Samstag, 14. Dezember 2019

Nicht übertreiben beim Antisemitismus

Natürlich habe ich mich auch manchmal über Jakob Augstein geärgert. Etwa in der Kinderbeschneidungsdebatte, als er das Thema ganz offensichtlich nicht recht zu Ende dachte und sich auf die Seite der Kinderschnibbler warf.
Augstein, 52, SPD-Mitglied seit 1992, konnte bei aller Vernunft ab und zu erstaunlich Unvernünftiges heranziehen, indem er beispielsweise den richtigen friedenspolitischen Ansatz mit Bibelzitaten untermauerte.
2016 warf er sich für den höchst zweifelhaften Volker Beck in die Bresche.
Grundsätzlich bedauere ich aber das Ende der Augstein-Kolumne „Im Zweifel links“ (1/11-10/18), weil er als einer der wenigen Meinungsjournalisten ein kenntnisreicher Querdenker war, der sich traute Unpopuläres anzusprechen.
Viele Mal zitierte ich ihn voller Überzeugung.
Insofern war es ein harter Schlag für mich als ihn das renommierte Simon-Wiesenthal-Center im November 2012 auf Platz 9 seiner jährlichen Rangliste der „Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“ setzte und sich dabei ausgerechnet auf den längst nicht mehr seriösen Henryk M. Broder stützte, der Augstein mit Hitler verglich und ihn einen  „lupenreinen Antisemit, eine antisemitische Dreckschleuder“ nannte.

[….] Respected Die Welt columnist Henryk M. Broder, who has testified as an expert in the Bundestag about Germananti-Semitism, labeled Augstein a “little Streicher” adding: “Jakob Augstein is not a salon anti-Semite, he’s a pure anti-Semite...an offender by conviction who only missed the opportunity to make his career with the Gestapo because he was born after the war. He certainly would have had what it takes. [….]

Offensichtlich ist hier etwas verrückt, wenn Broder so über einen linksliberalen Humanisten herzieht, der niemals das Existenzrecht Israel bestritt oder das Judentum angriff, aber Augstein der Böse und Broder der Gute ist.
Antisemitismus ist eine komplizierte Sache. Insbesondere wenn Israelische Politik im Spiel ist und nicht sauber zwischen Israelis, Juden, der Politik der Israelischen Regierung und der Bestrebungen israelischer Lobbygruppen in den USA unterschieden wird.
Wenn man alles in einen Topf wirft und in irgendeiner Weise den Eindruck erweckt, man kritisiere nicht den Staat Israel oder israelische Politik wegen ihrer Handlungen, sondern weil sie Juden sind, bedient man in der Tat Klischees aus der NS-Zeit, nach denen es eine „jüdische Weltverschwörung“ gab und immer irgendwie „die Juden“ hinter einem Übel stecken.
Vor 20 Jahren nannte ich einen sehr guten Freund, der jedes Extremismus‘ unverdächtig ist, zu seinem großen Entsetzen „sekundären Antisemit“. Er fiel aus allen Wolken, empörte ich, wie ich ihm das vorwerfen könne.
Der Grund waren sachliche kritische Bemerkungen zum Engagement der Journalistin Lea Rosh. Er hatte bewußt etwas schärfer formuliert, weil er wußte, daß ich Rosh sehr verehre und verteidigen würde. Soweit war alles in Ordnung, aber er nannte sie in dem Zusammenhang auch „Jüdin“. Sie ist aber keine Jüdin; er hatte das nur aufgrund ihres Aussehens und des Themas in sie hineininterpretiert.
Und genau das ist sekundärer Antisemitismus: Etwas oder jemand, der einem missfällt unterbewusst für jüdisch zu halten.
Die Augstein-Debatte von 2012 war durch mehrere Sub-Ebenen verkompliziert.
Es spielte natürlich eine Rolle, daß Augstein Deutscher ist und außerdem war knapp drei Jahre vorher herausgekommen, daß Augsteins leiblicher Vater nicht wie immer angenommen Rudolf Augstein war, sondern Martin Walser, 92, der bei seiner Paulskirchenrede 1998 in der Tat antisemitisches Gedankengut kundtat, das er 2002 sogar noch mit seinem Anti-Reich-Ranicki-Buch „Tod eines Kritikers“ und der Schmähung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas als „fußballfeldgroßer Albtraum im Herzen der Hauptstadt“ und „Kranzabwurfstelle“ bekräftigte.
Wenn sich das weltweit agierende SWC auf einen einzelnen Journalisten ohne internationale Bedeutung und Bekanntheit stürzt, ist das ein Musterbeispiel für den Streisand Effekt – damit machte es Augstein erst bekannt und berühmt.
Auch das Bild des kleinen deutschen Journalisten, der aus dem großen Amerika mit der Antisemitismuskeule mundtot gemacht werden soll, hat noch eine weitere Ebene. Denn so ein kleines Opfer ist der Kolumnist nicht. Er ist Besitzer der Wochenzeitung „der Freitag“ und darüber hinaus Multimillionär und Mitbesitzer des SPIEGELs.

[…..]"Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." […..]

Ich glaube, Jakob Augstein verwendete bei seinen Artikeln, die sich mit dem Nahostkonflikt beschäftigten einige Begriffe etwas zu sorglos.
Aber weder die Juden, noch Israel beschäftigten ihn „obsessiv“, wie es einige seiner Kritiker behaupteten und Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland ausdrücklich im Spiegel-Streitgespräch 2013 wiederholte.

[…..] Ganz so locker kann ich es nicht nehmen. Broder schrieb, ich hätte auch bei der Gestapo Karriere machen können und an der Rampe meinen Dienst versehen. […..]
[…..] Ich habe für SPIEGEL ONLINE etwas über 100 Kolumnen geschrieben, davon beschäftigen sich 5 mit Israel und eine mit Antisemitismus. Wenn ich von Israel besessen wäre, sähe das anders aus. […..]  Vielleicht habe ich mehr Normalität im Umgang mit Israel, als Ihnen bewusst ist. Ich will diesen neurotischen Journalismus nicht. Ich schreibe über Angela Merkel oder über Amerika oder über die Linken oder die SPD nicht anders. [….]

Auch nach sieben Jahren wird noch über die „Augstein-Affäre“ gesprochen. In die vielen ARD- und ZDF-Talkshows wird er nicht mehr eingeladen.
Ich glaube nicht, daß sich Graumann mit seiner „Whataboutism“-Strategie einen Gefallen tat; immer wieder fragte er Augstein, wieso er nicht den Iran kritisiere und ob nicht andere Spieler im Nahen Osten viel schlimmer als Netanjahu wären.
Das mag alles zutreffen, ist aber kein Grund Israel nicht auch zu kritisieren und wird garantiert von echten Antisemiten als Versuch der Installierung eines Tabus missverstanden.
Das SWC beging meines Erachtens einen schweren Fehler sich aus dem fernen Los Angelas ausgerechnet auf den Kronzeugen Broder zu stützen. Das führt garantiert nicht zu einer sachlichen Debatte, sondern nur zu Augstein-Solidarisierungen.

[….] „Früher war es eine Schande, für einen Antisemiten gehalten zu werden“, schreibt Augstein in seiner Kolumne vom 26. November unter dem Titel „Überall Antisemiten“. Und folgert daraus: „Inzwischen muss man einen solchen Vorwurf nicht mehr ernst nehmen. Im Meer der hirn- und folgenlosen Injurien des Internets geht auch diese Beschimpfung einfach unter.“
[….] Doch der Journalist irrt: Diesmal hat es der Vorwurf der Judenfeindlichkeit bis nach Los Angeles ins renommierte SWC geschafft, Augstein ist als einziger Deutscher auf der Liste. [….] Ist Augstein ein Hamasversteher? Von einem linken, intellektuellen Antisemitismus infiziert? Einer der Polterstenden, Henryk M. Broder, hat diese Frage für sich jetzt deutlich mit Ja beantwortet. In seinem „Brief an meinen Lieblings-Antisemiten“ (Welt, 6.12.) wendet sich der Journalist Broder direkt an Augstein und macht sich über dessen „Juden-Obsession“ her: „Auch ich kenne einen Antisemiten, den ich mag. Er ist umfassend gebildet, hat gute Manieren, ein Herz für die Armen und Ausgebeuteten und er verjubelt sein Erbe, um ein sieches Zeitungsprojekt am Leben zu erhalten. (...) Sie, Jakob Augstein, sind 'my favorite anti-Semite'.“ [….]

2012 wurde eine Chance vergeben die Debatte über die Sprache zu sensibilisieren, weil Graumann und Broder völlig überzogen. Weil sie damit nur Applaus von der Seite für Augstein generierten, den er gar nicht haben will.
Ich fürchte, das SWC und Broder schreien zu oft Feuer, um noch ernst genug genommen zu werden. Das ist umso bedauerlicher, da es tatsächlich öfter brennt als vorher. Antisemitische Übergriffe in Deutschland häufen sich.
Da braucht es seriöse Publizisten, die das ernst nehmen und Politiker, die etwas dagegen unternehmen.
Wir brauchen Journalisten, die „Feuer“ rufen, aber würde man überhaupt nach auf Broder hören, wenn es antisemitische Umtriebe gibt, nachdem er so exzessiv auf einen harmlosen Mann wie Augstein einprügelte und 2011, im Jahr zuvor öffentlich erklärte er sei stolz darauf von Anders Behring Breivik gelesen worden zu sein?

Das Simon Wiesenthal Center ist seither nicht etwas vorsichtiger und seriöser geworden, sondern fängt offensichtlich an zu spinnen.

2019 geriet das SWC in die Kritik, weil es auf seiner Liste der zehn schlimmsten weltweiten antisemitischen Zwischenfälle auf Platz sieben die deutsche Bank für Sozialwirtschaft führte, denn diese habe ein Konto der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost bei ihr nicht gekündigt. Diese Organisation kritisiert die israelische Politik in den besetzten Gebieten und wird von einigen Quellen in einen Zusammenhang mit Boycott, Divestment and Sanctions gerückt. Stefan Reinecke kommentierte, die Liste sei „zwischen Klamauk und Agitprop angesiedelt“, das beste wäre, sie zu ignorieren.
(Wikipedia)

Ich bedauere die Entwicklung, weil es seriöse Warner braucht, um auf die weltweite Pest der Xenophobie, der Homophobie, der Misogynie  und natürlich auch des Antisemitismus‘ aufmerksam zu machen.

So wie sich Guido Westerwelle versündigte als er Kritik an seiner erratischen, desinteressierten Außenpolitik als „schwulenfeindlich“ einstufte, muss auch das SWC davon absehen „Antisemitismus“ zu schreien, wenn da keiner ist.

[….] Die Bundesregierung verteidigt den deutschen UN-Botschafter Christoph Heusgen vehement gegen Antisemitismus-Vorwürfe. "Botschafter Heusgen mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen, ist abwegig", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Freitag. Jerusalem Post und Bild hatten berichtet, der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei vom Simon-Wiesenthal-Zentrum auf Platz sieben der "zehn schlimmsten Fälle von antisemitischen Verhalten" dieses Jahr gesetzt worden. Als Begründung wurde unter anderem das Abstimmungsverhalten bei gegen Israel gerichteten Resolutionen angeführt. Abstimmungen erfolgten ausschließlich auf Weisung aus Berlin, betonte der Sprecher. [….]

Nein SWC, nein Apollo-News und nein tw-24, wenn ein Botschafter im Auftrag seiner Regierung bestimmten politischen Resolutionen der UN zustimmt, ist er nicht automatisch Antisemit. Auch Merkel und Maas sind keine Antisemiten.
Da hilft auch kein Whatabaoutism und das Aufzählen der vielen größeren und böseren Länder als Israel.

[….] Die deutsche Delegation, angeführt neben Außenminister Heiko Maas auch von dem deutschen UN-Botschafter Christoph Heusgen, stimmte in den vergangenen 8 Resolutionen gegen Israel (alle an einem Tag verabschiedet) 7 mal mit „Ja“, einmal wurde sich enthalten.
Nicht nur, dass die von der UN ausgehenden Resolution sich ausschließlich gegen den kleinen jüdischen Staat richten, gegen KEIN anderes Land, weder Saudi-Arabien, Iran, China, Sudan, Kongo oder die Türkei, auch gehen sie immer von Anträgen islamischer Autokratien wie Syrien, Jemen, Ägypten oder der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) aus – keine guten Verbündeten für Demokratien.
Das scheint Heusgen und Co. gleichwohl egal zu sein, hier wird munter mit den islamischen Gottesstaaten gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten votiert. Deutschland stimmt in der UN regelmäßig den abwegigsten und antizionistischsten Resolutionen zu.
Genau darauf will die jüdische Menschenrechtsorganisation Simon Wiesenthal Center nun aufmerksam machen. [….]

Nein, Herr Zimmer, diesmal machen Sie den Fehler. Man kann vehement für das Existenzrecht Israels eintreten, das jüdische Volk und die jüdische Kultur lieben und dennoch Netanjahus Politik, so wie die Politik seines besten Freundes Donald Trump kategorisch ablehnen.
Als Freund Israels sollte man das sogar unbedingt. Netanjahu und Trump schaden Israel.