Dienstag, 3. Dezember 2013

Überraschungen – Teil II



Ich will nicht den blöden „wir-sind-gegen-alles“-Linken nachgeben, die sich an ihrer eigenen Agenda-Gegnerschaft aufgeilen und bis heute nicht die geringste Alternative dazu nennen können.
Ich hasse diese „Nach-mir-die-Sintflut“-Attitüde von Randständigen, die sich herausnehmen die Realität ignorieren zu können.
Ich habe die Nase voll von den auf Maximalforderungen Beharrenden, die es nicht kümmert wie vielen Menschen gar nicht geholfen wird, wenn man sich verweigert.

Gregor Gysi wird im aktuellen SPIEGEL nach der (außenpolitischen)  Regierungsfähigkeit seiner Partei gefragt. Gysi will natürlich nur sympathische Dinge: Keinen Krieg, keine Bundeswehrauslandseinsätze und keine Waffenexporte.
Wer will so etwas auch schon? Dann kam aber die Ruanda-Gretchenfrage.
Würde eine Bundesregierung mit Beteiligung der Linken auch auf ihrer „keine Bundeswehreinsätze“-Haltung bestehen, wenn in einem Land eine Minderheit von 900.000 Menschen mit Macheten massakriert wird? Oder muss man da nicht eingreifen, wenn man die militärischen Möglichkeiten dazu hat? Wäre nicht gerade Deutschland dazu verpflichtet den ethnisch Verfolgten beizustehen und dem stattfindenden Genozid nicht achselzuckend zuzusehen?
Gysi wand sind wie ein Aal und beantwortete die Frage trotz intensiver Nachfragen nicht.
Das ist Salon-Links. Edel und rein. Für Sonntagsreden geeignet. Aber in der praktischen Politik moralisch untragbar.

Als größter RotRotGrün-Befürworter habe ich an dieser Stelle Verständnis dafür, daß altgediente Sozis zur Ausschließeritis neigen. Wie sollte man zusammen regieren, wenn diese Hardcore-Njets im Kabinett sitzen und einen bei außenpolitischen Krisen handlungsunfähig machen?
Dabei war Gysi selbst mal Regierungsmitglied und hat als Wirtschaftssenator in Berlin eigentlich eine gute Figur gemacht. Das kann man fast generell über die ostdeutschen Linken-Minister und Senatoren sagen.
Die sind noch Gold gegen die realitätsverleugnenden Piraten, die jetzt gerade einen angeblichen Parteitag hinlegten, bei dem sie nach Helmut Kohlschem Vorbild die strittigen Themen alle ausklammerten, sich in irrelevanten Interna verstrickten und konsequent die Analyse ihrer Wahlpleiten verweigerten. „Desillusioniert und ausgebrannt“ nennt das selbst die linke taz.

Da ich gerade bei linken Zeitungen bin: Jakob Augsteins „Freitag“ hat die Ergebnisse des ausgehandelten Koalitionsvertrages in den „Wahlomaten“ eingegeben und folgende graphische Darstellung der „deutlichen SPD-Handschrift“ bekommen.


Im Übrigen habe ich das Konvolut inzwischen auch in gedruckter Form ins Haus geliefert bekommen und staune wirklich darüber, daß sich die Sozen auf so ein vages Geschwätz eingelassen haben.

Die eklatanten inhaltlichen Mängel des Vertrages habe ich in der vergangenen Woche immer wieder thematisiert, so daß ich sie nun nicht erneut aufzählen muß.
Ich war nie ein Fan der Vereinbarung.

Hinzu kommt aber, daß ich mich nun auch noch akut über meine Parteiführung ärgere.

So befindet sich beispielsweise auf der Rückseite der 96-seitigen Vorwärts-Sonderausgabe eine Liste von 17 Punkten, die „verbindlich und ohne Finanzierungsvorbehalt oder andere Hintertürchen“ im Koalitionsvertrag stehen.
Offenbar ahnt die Parteiführung schon, daß man dem allgemeinen Gewabere des Textes nicht glauben kann.
Unter diesen Punkten befindet sich auch:

Die Abschaffung des „Optionszwangs“ für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder.

Verbindlich und ohne Hintertürchen?
Was hier nach „doppelter Staatsbürgerschaft“ klingt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes. Wer beispielsweise Zürich geboren wurde, direkt nach seiner Geburt nach Deutschland übersiedelte und nun 20 Jahre hier lebt, kann eben NICHT auch den deutschen Pass bekommen.
Genauso wenig wie ich, obwohl ich „ein in Deutschland geborenes und aufgewachsenes Kind“ bin. Nur leider zu alt. Doppelpass gibt es nur für unter 23-Jährige und nicht für mich.

So ein billiges Getrickse ist wenig hilfreich, wenn man der Parteiführung vertrauen soll.
Das ist MIST, Sigmar Gabriel.

Insbesondere fühle ich mich von der Partei vorgeführt, weil sie mich zu umwerben scheint, um mein Ja-Votum zu bekommen, mir aber gleichzeitig Sand in die Augen streut bezüglich der Ministerposten.
Gerade bei den extrem schwammigen Vorgaben des K.O.alitionsvertrages wäre es natürlich wichtig zu wissen welcher Person ein Ressort anvertraut wird.
Gabriel will seine Parteiuntergebenen aber lieber ahnungslos und dumm lassen.

Wohl zu Recht; denn das was man bisher weiß und noch nicht dementiert wurde, läßt wieder darauf schließen, daß KOMPETENZ kein relevantes Kriterium ist, um einen Ministerposten zu bekommen. Es geht nur um Proporz und Quote.
Bisher wissen wir, daß die Sozen sechs Minister stellen werden, von denen drei Frauen sind. Da Gabriel, Steinmeier und Oppermann gesetzt sind, wissen wir auch, daß derjenige, der vermutlich in ganz Deutschland über die größte Kompetenz in der Gesundheitspolitik verfügt und dazu auch noch unbestechlich ist – nämlich Prof Karl Lauterbach – keinen Kabinettsjob bekommen wird.
Dabei kommt er sogar aus dem richtigen Landesverband (NRW! Kraft muß ja berücksichtigt werden) – aber er hat leider einen Penis und das geht in diesem Fall nicht. Also bekommt das Gesundheitsministerium entweder die Lobby-affine Nichtstuerin von der Leyen oder eine SPD-Frau, die sich nicht auskennt.
Das ist MIST, Sigmar Gabriel.

Der Parteivorsitzende ist sehr nervös wie man an seiner Attacke auf Marietta Slomka ablesen konnte.
Einen heftigen Fehlgriff im Ton verzeihe ich dem gestressten Mann gerne. Viel schlimmer ist aber sein inhaltlicher Ausraster weniger Tage zuvor im TV-Gespräch mit Uli Deppendorf:

Er hat eine scharfe Zunge und ist stets bestens informiert. Am Nicht-Wissen wird es also nicht gelegen haben, dass der SPD-Chef im Brennpunkt vergangene Woche die Vorratsdatenspeicherung mit einem der fürchterlichsten Anschläge in Europa rechtfertigen wollte. Der anlasslosen Datenspeicherung für sechs Monate hatte die SPD gerade im Koalitionsvertrag zugestimmt. Allerdings will man auf europäischer Ebene auf eine Verkürzung der Frist auf drei Monate hinwirken.
[….]  Auf die Frage, warum es denn die anlasslose Speicherung aller Kommunikation brauche, erwiderte Gabriel, das Beispiel Norwegen habe gezeigt, wie wichtig sie sei. Der SPD-Chef spielte damit auf den Anschlag des Rechtsterroristen Andres Breivik in einem Jugendcamp auf der norwegischen Insel Utöya und in Oslo im Sommer 2011 an. Gabriel wörtlich: "Durch die dortige Vorratsdatenspeicherung wusste man sehr schnell, wer in Oslo der Mörder war (...) Das hat sehr geholfen."
Nun ist es aber so, dass in Norwegen die Vorratsdatenspeicherung zwar formell beschlossen wurde, sie ist aber bis heute nicht umgesetzt worden. Die Regierung plant derzeit deren Einführung für das Jahr 2015. Breivik wurde also nicht aufgrund der Vorratsdatenspeicherung so schnell gefasst. [….] Mit der von Gabriel ins Feld geführten Vorratsdatenspeicherung hatte die Festnahme nichts zu tun. [….] Im Netz wird seitdem heftig darüber diskutiert. Besonders pikant: Die schärfste Kritik muss der SPD-Chef in den eigenen Foren lesen. Von Lüge und Instrumentalisierung ist da die Rede, von Verschleierung der Tatsachen und Verdummungsversuchen.
So schreibt Phillipp Weis, Polizeikommissar und saarländischer Landesvorsitzender der SPD-Jugendorganisation Jusos Saar: "Wenn es etwas gibt, dass ich Gabriel echt übel nehme, dann die falsche Instrumentalisierung des Utöya-Anschlags". Und Userin "Fräulein Brünett", ebenfalls SPD- und Juso-Mitglied, schimpft: "Lieber Sigmar, Utöya zu instrumentalisieren ist selbst für deine Verhältnisse ziemlich perfide."
Bei den Sozialdemokraten von sozis-gegen-vds.de fällt die Schmäh gegen Gabriel nicht weniger hart aus. "Hier werden ermordete Kinder instrumentalisiert, um schlechte Politik besser aussehen zu lassen", twittern die Macher.
Auch Journalisten reagieren empört auf diese Falschaussage. BR-Moderator Richard Gutjahr twittert nach der Brennpunkt-Sendung: "Was ist infam? Tote Kinder zu instrumentalisieren, um seine Politik zu rechtfertigen". Der ZDF-Journalist Mario Sixtus schreibt: "Meine Achtung vor Sigmar Gabriel unterschreitet langsam die Nullinie". Und einer seiner Follower ergänzt: "einfach unsäglich unwählbar".
[….] Hatte der stets gut informierte SPD-Chef im Brennpunkt nicht die Umstände des Anschlags von Utöya parat? Wohl kaum. Viel wahrscheinlicher ist, dass er derzeit mit buchstäblich allen Mitteln für einen positiven Ausgang des Mitgliederentscheids kämpft. Auf Kosten der Wahrheit.

Das ist MIST, Sigmar Gabriel.

Schließlich erfahre ich auch noch, daß die Lobbyisten den Vertrag als Sternstunde ihres Einflusses feiern. Nicht, daß die Wünsche der Milliardenschweren Lobbygruppen teilweise wörtlich im K.O.alitionsvertrag stehen, wundert mich.
Aber daß die Herren jetzt noch nicht mal mehr den Hintereingang nehmen müssen, sondern ganz offiziell als ihre „Berater“ von veritablen SPD-Ministerpräsidenten mit in die Koalitionsverhandlungen gebracht wurden, ist schon mehr als erbärmlich. Zu den entscheidenden Sitzungen der Arbeitsgruppe „Energie“ brachte der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke den „wohl bissigsten Lobbyisten für die Braunkohle“ (Spiegel), Ulrich Freese, mit und stellte ihn als „meinen Berater“ vor.
Freese diktierte „die konventionellen Kraftwerke (Braunkohle, Steinkohle, Gas) als Teil des nationalen Energiemixes sind unverzichtbar“ in den Koalitionsvertrag und so wurde es verabschiedet. Ein SPD-Ministerpräsident als ökofeindlicher Erfüllungsgenosse der Vattenfall-Klimakiller. Greenpeace ist entsetzt.
Bestandschutz für die konventionellen CO2-Schleudern – so lautet offenbar das Ziel der Sozis in der Energiewende.

„Kaum einer ist besser verdrahtet in der fossilen Energieszene als der Bundestagsabgeordnete aus der Lausitz“, heißt es in einem aktuellen Bericht des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ über Freeses Rolle als Woidkes Adlatus. Und über die Koalitionsverhandlungen heißt es darin: „Spätestens in der Sitzung der Arbeitsgruppe Energie wurde den SPD-Teilnehmern klar, was Freese wollte. Woidke zückte einen Zettel mit einem vorgedruckten Satz.“ Der gehöre unbedingt in die Koalitionsvereinbarung. Konkret geht es um diese Formulierung: „Die konventionellen Kraftwerke (Braunkohle, Steinkohle, Gas) als Teil des nationalen Energiemixes sind auf absehbare Zeit unverzichtbar.“ Laut Spiegel soll auf Freeses Betreiben hin dieser entscheidende Satz in den Koalitionsvertrag gekommen sein.

Ähnlich erfolgreich brachten RWE, die BahnAG und die Sparkassen ihre Wünsche im K.O.alitionsvertrag unter.

Das ist MIST, Sigmar Gabriel.

Es gibt aber auch Positives zu berichten.
Ausgerechnet der SPIEGEL, der in letzter Zeit einzuschlafen drohte und immer mehr hinterherhinkte, bringt unter seinem umstrittenen neuen Chefredakteur Wolfgang Büchner eine hintergründige und wohl formulierte Entstehungsgeschichte zu dem Koalitionsvertrag. Darin heißt es unter anderem:

Sollte sich die SPD-Basis nicht noch querstellen, wird Deutschland demnächst von einer Regierung geführt, deren programmatische Grundlage die aktuellen Meinungsumfragen sind. Es ist eine Koalition, die sich nichts anderes traut. Ein Bündnis der Hasenherzen. [….] Merkels Antworten machen die Sache nicht besser. In Erfurt sind ihre stärksten Argumente auch die, die Seehofer und Gabriel leiten: die Umfragewerte. „Sie werden sich erinnern, wie populär die Große Koalition im Wahlkampf war“, sagt sie, oder zum Mindestlohn: „78 Prozent der Unionswähler finden den super.“ Es ist ein schwieriges Verständnis von Führungskraft und Richtlinienkompetenz. Hätte Gerhard Schröder immer so gedacht, hätte es die Agenda-Reformen nie gegeben. [….] Politik gehorcht da nicht mehr den Gesetzen der Logik, sondern den Regeln der Tauschwirtschaft. Die SPD gab ihren Widerstand gegen das Betreuungsgeld auf, dafür erhielt sie zwei Milliarden Euro für den Kita-Ausbau. Dass sich beide Maßnahmen widersprechen, interessiert auf dem Basar niemanden mehr. Die Union gewährt der SPD den Mindestlohn, dafür schlucken die Sozialdemokraten die Pkw-Maut. Die Union will eine höhere Rente für Mütter, im Gegenzug wird die Rente mit 67 aufgeweicht. [….] Hasenfüßigkeit war die leitende Kraft dieser Regierungsbildung, und Hasenfüßigkeit ist auch der Ghostwriter dieses Vertrags. Er wurde verfasst von Parteien, deren Wähler immer älter werden. Deshalb schließen sie Verträge zu Lasten jener, die in der Minderheit sind. Es ist die Übersetzung von demografischen Tabellen in politische Schecks.
(DER SPIEGEL 49/2013)

Außerdem gab der neue stellvertretende Chefredakteur Nikolaus Blome seinen Einstand als Kommentator.
Der Mann war direkt von der entsprechenden Position bei der BILD abgeworben worden und hatte eine Aufstand der SPIEGEL-Ressortleiter verursacht. Niemand wollte sich von einem BILD-Mann etwas sagen lassen und Augstein-Erbin Franziska schloß die Übernahme von BILD-Journalisten zum SPIEGEL gar grundsätzlich aus, weil die Kulturen nicht zusammenpassten.

Vielleicht ist Blome auch ein Hasenfuß und traut sich nicht vor seinen neuen liberaleren Mitarbeitern den gewohnten BILD-Ton anzuschlagen.
Vielleicht ist aber auch vernünftiger als gedacht:

Die Große Koalition will eine „für die kleinen Leute“ sein. Sagte Sigmar Gabriel, und neben ihm nickte Angela Merkel. Eine zufällige Floskel? Noch ein Zückerle für die zögernden SPD-Genossen? Nein, es war ein Moment der Wahrheit: Angela Merkel und Sigmar Gabriel haben das Bild sehen lassen, das sie sich von den Menschen in Deutschland gemacht haben. Das ihre Politik prägen soll. Wie entlarvend. Die „kleinen Leute“, das ist ein anmaßendes Wort, alt und prall von Paternalismus. Wer Bürger kleine Leute nennt, der macht sie klein. [….]   Schlimmer noch: Die Milliarden in der Rentenkasse hätten dem Arbeiter und der Supermarkt-Kassiererin gehört, aber ihre Beiträge werden nicht gesenkt. Sie bezahlen die neue Fürsorge zum großen Teil selbst. Heißt: Den kleinen Leuten wäre wohl besser gedient, wenn nicht so viel Politik gemacht würde, die für die kleinen Leute gut sein soll. [….] Das hätte nicht so kommen müssen, denn zu Beginn von Angela Merkels dritter Amtszeit gäbe es genug große Fragen: Ob Deutschland in Europa ungeliebte Führungsmacht sein will oder besser nicht. Warum 125 Milliarden Euro an „familienbezogenen“ Leistungen jedes Jahr ausgegeben werden, obwohl sie nicht zu mehr Geburten führen. Warum es in Deutschland nach 40 Jahren progressiver Bildungs- und Gesellschaftspolitik weiterhin ganz überwiegend am Geldbeutel der Eltern hängt, wie weit es ein Kind bringt. Wie es zusammen - passt, dass der Staat zuerst für Milliarden Kitas baut, um Frauen eine Erwerbstätigkeit zu erleichtern – und sie dann mit Steuersystem und der kalten Progression ausnimmt wie die Weihnachtsgans. Wer im Koalitionsvertrag nach solchen Fragen oder gar nach Antworten sucht, der findet: nichts.
(Nikolaus Blome, 02.12.13)

Meine Partei hat mir heute mitgeteilt, wie man beim Mitgliederentscheid mitmacht und alle erforderlichen Unterlagen geschickt.
Eine „Hilfsperson“ werde ich wohl nicht brauchen, sondern vermutlich eigenständig dazu in der Lage sein, meine Stimmkarte nach Berlin zurück zu schicken.


Aber ich kann mir gerade wirklich nicht vorstellen, wie mein Kreuz auf dem Ja-Kästchen landen soll.

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