Mittwoch, 25. Januar 2017

#IBES


Bezüglich der Bildung funktioniert Fernsehen wie Internet.
Es macht Kluge klüger und Dumme dümmer.

(….) 95% der ausgestrahlten Programme halte ich zumindest für Zeitverschwendung, wenn nicht gar für Volksverdummung.
Zu einem willkürlichen Zeitpunkt willkürlich einen Sender einzuschalten, birgt also ein enormes Risiko sich selbst dümmer zu machen.
Der GONG druckt das Programm von 56 Sendern ab. Das sind also 1.344 Stunden Programm pro Tag. Selbst wenn 95% davon aus meiner Sicht mindestens überflüssig sind, bleiben mit gut 67 Stunden weit mehr Programm als ein Mensch sich ansehen kann.
Ich muß also genau auswählen und abwägen welche Sendungen ich so priorisiere, daß ich sie tatsächlich angucke. (….)

Unglücklicherweise verhalten sich Programmqualität und Einschaltquote in der Regel umgekehrt proportional zueinander.

Richtig schlimmer Mist wie Volksmusikhitparaden oder Fußball erreicht ein zweistelliges Millionenpublikum, während hochinteressante Dokumentationen auf arte gerade mal ein paar Tausend Zuschauer haben.

Bei anderen Medien sieht es genauso aus.

Die BILD-Zeitung hat eine Reichweite von täglich über zehn Millionen Menschen, während die auf ungleich höherem Niveau angesiedelten Berliner Kollegen von der taz 50.000 Exemplare am Tag verkaufen.
BILD und Bild.de sind echter Dreck, den aber jeden Tag 100 mal so viele Menschen lesen, wie die taz.

Ich bin sicher, daß ähnliche Klickzahlen-Korrelationen für die Online-Medien gefunden werden.

Qualität und Popularität treffen sich üblicherweise nicht.

Allerdings gibt es Ausnahmen im künstlerischen Bereich.
Adeles Hello-Video von Xavier Dolan wurde auf Youtube 1,9 Milliarden mal aufgerufen und die Frau kann zweifellos tatsächlich singen – egal ob man das Musikgenre mag oder nicht.
Auch Unterhaltungsserien wie „House Of Cards“, die brillant gemacht sind, können gleichzeitig ein kommerzieller Erfolg sein.

Menschen mit Geschmack und Anspruch können also in ihren Vorlieben durchaus ab und zu eine Schnittmenge mit dem Massengeschmack bilden.

Kluge Menschen können sich aber auch mal in die Niederungen begeben, um unterhalten zu werden.
Das wird bei Proll-Sport oder Dumm-Talkshows durchaus akzeptiert.

Nach 11 Staffeln RTL-Dschungelcamp gibt es aber immer noch Menschen, die sich empört über die Sendung erheben, ihre Zuschauer verdammen und zum Boykott aufrufen.

Warum eigentlich?
Es handelt sich dabei um ein Show-Format, bei dem wie in 100 anderen Unterhaltungsshows sogenannte C-Promis vorgeführt werden.
„Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ (#IBES) fällt allerdings gleichzeitig aus dem Rahmen:

1.) Statt der üblichen Sinnlos-Plappereien der üblichen Quizz-Moderatoren, werden hier mit STERN-Kolumnist Micky Beisenherz und Star-Autor Jens Oliver Haas zwei der besten deutschen Texter eingesetzt.
2.) Anders als bei anderen RTL-Shows ist #IBES ein fester Bestandteil des seriösen Feuilletons – SZ, SPIEGEL und Co – alle analysieren täglich die Dschungelgeschehnisse.
3.) #IBES spielt in einer deutlich höheren Quotendimension.
4.) Autoren und Moderatoren bedienen mehrere Meta-Ebenen. Man kann die Sendung als reine Unterhaltungsshow sehen, oder auch zwischen den Zeilen der Moderationen die mit politischen Anspielungen gespickten Nebentöne auffangen.
5.) Die Show ist fair; es gibt zwar eine enorme Fallhöhe; die Teilnehmer können sich entsetzlich blamieren, aber es sind alles Medienprofis, die das Spiel kennen. Immer wieder gelingt es einigen die Chance zu nutzen und durch die Dschungelpopularität wieder ins Geschäft zu kommen.
6.) Die Teilnahme am Dschungelcamp wird sehr gut bezahlt und erfolgt selbstverständlich freiwillig. Jeder Kandidat kann jederzeit aussteigen und jeder Zuschauer ist frei den Aus-Knopf zu drücken, bzw gar nicht erst einzuschalten.
7.) Der Haussender RTL, sonst eher nicht für Showqualität bekannt, wird durch das enorme Interesse der großen Zeitungen zu Höchstleistungen auch auf Nebenkriegsschauplätzen animiert. Allein schon auf die kurz im Hintergrund angespielte Musikauswahl zu achten, beweist wie akribisch die Macher vorgehen.

[….] „Auch auf die Gefahr hin, jetzt wie einer dieser schlimmen Presser zu klingen, die in der Großraumdisco den ganzen Abend wie schlechtgeschmackliche Übergriffler an der DJ-Kanzel kleben, um sich "It's Raining Men" zu wünschen: Es wäre doch wirklich sehr schön, wenn in den nächsten Tagen zur musikalischen Honeyhintermalung einmal "The People Who Grinned Themselves to Death" von den Housemartins eingespielt werden könnte - ein geradezu prophetischer Song, in dem nicht nur dessen Bleckstörung thematisiert wird, sondern auch seine Bronchialproblematik: "The people who grinned themselves to death / smiled so much, they failed to take a breath". Wobei die RTLsche Musikabteilung auch in diesem Jahr ohnehin schon feine Arbeit leistet und Jarle Skavhellens "The ghost in your smile" einspielte, als Honey sich mal wieder bei der Lagerfeuerwache durch die Nacht feixte und, kaum egoman, ein "H" in die Sitzbank schnitzte - mit der schönen Zeile: "I'll be the black tooth / In your Hollywood grin". Und ein Extralob natürlich für den Einsatz von "Being boring" beim nicoleschen Camp-Auszug.“
(Anja Rützel, 24.01.2017)

8.) #IBES bietet derart viel feuilletonistisch verwendbares Material, daß ein enormer texterischer Mehrwehrt entsteht. Die spöttisch-psychologisierenden Analysen in vielen Zeitungen zeigen Humor als ganz hohe Kunst.

Aus dem Rahmen fällt das erzkonservative FUNKE-Erzeugnis „Hamburger Abendblatt“, welches natürlich auch ein Stück vom Kuchen abhaben möchte und dementsprechend täglich aus dem Dschungel berichtet – allerdings gleichzeitig um ihre tumbe, konservative Leserschaft zu beruhigen einen empörten Professor das Wort erteilt.

Der Hamburger Psychiater Michael Schulte-Markwort zeigt dabei eine bemerkenswerte Unwissenschaftlichkeit.

Kollege Prof Otto Kernberg, 88, der weltberühmte Spezialist für „malignen Narzissmus“ erklärte neulich erst öffentlich das Ethos eines Psychiaters, als er gefragt wurde, wie er Donald Trump diagnostizieren würde.

[….] Einen Moment sieht Otto Kernberg überrascht aus, dann legt sich ein nachsichtiges Lächeln um seine Lippen, und er sagt, sein Berufsethos verbiete ihm, über Personen, die er nicht selbst untersucht habe, Diagnosen zu stellen; und habe er sie untersucht, dann dürfe er selbstverständlich nichts sagen. Damit entfallen alle nachfolgenden notierten Fragen [….]

Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort, *1956, Leitender Arzt der Abteilung für Psychosomatik und UKE-Klinikdirektor in Hamburg frönt offenbar einem völlig anderen Berufsverständnis.
Es drängt ihn nicht nur öffentlich zu diagnostizieren, sondern er brüstet sich bei der Diagnose sogar damit den Patient nie gesehen zu haben.
Wissenschaft geht anders.
Schulte-Markwort ist sichtlich stolz darauf noch keine einzige Minute des RTL-Dschungelcamps gesehen zu haben, wendet sich aber an das Hamburger Abendblatt, um doch zu erklären, wie durch und durch übel die Angelegenheit wäre, weswegen man dieses Treiben unterbinden solle.
Das FUNKE-Blatt druckt den Artikel natürlich.

[….] Gerade war zu lesen, wie Thomas Häßler mit unüberwindbarem Brechreiz daran gescheitert ist, einen Cocktail aus pürierten Fischabfällen zu sich zu nehmen.
Ich kenne niemanden, der diese Sendung schaut (!). Eine Einschaltquote von über 40 Prozent belehrt mich, dass ich Menschen kennen müsste, die dem Dschungelcamp zu diesem Erfolg verhelfen, haben doch rund 7 Millionen Menschen im Alter von 14 bis 49 Jahren zugeschaut. Ich selber habe sie noch nie gesehen. Der Bericht über Thomas Häßler und sein "Scheitern" ruft mich dazu auf, mich zu Wort zu melden.
Sadismus ist eine Verhaltensweise, die ihren Lustgewinn daraus erzielt, andere Menschen zu quälen. Das Erleben, wie jemand anderes durch mein Zutun leidet, führt zu unmittelbarer Aggressionsabfuhr und Lustgewinn. [….] Im Erfolg des Dschungelcamp bildet sich der voyeuristische Sadismus von Millionen deutscher Zuschauer ab. Ein Mensch, der seelisch nicht darauf angewiesen ist, andere Menschen zu quälen, wird sich von dieser Sendung angewidert abwenden. Ein Mensch, der diesen Sadismus nicht unterstützen möchte, wird nicht als Kandidat antreten, sei er noch so geldabhängig. Wenn Millionen Deutsche ihren mehr oder weniger heimlichen Sadismus wiederkehrend vor dem Fernseher ausleben, indem sie zuschauen, wie in diesem Fall Thomas Häßler scheitert, dann müssen sie sich der Zuschreibung ihres Sadismus stellen.
[….]  Ich erwarte von meinen Mitmenschen, dass sie ihren täglichen – auch den kleinen und geheimen – Sadismus unter Kontrolle haben und lieber an sich selbst ausleben. Viele Fitnessklubs bieten hierfür beispielsweise eine Menge Möglichkeiten. Meine Bitte: Schalten Sie ab und beweisen Sie den Fernsehmachern, dass sie mit ihrem ausgelebten und inszenierten Sadismus allein sind!

Gratulation Herr Professor.
Sie haben sich gerade erfolgreich blamiert. Es steht mir nicht zu #IBES zu verteidigen; das will ich gar nicht.
Aber aus Ihrer Analyse ergibt sich ganz klar, was Sie selbst im ersten Satz einräumen: Sie wissen nicht worüber Sie reden; dozieren dann aber doch umso deftiger als Blinder über die Dschungelfarben.

Zuschauer einer Fernsehsendung des Sadismus‘ zu bezichtigen ist kühn; vor allem aber sinnlos, wenn man so offensichtlich gar nicht das Konzept verstanden hat.
Schreiben Sie doch nächstes Mal über den Zuschauer-Sadismus beim Boxen oder K1.
Da gibt es wenigstens keine Meta-Ebenen und Texte, die man verstehen muß.

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