Montag, 21. Oktober 2019

Personalprobleme


Gestern Nacht habe ich den aktuellen SPIEGEL durchgelesen. Die Titelgeschichte taugt so gar nicht als Erbauungslektüre.

[….] Rückzug aus Syrien
Die Kapitulation des Westens wird zur Gefahr für Europa
Die USA ziehen ihre Truppen ab - und die EU schaut machtlos zu, wie die Despoten Putin, Erdogan und Assad das Bürgerkriegsland unter sich aufteilen. […..]

Vielleicht habe ich mich in den Wochen zuvor etwas zu viel mit dem amerikanischen Aspekt des Desasters beschäftigt, weil die Handlungen Trumps selbst für seine Verhältnisse so extrem dumm und gefährlich sind.
Die SPIEGEL-Autoren wenden den Blick aber auch auf die Handelnden vor Ort, die total versagende EU und das geschickte Strippenziehen Putins und Lawrows.


Es ist außerordentlich deprimierend, seit zweieinhalb Jahren weiß die EU mit wem sie es in Washington zu tun hat, seit Jahren befindet sich tout Brüssel in der Abhängigkeit Erdoğans. Der Mann hält 3,6 Millionen Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge als Geiseln und erpresst damit 28 andere Staaten, die seitdem nichts, aber auch rein gar nichts geschafft haben, um auf die internationalen Krisen einzuwirken, die viel zitierten „Fluchtursachen“ abzuschwächen oder einfach die notleidenden Menschen untereinander zu verteilen.
Man kann es nicht fassen was sich die EU gerade leistet. Da wird über einen Brexit gesprochen, der ein zu 100% durch eigene Doofheit selbst generiertes Problem ist und nur noch als surreale Comedy wahrgenommen wird. Verhandelt wird auf europäischer Seite übrigens von dem längst abgewählten Jean-Claude Juncker, weil die neue Chefin Ursula von der Leyen in der Versenkungen verschwunden ist, sich offensichtlich gar nicht mehr an die Öffentlichkeit traut seit sie durch eigene Unfähigkeit und eine extra Portion Borniertheit gleich dreifach mit ihren Kommissaren scheiterte.
Manfred Weber von der EVP-Fraktionsspitze, von der Leyens eigener Partei also, senkte die Daumen über Sylvie Goulard, weil er Macron eins dafür auswischen wollte von der Leyens größter Förderer zu sein.
Die neue Kommissionschefin sah es nicht kommen, griff nicht ein, sprach gar nicht mit der EVP, weil sie nicht nur nicht die geringste Ahnung hat wie Brüssel funktioniert, sondern sich bis heute auch noch hartnäckig weigert Leute zu engagieren, die es wissen.
Sie hockt lieber mit ihrer alten niedersächsischen Gang in irgendwelchen Hinterzimmern und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.


Wenn man das gewaltige Politikversagen des Europäischen Rates und den nie dagewesenen Sumpf in den USA betrachtet, wenn man rekapituliert wie die gesamte westliche Welt schmachvoll die Segel streicht und auf ganzer Front dilettierend vor den Autokraten Erdoğan, Putin, Assad und Rohani scheitert, kommt man nicht umhin die Systemfrage zu stellen.

DER SPIEGEL, stets ein deutlicher Kritiker Putins, liest sich derzeit fast wie RT.

[…..] In Syrien passiert, was Putin will
Erdogan und Putin demonstrieren gern ihre Freundschaft. Aber wenn sie sich nun in Sotschi treffen, fehlt die Augenhöhe: Im Syrienkonflikt ist der türkische Präsident dem Kremlchef ausgeliefert. […..]


Während aber RT skrupellose Propaganda betreibt, geben die SPIEGEL-Autoren Christian Esch, Julia Amalia Heyer, Katrin Kuntz, Roland Nelles, Maximilian Popp, Christoph Reuter, Raniah Salloum, Christoph Scheuermann und Severin Weiland im Moment nur die Wahrheit wieder: Putin hat gewonnen. Während die gesamte EU mit fünfmal so vielen Einwohnern und einer unendlich viel stärkeren wirtschaftlichen Leistung als Russland seit 2010 hilflos vor Syrien steht und nicht die geringste Ahnung hat, was man unternehmen könnte, ist dem Kreml-Herrn gelungen sich zum ganz starken Mann der Region aufzuschwingen.


Das SPIEGEL-Titelbild erweckt in der Tat den Eindruck; die demokratischen Staaten sind die Diktatoren hoffnungslos unterlegen, kapitulieren und versagen.
Erschwerend kommt hinzu, daß die wenigen Regierungschefs aus (noch) demokratischen Nationen, die sich international durchsetzen gerade die sind, die sich zwar noch demokratisch wählen ließen, dann aber massiv die Axt an die demokratischen Wurzeln ansetzten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, unabhängige Justiz – all das ist in Russland, Ungarn, Polen und der Türkei mehr als fraglich.
Aber sind solche Staatschefs stark, weil sie ihre Demokratien in Autokratien umwandeln?
Ich meine nein, sie können das tun, weil die anderen Demokraten zu schwach und zu heuchlerisch sind.
Man kann natürlich nichts als EU Geld mit Waffenlieferungen in den Nahen Osten verdienen, die eigene Agrarlobby auf Kosten afrikanischer Farmer bedienen und die daraus folgenden Migrationsbewegungen einzig und allein Diktator Erdoğan überlassen und sich ansonsten darauf verlassen, daß Rechtspopulisten wie Kurz, Salvini und Orban die Außengrenzen hermetisch abriegeln, jeden ersaufen lassen, der flieht.

Klar, diktatorische Planwirtschaften wie China können Großprojekte in vergleichsweise atemberaubender Geschwindigkeit umsetzen, weil sie anders als Demokratien keine Rücksichten auf Bürgerrechte, Sozialstandards oder Umwelt nehmen müssen.

Aber Putin triumphiert nicht deswegen über den Westen.
Sein Vorteil ist vielmehr, daß er sehr viel intelligenter als Trump ist, daß er keine Zeit mit der Sorge um Wiederwahl verschwendet und außerdem nicht unter dem unerträglichen Phlegma einer Angela Merkel leidet. Er plant langfristiger.

[…..] Putins geniales Spiel
[…..] Putin muss nach der Kapitulationserklärung Trumps kaum in den Syrienkonflikt eingreifen, es läuft für ihn auch so alles nach Plan. Durch geschickte Diplomatie und skrupellose Kriegführung hat er Assad an der Macht gehalten.
Nach dem Rückzug der Amerikaner ist Russland die einzig verbliebene Großmacht in Syrien. Putin ist in einer Position, in der er alle anderen Kräfte fortwährend gegeneinander ausspielen kann.
Während die USA ihre Verbündeten in Syrien gegen sich aufgebracht haben, hat Russland über die Jahre das Gegenteil erreicht: Mit Assad und Iran ist Putin ohnehin verbündet. Aber auch die türkische Führung, die einmal mehr den Kampf gegen die Kurden geschickt instrumentalisiert, rückte immer näher an Moskau heran. Den Kurden wiederum bleibt nach dem Einmarsch der Türken keine andere Wahl, als auf Russlands Vermittlung zu hoffen. Es ist an Putin und an seinem so brillant wie skrupellos taktierenden Außenminister Sergej Lawrow zu entscheiden, wer welche Gegenden in Syrien bekommt.
Putin und Lawrow haben im Verlauf des Krieges nie ausschließlich auf Assad gesetzt, sondern auch mal den Türken und den Kurden geholfen. Anfang August, bei der 13. Runde der sogenannten Astana-Gespräche in der Hauptstadt von Kasachstan, bereiteten Moskaus Unterhändler den entscheidenden Zug vor. Die Gespräche liefen nach Russlands Willen und Vorstellung, Iran und die Türkei waren mit dabei, die USA und Europa dagegen nicht. […..] Nicht der Erfolg der türkischen Invasion liegt in Moskaus Interesse, sondern deren Scheitern. Aber Putin und Lawrow spielen gern über Bande. Und in der vergangenen Woche ist alles nach Wunsch verlaufen: Putin antizipierte, anders als Erdoğan, dass sich die Kurden im Falle eines Rückzugs der Amerikaner und eines Angriffs der Türkei Assad zuwenden würden. Assads Machtbereich wird nun schlagartig größer. Im Norden Syriens gibt es Ölquellen, die Geld bringen, außerdem leben dort Hunderttausende Syrer, die Assad, ohne einen Schuss abfeuern zu müssen, zurückbekommt.
 […..]
(DER SPIEGEL Titelgeschichte, 18.10.2019)


An dieser Stelle muss man sich die alte Weisheit Egon Bahrs vergegenwärtigen.

"In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt."
(Egon Bahr)

Putin und Erdoğan sind einst sehr weit auf Deutschland und die EU zugegangen.
Ihre staatlichen Interessen waren klar: Im Konzert der Großen anerkannt werden, enge Bindung an die EU und wirtschaftlicher Aufschwung.
Auf diesen drei Grundlagen hätte Europa sie integrieren und ins demokratische Lager ziehen können. Schröder und Fischer verstanden das.
Die CDU wollte aber höchstens den dritten Punkt gewähren und so wurde es zu einem der folgeschwersten Kardinalfehler Merkels, daß sie nach ihrem Amtsantritt mit dem Kriegsverbrecher GWB paktierte und dafür Russland und die Türkei maximal vor den Kopf stieß.
 Die so Gedemütigten versuchten es noch eine Zeit lang weiter. Gaben es aber irgendwann auf, orientierten sich stattdessen an Diktaturen, brachen die offensichtlich zu nichts führenden Demokratisierungsbestrebungen ab, verkehrten sie ins Gegenteil und sannen schließlich auf Rache.
Sie griffen zu, als sich die Gelegenheit ergab die EU zu erpressen und staunten wie plan- und wehrlos Brüssel alles geschehen ließ.
Die Erkenntnis, daß die EU so nicht weitermachen kann, ist alt. Wir brauchen Reformen, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, die Abschaffung des erpresserischen Mehrheitsprinzips. Europa braucht eine „Telefonnummer“, also handlungsbefugte Vertreter, die auf internationaler Ebene agieren.
Stattdessen kochen auch und gerade die Deutschen lieber ihr eigenes Süppchen, sehen achselzuckend zu, wenn einer wie Macron immerhin versucht das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und verfallen bis heute in einen aufgeregten Hühnerhaufenmodus, wenn Trump und Erdoğan plötzlich in Syrien Tatsachen schaffen.
Syrien? War da was? 2015? Kurden? IS?
Vier Jahre Zeit verplempert ist die Bilanz der gegenwärtigen europäischen Regierungschefs.


Ich behaupte aber, es liegt nicht an den demokratischen Strukturen, daß man hilflos den erratischen Launen Washingtons und sinisterer Autokraten ausgeliefert ist. Die EU ist immer noch ökonomisch sehr stark und könnte durchaus kraftvolle Antworten finden.
Die EU hat aber ein gewaltiges Personalproblem.
Überall sitzen hasenfüßige Egoisten in den Staatskanzleien, die nicht weiter als bis zu ihrer Wiederwahl denken. „Nach uns die Sintflut“ ist das Motto.
Wer noch nicht mal digitale Infrastruktur und Klimapolitik anfasst, bekommt bei internationalen Großkonflikten erst Recht auf keinen gemeinsamen Nenner.
Möglich wäre es, wenn es noch weitdenkende international vernetzte Staatsmänner gäbe.
Wären statt Orban, Merkel, Johnson und Kurz noch Kaliber wie Helmut Schmidt, Valéry Giscard d'Estaing, Kreisky, Brandt, Gonzalez, Władysław Bartoszewski, Olof Palme „am Ruder“, bin ich mir sicher, daß sie sich schon seit Jahren eng abgestimmt hätten, um den lange drohenden Desastern im Nahen Osten, in der Türkei, in Moskau entgegen zu wirken.

Noch deprimierender ist, daß auch das lange klar ist. Im letzten Bundestagswahlkampf setzte die SPD mit dem ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Schulz und dem Außenminister Gabriel ganz auf die Europäische Karte, versprach Macrons Reformbemühungen zu unterstützen, international enger zusammen zu arbeiten.
Allein, die Wähler wollten es nicht, straften RRG ab, holten Antieuropäer ins Parlament und machten erneut eine Märkische Schlaftablette zur Kanzlerin, die schon in den 12 Jahren zuvor alles liegen ließ.

Durchaus verständlich, daß Deutschland in Moskau und Ankara ausgelacht wird.

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