jeder religiöse Fanatismus ist gleichermaßen zu verachten.
Aber ich befürchte, Herr Kühnert wird sich sehr wundern wie sein antimuslimischer Vorstoß wegkommt, wenn er außer den Alice-Weidelschen „Messermännern“ alle weißen christlichen Attentäter in seine Überlegung einbezieht.
Die stellen nämlich die quantitativ größere Bedrohung dar:
Christchurch 2019, Utøya 2011, El Paso 2019, Parkland 2018, Las Vegas 2017.
Betrachtet mal alle Opfer des Terrorismus weltweit, ist eins klar: Muslime stellen die mit Abstand größte Gruppe unter den Opfern. Herr Kühnert.(….)
Jacinda Ardern, um die ich Neuseeland zutiefst beneide, weil es bedauerlicherweise in den USA und Deutschland keine Führungsfigur von solchem Format gibt, setzte unter anderem auch dadurch ein extrem starkes Zeichen, daß sie als Regierungschefin erklärte den Namen des Massenmörders von 50 muslimischen Neuseeländern demonstrativ nicht aussprach.
Die meisten Offiziellen folgten ihrem Beispiel und so ist der Name des Killers öffentlich nicht geläufig.
Jacinda Ardern, die (wie Jens Stoltenberg nach dem Massaker von Utøya) im März 2019 mit Kopftuch bei den Angehörigen des schweren Terroranschlages von Christchurch erschien, produzierte weltweit ikonographische Bilder.
Sie machte alles goldrichtig, verließ ihre Rolle als Regierungschefin und erschien als Freundin, als Trösterin, als eine von den um die 50 Toten Trauernde.
[….]Wie kann man auf Menschen zugehen, die fassungslos, wütend und traurig zurückbleiben? Was können wir ihnen sagen und wie können wir ihnen Trost und Geborgenheit spenden? Auch Politiker*innen stehen vor dieser Herausforderung, gerade die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern. Seit Oktober 2017 hat die 37-Jährige das Amt inne. Am Samstag reiste sie nach Christchurch, ins Canterbury Refugee Center, um dort Menschen aus der muslimischen Gemeinde zu treffen. Dabei trug sie ein schwarzes Kopftuch. Ardern hat viel richtig gemacht in den letzten Tagen.
Von manchen deutschen Politiker*innen kann man dies hingegen nicht behaupten: „Egal gegen wen sich Hass, Gewalt und Terror richten, am Ende sterben Menschen, verlieren Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder“, twitterte etwa die CDU-Bundesvorsitzende und mit hoher Wahrscheinlichkeit die nächste Kanzlerkandidatin ihrer Partei Annegret Kramp-Karrenbauer. Nein, es ist nicht egal, gegen wen sich der Hass und Terror richtet. Mucad Ibrahim und Ara Parvin wurden aus einem bestimmten Grund ermordet: Ein 28-jähriger Australier tötete sie, weil er diese Menschen, ganz unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Biografien, die lediglich ihr Glauben vereint, für seine Feind*innen hielt. [….]
Natürlich könnte ich googeln, wie der Hass-Fanatiker heißt, aber es gefällt mir, anders als im Fall Utøya weder Gesicht noch Namen vor Augen zu haben, wenn das Thema „Christchurch-Attentat“ auftaucht.
Wäre ich Mitarbeiter einer Behörde, die sich mit der Verhinderung und Aufklärung von Kriminalität beschäftigt, könnte ich mir diesen Luxus des Nichtwissens und die Genugtuung darüber, daß der rechtsextreme Terrorist ebenen nicht so berühmt wurde, wie er es sich offensichtlich erhoffte, nicht leisten.
Das ist der Nachteil des Internets; die falschen Leute suchen sich falsche Inspiration für ihre falsche Weltsicht aus dem Netz.
Es ist leider zu spät Arderns Beispiel im Fall des Attentäters von Halle zu folgen – die deutschen Medien berichteten allesamt über Stephan Balliet, der am 09.10.2019 mit Sprengsätzen und Waffen ein Massaker an betenden Juden in der Synagoge veranstalten wollte, glücklicherweise aber an der massiven Holztür scheiterte und daraufhin aus Frust zwei Passanten ermordete und weitere zwei Menschen schwer verletze.
Balliet ist genauso alt wie der Massenkiller von Christchurch, wurde durch dessen gestreamte Tat inspiriert, beruft sich auch seine „berühmten“ rechtsradikalen Massenmörder-Vorgänger.
Natürlich ist es für „den Staat“ wichtig zu wissen wie so ein eigentlich aus normalen Verhältnissen stammender unscheinbarer Typ – Mutter Lehrerin im Fach „Ethik“, Vater Fernsehmechaniker – vor dem Computer sitzend immer radikaler wird.
Es ist ein klassischer Fall von „Antisemitismus ohne Juden“. Stephan Balliet kennt keine Juden persönlich, sagte sich sein zutiefst verschwörungstheoretisches antisemitisches Weltbild aus dem Internet.
Er generierte derartigen Hass, daß er auch ein Jahr nach der Tat nicht die geringste Reue empfindet, aber es bedauert nicht in die Synagoge vorgedrungen zu sein, um noch viel mehr Menschen zu töten.
Polizei, Kriminologen, Soziologen, Bildungsexperten, Politiker müssen verstehen, wie so etwas passiert, um das zu verhindern.
Balliet ist offensichtlich einer dieser INCELS und auch Q-Anon-Jünger, begann sein Tatvideo mit den verstörenden Worten…
[…..] "Hi my name is Anon, and I think the holocaust never happened. Feminism is the cause of the decline of the West which acts as a scapegoat for mass immigration. And the root of all these problems is the jew. Would you like to be friends?" [….]
(zitiert nach ADL, 09.10.2019)
Der Strafprozess ist extrem abscheulich, weil die Horrortaten alle in Wort und Bild dokumentiert wurden und nun im Gerichtssaal den Angehörigen der Opfer und den Nebenklägern präsentiert werden. Die Anklage lautet auf zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch, Holocaustleugnung, Körperverletzung, erpresserischen Raub und anderes mehr. Balliet genießt die Medienaufmerksamkeit.
Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens macht offenbar einen sehr guten Job, möchte ebenfalls herausfinden, wie man so wird.
Dafür bestellte sie BKA-Experten als Zeugen, die die Online-Vergangenheit des Killers untersuchten.
Dabei kommt aber ein Skandal im Skandal zum Vorscheinen.
[…..] Auftritte der Beamten des Bundeskriminalamts führen regelmäßig zu Befremden. Die Nebenklagevertreter interessiert vor allem, was die Beamten unternommen haben, um etwas über mögliche Kontakte Balliets herauszufinden. Gab es nicht doch Mitwisser?
Eine Beamtin hat sich mit den Spielen beschäftigt: »Im Wesentlichen spielte Herr Balliet Ego-Shooter und Rollenspiele.« Spielpartner seien nicht bekannt; »Chatdaten werden nur 14 Tage gespeichert.«
»Welche Kenntnisse habe Sie darüber, wie bei Steam Spielverläufe gespeichert werden?«, fragt Rechtsanwältin Kati Lang. »Keine Kenntnisse«, sagt die Beamtin, »dafür gibt es Experten beim BKA.« – »Haben Sie mal auf Steam ein Spiel gespielt?« Die Beamtin verneint: »Ich bin kein Gamer.«
Lang hakt nach: »Das BKA hat Sie, die keine Ahnung von Gaming und Steam hat, damit beauftragt, die Auswertung vorzunehmen?« Die Frau zögert mit ihrer Antwort: »Ja.« Ein anderer Beamter hat sich das Imageboard 4chan angesehen. Ob es da eine Moderatorenfunktion gebe? Weiß er nicht. Wer dazu Näheres mitteilen könnte? Weiß er auch nicht.
»Wenn Sie einen internetaffinen 18-Jährigen drangesetzt hätten«, empört sich Anwalt David Herrmann, »hätte der mehr rausgekriegt. Ich bin maßlos enttäuscht und entsetzt über die mangelnde Kompetenz beim BKA.« Oberstaatsanwalt Stefan Schmidt reagiert gereizt: Für das Strafmaß seien diese Fragen egal. [….]
(Beate Lakotta, SPIEGEL 07.11.2020)
Das ist das Ergebnis von Jahrzehnten CDU-geführten Innenministerien und konservativer Polizeiführung.
Offensichtlich wurde seit dem NSU nichts gelernt.
Erbärmlich.
Es wäre schön, wenn sich Kevin Kühnert als aufstrebender Toppolitiker mit dem Totalversagen deutscher Behörden wie des BKAs beschäftigt, statt antimuslimische Ressentiments zu schüren.
Ardern hat das wirklich gut gemanaged. Aber das Kopftuch war dann doch zuviel.
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