Als
Joschka Fischer deutscher Außenminister und Vizekanzler (1998-2005) war, sinnierte
er über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei.
Immerhin
war das dem einzigen vollständig säkular organisierten muslimischen Land der
Welt seit Jahrzehnten versprochen worden.
Fischer,
einer der wenigen verbliebenen engagierten Pro-Europäer wog die Vor- und
Nachteile ab und kam zu einer 51%:49%-Entscheidung für einen türkischen EU-Beitritt.
Ich
glaube immer noch, daß der Schritt damals absolut richtig gewesen wäre.
Recep
Tayyip Erdoğan, von 1994 bis 1998 Oberbürgermeister
Istanbuls und ab März
2003 Ministerpräsident
der Türkei hatte zunächst einmal ganz im Sinne Brüssels sein Land ökonomisch
liberalisiert und dadurch ein enormes Wirtschaftswachstum generiert.
Im
Rapidtempo wurden die Türken immer wohlhabender.
Seit
Jahren gehen mehr deutsch-türkische Akademiker nach Istanbul, als Türken nach
Deutschland kommen.
Die
Entfaltungsmöglichkeiten in der boomenden, multikulturellen 14-Millionen-Stadt
sind gewaltig. Das Türkische Wirtschaftswachstum lag in den Nuller Jahren stets
zwischen sechs und zehn Prozent. Zahlen, von denen Deutschland nur träumen
kann.
Zahlen,
die man kennen muß, um zu verstehen wieso heute so viele Türken Erdoğan immer
noch zujubeln.
Hypothetische
Geschichte ist letztendlich sinnlos, aber ich vermute, daß sich eine vor zehn
Jahren in die EU integrierte Türkei mit einem als ebenbürtig empfundenen
Ministerpräsidenten nie in die Richtung 2016 entwickelt hätte, wie wir sie
jetzt kennen.
Ohne
Visumzwang herumreisende Türken, die mit allen anderen europäischen Staaten
verflochtene starke türkische Wirtschaft hätte das Land europäischer gemacht.
Erdoğan
hätte womöglich nie seinen offensichtlichen Minderwertigkeitskomplex entwickelt
und überkompensieren müssen. Vielleicht wäre er längst abgewählt, weil eine
konservative AKP in einer europäisierten Türkei keine Mehrheiten mehr bekommen
hätte. Möglicherweise hätte sich Erdoğans Partei auch á la Merkel-CDU in die
Mitte bewegt und wäre nie so radikal geworden.
Ein in
die EU-Abläufe eingebundener türkischer Regierungschef hätte unter Umständen
auch schon vor fünf Jahren vermocht seine Kollegen auf das gewaltige syrische
Flüchtlingsdrama aufmerksam zu machen.
Es ist
gar vorstellbar, daß Europa längst gemeinsame Lösungen erarbeitet hätte, weil
man nicht fünf Jahre die Augen hätte davor zukneifen können, daß das EU-Land Türkei
ganz allein 2,5 bis 3 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aufnimmt.
Hätte,
hätte, Fahrradkette.
Es kam
alles anders und ich kenne Joschka Fischers derzeitige Analyse pro und contra
EU-Beitritt der Türkei nicht. Aber ich vermute sehr stark, daß er nicht mehr
51%:49% für einen Beitritt plädiert, sondern daß er dafür eher eine 1%:99%-Chance
sieht.
Ich bin
kein Freund von ideologischer Außenpolitik.
Gerade
die zwangsdemokratisierte Bundesrepublik Deutschland hat nicht das moralische
Recht China, Russland oder der Türkei mit dem Zeigefinger zu kommen.
Demokratische
Werte sollte Deutschland vorwiegend innerhalb seiner Wertegemeinschaften
anmahnen.
Ich
erwarte nicht, daß Merkel den Chinesen diktiert demokratisch zu werden, aber
bezüglich Amerikas sieht das anders aus, weil die Vereinigten Staaten selbst auf demokratische
Werte pochen und ein enger Alliierter sind.
Die
Kanzlerin darf also nicht zu amerikanischen Folterlagern, Guantanamo, NSA-Bespitzelung,
Todesstrafe und Snowden-Bedrohungen schweigen.
Sie darf
auch nicht devot zusehen, wie in Polen und Ungarn die Demokratie,
Pressefreiheit und Gewaltenteilung sukzessive abgeschafft werden.
Wäre die Türkei EU-Mitglied, hätten
Merkel und die anderen EU-Regierungschefs sich Präsident Erdoğan längst zur
Brust nehmen müssen.
Die
Türkei ist aber ein Land, das insbesondere durch Merkels strikte Ablehnung von
der EU ausgeschlossen ist, das sie offiziell als so minderwertig einstufte, daß
es maximal zu einer „privilegierten Partnerschaft“ tauge; sicher ein Grund für Erdoğans
Zorn und Radikalisierung.
Verletzte Eitelkeit.
Die
Türkei ist aber nicht irgendein Land, sondern ein NATO-Partner, ein bedeutender
Handelspartner, ein Land zu dem millionenfache private Beziehungen bestehen
und, für Merkel entscheidend: die Türkei ist ihr Schlüssel zum „Flüchtlingsproblem“.
Merkel
soll nicht als Oberlehrerin agieren und muß wohl auch Ankara ein bißchen
schmeicheln.
"In der
internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht
um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im
Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon
Bahr 2013 vor Schülern in der Ebert-Gedenkstätte Heidelberg)
Für
einen Anbiederungskurs, wie ihn Merkel insbesondere gegenüber der USA fährt und
damit schon
zum Duckmäusertum-Gespött wurde, gibt es aber Grenzen.
Die
Grenze war schon durch Erdoğans Verhalten gegenüber dem Daesh-Gebiet weit
überschritten: Kurden bombardieren und IS-Kämpfer passieren lassen.
Die
Grenze war erst recht überschritten mit Erdoğans gewalttätigem Vorgehen gegen
unabhängige Journalisten, gegen friedliche Protestanten in Istanbul.
Die
Grenze längst hinter sich gelassen hatte Erdoğan mit seiner Wut auf Extra3 und
Jan Böhmermann.
Der
ultimative Tiefpunkt war erreicht, als Merkel vor ihm zu Kreuze kroch und die Ermittlungen nach
§103 in Auftrag gab, nachdem sie Böhmermann schon
vorverurteilt hatte und seinen satirischen Text als „bewusst verletzend“
einordnete.
Inzwischen
radikalisiert sich der türkische Präsident täglich weiter.
Er
bedroht direkt elf deutsche Bundestagsabgeordnete, die nun unter
Polizeischutz stehen und vom Auswärtigen Amt die Anweisung erhielten nicht mehr
in die Türkei zu reisen.
Merkel
ließ dazu nur müde von Seibert erklären sie habe kein „Verständnis“ dafür.
Frau Kanzlerin,
so geht es nicht!
Längst wären ein paar Machtworte fällig gewesen wider des sich zum Despoten entwickelnden Erdoğans.
Längst wären ein paar Machtworte fällig gewesen wider des sich zum Despoten entwickelnden Erdoğans.
Wenn
dieser Mensch deutsche Parlamentarier und ihre Familien bedroht, muß sich die
Kanzlerin unmissverständlich mit ihrer ganzen Autorität vor diese stellen.
[…]
Elf türkischstämmige Abgeordnete des deutschen
Bundestages werden seit der Armenien-Resolution massiv angefeindet. Nun hat das
Auswärtige Amt Präsident Erdogan scharf kritisiert.
Das Auswärtige Amt hat
sich mit einem Schreiben an die elf türkischstämmigen Abgeordneten gewandt, die
nach der Armenien-Resolution des Bundestags massiv angefeindet werden.
Die "Kritik,
Schmähungen, ja Bedrohungen" gegen die Abgeordneten seien
"inakzeptabel", so das Ministerium. Man habe dem Geschäftsträger der
türkischen Botschaft in Berlin "das Unverständnis der Bundesregierung über
die verbalen Angriffe des türkischen Staatspräsidenten ausgedrückt", heißt
es in dem Schreiben.
[…]
Ich weiß
nicht sicher was Erdoğan antreibt, ich vermute er ist tatsächlich ein Fall für
den Psychiater.
Er
leidet offensichtlich unter Morbus Westerwellitis in verschärfter Form,
changiert also nur noch zwischen beleidigen und beleidigt sein.
Seine skurrile Abreise von der Mohammad Ali-Beerdigung
spricht Bände.
Das
größere Problem ist für mich aber die offensichtlich erpresste Kanzlerin, die
nicht mehr ihrem Amtseid entsprechend handelt, sondern Erdoğan zu Füßen liegt.
Angela
Merkel, die bis heute dafür sorgt, daß Schwule und Lesben nicht dieselben Rechte
wie andere Deutsche bekommen, widerspricht auch in dieser Causa natürlich nicht
türkischer Hetze.
Die türkische Zeitung
"Yeni Akit" verhöhnt nach dem Massaker in Orlando mit 50 Toten die
Opfer des Anschlags. In einer schwulenfeindlichen Überschrift bezeichnet die
Redaktion die Menschen in dem Nachtclub als pervers.
[…]
"Sapkın eşcinsellerin gittiği barda
ölü sayısı 50'ye çıktı!" - schreibt das Blatt am Sonntag. "Die Zahl
der Toten in der Bar, in die perverse Schwule gehen, steigt auf 50!"
Wie "Daily
Mail" berichtet, soll die Zeitung enge Verbindungen zum türkischen
Präsidenten Recep Erdogn haben (62) und in der Vergangenheit bereits öfter mit
hasserfüllten Artikeln gegen Juden, Armenier und Christen aufgefallen sein.
(MoPo24,
14.06.16)
Dazu
fand ich diesen schönen Facebook-Kommentar:
Verdammt nochmal, dann
stimmen Sie endlich der "Ehe für alle" / Adoptionsrecht zu, und reden
hier nicht so geschwollen vom toleranten Deutschland! Unerträglich. Unsere
Kanzlerin bringt ja nicht einmal das Wort Homosexuell, geschweige denn LGBTIQ
über ihre Lippen! Sie hält sich vage wie immer. Damit raubt sie nicht nur den
Opfern deren mögliche Identität, sondern sie neutralisiert den Anschlag zu
einem, wenngleich entsetzlichen, unpersonalisierten Terror. Politiker die nicht
den Mut haben das Unaussprechliche auszusprechen sind nicht mehr zeitgemäß. Es
wäre interessant hier das Kanadische Oberhaupt zu hören. Der US Präsident
jedenfalls hat das Kind beim Namen genannt, und damit den Opfern allemal alle
Ehre erwiesen. Das deutsche Duckmäusertum ist mir ein Graus.
(FB
13.06.2016)
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