Egon Bahr, einer der klügsten Deutschen überhaupt, brachte das Thema „Aufrichtigkeit in der Politik“ auf eine griffige Formel:
Alles was man sagt, muss wahr sein;
aber man muss nicht alles sagen, was wahr ist.
Bahr war außerordentlich geschickter und erfolgreicher Diplomat. Mutmaßlich ging er davon aus, daß Spitzenpolitiker nicht völlig verblödet sind, über Ernsthaftigkeit und Selbstdisziplin verfügen.
Im Wahlkampf passt sich ein Politiker thematisch seinem Publikum an; er wirbt schließlich um deren Stimmen. Er darf nichts Falsches versprechen, muss aber auch nicht jede Härte, bei jeder Gelegenheit betonen. Es darf nur nicht in Beliebigkeit abrutschen. Wie beispielsweise der Berliner CDU-Spitzenkandidaten Kai Wegner.
[…] Außer der Macht kein Ziel
Selbst innerhalb seiner eigenen Partei muss man nicht lange fragen, um Unfreundlichkeiten über Kai Wegner zu hören. Er sei noch nie durch sonderlich interessante politische Vorschläge aufgefallen, heißt es da. Er habe keine Konzepte, kein Profil, spreche in Plattitüden, er habe außer der Macht kein Ziel. Ihm fehle das Charisma. Man könne sich schlechterdings nicht vorstellen, wie Kai Wegner als Regierender Bürgermeister mit einem internationalen Staatsgast durchs Brandenburger Tor spaziere und dabei Konversation mache. [….]
(Guido Mingels, 05.02.2023, DER SPIEGEL 6/2023)
Wegner ist sicherlich nicht der hellste Kopf der Berliner Politik und versucht, sich weitgehend jedem Publikum anzupassen. Das gelingt ihm recht gut, weil er ohnehin nicht von Konzepten und Lösungen beschwert wird. Er möchte gewinnen, denkt an seine Karriere. Was aus den Bürgern wird, ist für ihn völlig zweitrangig.
Die Stadt Berlin hat er nie verlassen, hier enden sein Ehrgeiz und sein Interesse.
Der Bundespolitiker Friedrich Merz hingegen, will Bundeskanzler werden, also im globalen Konzert der ganz Großen mitspielen. Daher gelten für ihn ganz andere Anforderungen, als an Herrn Wegner.
Unglücklicherweise ist er nicht intelligent genug, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
Merz begreift noch nicht einmal, welches die drängenden Themen der Welt sind und setzt daher in kleinstmöglicher Kleingeistigkeit auf Ressentiments gegen Minderheiten, wettert xenophob und transphob und homophob daher.
Konstruktives ist von ihm nicht zu erwarten.
[…] Die CDU will sich neu als Klimapartei profilieren. Aber auf zentrale Fragen hat die Union keine Antwort – und ihr Chef Friedrich Merz macht wenig Anstalten, das zu ändern. [….] Dennoch sei das Mittel der Wahl, um die Wirtschaft zu dekarbonisieren, die Bepreisung, sagt Merz. »Wollen Sie das infrage stellen?«
Töpfer: »Ja.«
Merz: »Gut, dann haben wir einen viel größeren Dissens, als ich ihn befürchtet habe.«
So also sieht es mit den Grundsätzen schon nach der ersten kritischen Nachfrage aus. Alles scheint plötzlich unklar. Wofür steht die CDU eigentlich? Wie schlimm findet sie Verbote? Ist sie sich darin einig? Und haben die Klimabewegten in der Partei überhaupt noch einen Platz? [….] Das erste Klimaschutzgesetz unter Merkel wurde vom Verfassungsgericht kassiert und musste eilig nachgeschärft werden. Im Verkehrssektor ging wenig voran, in der Landwirtschaft oder dem Wohnungsbau ebenso wenig. Und nun, in der Opposition, hat die Klimaleidenschaft der Partei noch einmal nachgelassen. [….] Das ist die größte Leerstelle der CDU: Merz erklärt bisher nicht, wie sein Plan B für die nächsten 15 Jahre aussieht. Konkrete Fragen des SPIEGEL beantwortete er ausweichend. [….] Noch immer ist die CDU die politische Heimat von Milieus, in denen es üblich ist, die Energiewende für eine spinnerte Idee von ein paar verschreckten Ökos zu halten. [….]
(DER SPIEGEL 7/2023, 11.02.2023)
Keine Antworten zu geben, weil man keine Antworten hat, ist das eine.
Schlimmer sind die Antworten, die er gibt, wenn er sie nicht geben sollte. Es steht einem ernsthaften Bundespolitiker nicht zu, bei jeder Gelegenheit seine Vorurteile und Abscheu gegenüber Nicht-Weißen, Nicht-Deutschen, Nicht-Heterosexuellen und Nicht-Christen auszuplaudern, auch wenn das zweifellos die wahre Meinung des Merz ist. Man muss aber eben nicht immer alles aussprechen, das wahr ist.
[…..] Die Union will bei Migranten punkten, doch der CDU-Chef fällt in Gesprächen über Integration öfter durch Geringschätzung auf. Parteikollegen aus Zuwandererfamilien warnen vor den Folgen - und beklagen verpasste Chancen. […..] Von den 22 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind knapp acht Millionen wahlberechtigt. […..] Ausgerechnet Parteichef Friedrich Merz schlägt aber in der Migrationsdebatte oft harte Töne an. Im September warf er ukrainischen Geflüchteten "Sozialtourismus" vor (wofür er sich später entschuldigte), und im Januar nannte er in der Talkshow "Markus Lanz" Söhne von Migranten im Fernsehen "kleine Paschas" - nachdem die Berliner CDU nach den Vornamen der deutschen Tatverdächtigen der Silvesternacht verlangt hatte, um herauszufinden, ob es arabische Namen seien. […..]
Zwei langjährige weibliche CDU-Mitglieder mit türkischen Wurzeln werden noch deutlicher. Sie wollen ihren Vorsitzenden zwar nicht unter Nennung ihres Namens kritisieren, verurteilen seinen Pascha-Kommentar aber als klar rassistisch. Rutscht die selbsternannte "Volkspartei der Mitte" unter Friedrich Merz also weiter nach rechts - und vergrault damit migrantische Wähler? "Zu versuchen, die AfD-Wähler für die Union zurückzugewinnen, hat noch nie irgendwas gebracht. Am Ende wird das Original gewählt", glaubt eine der beiden Frauen. Die Folgen seien verheerend, vor allem bei der migrantischen Wählerschaft: "Die Leute auf der Straße sagen: Wer unsere Kinder als Paschas bezeichnet, will uns hier nicht." Eine Schlussfolgerung, die sogar Parteiangehörige ziehen könnten. Ein Mitglied mit türkischem Migrationshintergrund, der im Westen Deutschlands lebt, hadert deshalb mit seiner Parteizugehörigkeit. Auch er will nur anonym sprechen - weil schon Menschen vor seiner Tür standen und ihn rassistisch beleidigten. Eingetreten in die CDU war der Deutschtürke, weil er "Frau Dr. Merkel" so menschlich fand. […..] Bei der Fernsehsendung, in der Merz von "kleinen Paschas" sprach, musste der Deutschtürke wegschalten. "Unerträglich. Merz verschiebt mit seinen Aussagen den Diskurs immer weiter nach rechts. Einige in der CDU unterschätzen die Gefahr des Wortes; es sind viele kleine, aber auch gewichtige Aussagen, die die Eskalationsspirale nach oben schrauben", sagt er. "Ich kenne durchaus Leute auf der Kreisebene, die jetzt fordern, man müsse enger mit der AfD zusammenarbeiten. Und das sind nicht immer Hinterbänkler. Ich krieg da so eine Krawatte." […..]
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