Montag, 29. April 2019

Das Kindersex-Rezept


Kleine Vorgeschichte:

Vor ein paar Wochen las ich in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über die „Beauty Boys“ auf Youtube.

[….] Sie sind Jungs. Wer bei Google nach dem Schlagwort "Beauty Boys" sucht, findet zum Beispiel Dreizehnjährige, die ihre Morgenroutine filmen. Aufstehen, Peeling, Eincremen, Foundation, Wimperntusche, ein letzter Blick in den Spiegel und dann ab in die Schule. Fünfzehnjährige, die ihre Schminktipps und den neusten Nagellack mit der Welt teilen. [….]

Da fühlte ich mich sehr alt, spießig und close-minded.
Was bin ich nur für ein herkömmlicher Mann: Ich habe kein Tattoo, kein Piercing, trug noch nie ein Schmuckstück. Kein Ring,  kein Armband, kein Ohrring und auch keine Schminke.
Und ich bin zudem auch noch ein Modemuffel. Trage das gleiche Zeug, das ich auch schon vor 30 Jahren anhatte.

Natürlich habe ich auch schon von diesen Kardashian/Jenners gehört und dabei gelernt, daß das nicht nur herkömmliche Selbstdarsteller/Nichtskönner sind, sondern mit Fleiß und Geschäftssinn zu sagenhaften Reichtum gelangen.
Eins der Blagen ist noch als 20-Jährige mit in China produziertem Schminkzeug Milliardärin geworden.
Ihre 128 Millionen Instagram-Follower machen sie als Influencerin so wertvoll, daß sie mit jedem Posting eine weitere halbe Million verdient.

Da diese Welt so extrem weit weg von mir ist, googelte ich ein bißchen und fand heraus, daß der Ur-Beautyboy natürlich Amerikaner ist: Jeffree Star, 15 Millionen You-Tube-Abonnenten, eigene Make-Up-Produktlinie.

[….] Jeffree is a Big Deal in the beauty industry. According to Celebrity Net Worth, the 31-year-old rakes in more than $210 million dollars a year via his YouTube channel, cosmetics line and other random side hustles. After taxes and other overheads are taken out, Jeffree pockets approximately $70 million. [….]

Eine zunächst einmal sehr bizarre Welt war das, als ich mir die ersten Jeffree-Star-Videos ansah.

Dann passierte aber etwas Unerwartetes: Ich begann den Typ zu mögen und bewundere ihn inzwischen sogar.
Schon als Teenager hielt er sich an keine Regel, passte sich nicht an, putzte sich als schrilles Mädchen raus. Viele Jahre provozierte er damit den blanken Hass. Solche „faggots“ werden durchaus auch mal totgeschlagen in den USA.
Es war ein langer Weg konsequent auf alle Rollenklischees zu pfeifen und es zu Anerkennung und Reichtum zu bringen.
Diese Youtuber haben inzwischen durchaus das Klima verändert, weil so viele junge Leute sich über diese Plattform als alles Mögliche outen, das nicht ins konservative Weltbild passt.
Sie kiffen vor der Kamera, erzählen von ihren sexuellen Abenteuern und leben ihre Exzentrik aus.
Jeffree Star lebt seit einigen Jahren in einer offenbar sehr glücklichen festen Beziehung zu einem jungen Mann, Nathan, der interessanterweise gar nicht schrill ist, sondern ein bis dato rein heterosexueller gechillter Typ aus der Provinz in Michigan, der sich mit Skateboardfahren beschäftigte.
Nathan hatte vorher nur mit Frauen amouröse Verbindungen, fühlt sich aber open-minded und lehnt „labels“ ab.
Was passiert nun, wenn so eine Beziehung ernster wird und man als kleines Landei diese schrille, geschminkte Dragqueen-artige Person nach Hause bringt und sie seinen Eltern vorstellt?
Erstaunlich wenig. Nathans Eltern mögen den/die Neue. Nathans jüngerer Bruder, ebenfalls „only into girls so far“, taucht ebenso selbstverständlich beim Schminken auf, wie Jeffrees Schwiegervater.


Ein letzter Satz zu dieser Geschichte: Als sich das heute so glückliche Paar fand, gab es Kosmetik-Geschichte noch nicht. Jeffree hatte kein Geld. Daran lag es also nicht.

Als Pessimist und Antinatalist verspüre ich – ganz gegen meine Gewohnheit – ein bißchen Hoffnung für die Zukunft.
Offenbar gibt es da eine junge Generation, die tatsächlich andere Menschen weniger danach beurteilt, wie sie in Schablonen passt. Die respektieren jeden anderen Lebensentwurf und sind sehr aufmerksam bei Rassismus, Homophobie, Sexismus, fat-shaming und was es da sonst noch alles gibt.

Könnte die Menschheit, zumindest in einigen Teilen der Welt, tatsächlich dazulernen und toleranter werden?
Ist es möglich offen über alles zu sprechen, nichts zu vertuschen und auch all das zu respektieren, das einem persönlich nicht gefällt?
Haben #MeToo und #Pride doch langfristig den Effekt, daß Bullys wie Trump weniger mit ihren Methoden durchkommen?

Natürlich gibt es immer noch Tabus. Atheismus wird vielerorts nicht akzeptiert und gerade die amerikanischen Medien geben sich noch sehr eigenartige Regeln, indem jeder Nippel zensiert und jedes f-Wort weg-gebeept werden muss.
Wer in seinem von 30 Millionen Menschen angesehen VLOG einmal das Wort „Penis“ ausspricht, wird „demonetized“, verliert also sofort 100% aller Werbe- und Sponsoring-Erlöse.

Aber grundsätzlich schafft Offenheit für Gender, Ethnien, Vorlieben, Orientierung, Moden ein Klima, in dem es immer weniger Missbrauch und Diskriminierung gibt.

Ohne Sanktionen Schwächere zu quälen und missbrauchen, bleibt nach wie vor eine Spezialität konservativer Verhältnisse mit festgefügten Strukturen.
 Regeln, Hierarchien, Obrigkeiten sind die Zutaten, um Kinder zu schlagen und zu quälen.

Wir lesen täglich die Berichte über die Hunderttausenden Kinder, die in den Strukturen der katholischen Kirche von Geistlichen geprügelt, gefoltert und in jeder Hinsicht missbraucht wurden.

Konservative Geisteshaltung, Ausschluss von Frauen, Ächtung von Homosexualität und Religiosität führen aber auch außerhalb der RKK zu massenhaften Kindesmissbrauch.

Zum Beispiel amerikanische Pfadfinder. Die Boy Scouts, bei denen Millionen Christen im Alter zwischen 7 und 17 von ausschließlich männlichen Betreuern streng hierarchisch bespaßt werden, sind der ideale Nährboden für das Kinderficken.
8.000 Boy-Scout-Betreuer haben mindestens 12.000 kleine Jungs missbraucht.


[…..] The Boy Scouts of America believed more than 7,800 of its former leaders were involved in sexually abusing children over the course of 72 years, according to newly exposed court testimony -- about 2,800 more leaders than previously known publicly.
The Boy Scouts identified more than 12,000 alleged victims in that time period, from 1944 through 2016, according to the testimony, which was publicized Tuesday by attorney Jeff Anderson, who specializes in representing sexual abuse victims.
The numbers, Anderson said, come from what the BSA calls its volunteer screening database -- a list of volunteers and others that the Boy Scouts removed and banned from its organization over accusations of policy violations, including allegations of sexual abuse. [….]

Es ist genau wie in der katholischen Kirche.
Die Opfer waren irrelevant, die christliche Organisation funktionierte über viele Jahrzehnte nur als Beschützerin der Pädophilen.


In dem Wahn alles zu verbieten, das queer/weiblich/schwul/extravagant ist, schafft man einen Sumpf, zu dem sich Pädosexuelle hingezogen fühlen.
Die Kirche und Boy Scouts schaffen die Strukturen für Kindesmissbrauch und betreiben einen sagenhaften Aufwand, um die Täter zu schützen.

Als Nichtchrist habe ich im Falle „Boy Scouts“ immerhin den kleinen Trost, daß es durch eine völlig andere Medienwelt viel schwerer wird solche Verbrechen zu vertuschen. Es wird dann sogar möglicherweise so teuer, daß diesen Verbrecherorganisationen das Handwerk gelegt werden kann.

 [….] Seit Jahren kämpfen die Boy Scouts, die sich 2018, um auch Mädchen aufnehmen zu können, in Scouts BSA umbenannten, mit der Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen. Bereits 2010 musste die von dem Philantropen William Boyce gegründete Organisation aus Irving (Texas) in einem einzigen Fall im Bundesstaat Oregon 18,5 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen. Ein Kleckerbetrag im Vergleich zu dem, was den Pfadfindern ins Haus stehen könnte, wenn jene Prozesslawine ins Rollen kommt, die sich seit wenigen Tagen abzeichnet.
Akten über Missbrauchsfälle sprengen alle bisher bekannten Dimensionen
Dreh- und Angelpunkt ist das Gutachten einer Professorin der Universität von Virginia, die eigens von den Boy Scouts beauftragt worden war. [….]
Was Janet Warren, Expertin für sexuellen Missbrauch, binnen fünfjähriger Kleinarbeit herausfand und was eher zufällig durch ein Gerichtsverfahren ans Tageslicht kam, sprengt alle bisher bekannten Dimensionen. Danach hatten die Boy Scouts seit den 1940er-Jahren bis 2016 mindestens 7819 Täter identifiziert – und 12.254 Opfer. Zögen davon viele vor Gericht und klagten auf finanzielle Wiedergutmachung, stünde die Pfadfinderbewegung nach Berichten amerikanischer Medien möglicherweise vor dem Ruin. [….] (Hamburger Abendblatt, 29.04.19)