Mittwoch, 29. August 2012

Der Junge, der immer „Feuer“ schrie.





Manchmal muss man schreien. 
So unangenehm es ist, aber es gibt Situationen, in denen man augenblicklich Hilfe braucht, oder aber zur Warnung anderer laut werden muß.
Hilfsbereitschaft ist in unserer Gesellschaft längst nicht selbstverständlich. In unzähligen Fällen wurde dokumentiert, wie in U-Bahnen Kinder oder Frauen belästigt wurden, ohne daß irgendein Fahrgast Hilfe leistete.

Als eine Freundin einst zu einem Selbstverteidigungsworkshop ging und ich sie fragte, ob sie nun einen Vergewaltiger umhauen könnte, war die Antwort ‚nein‘.
Aber sie hätte immerhin gelernt, daß man laut schreien solle und zwar keineswegs nur „Hilfe!“ oder „Vergewaltigung“, weil darauf nur wenige reagierten. 
Man solle unbedingt „Feuer!“ oder „Es brennt!“ rufen. 
Das ginge potentiell jeden etwas an und hätte somit eine viel höhere Chance auf Aufmerksamkeit.

Man darf nicht inflationär schreien. 
Das ist das Problem.
 Ich muß es wissen, denn ich wohne gegenüber von einem betreuten Kinderspielplatz. Gegen eine kleine Gebühr kann Frau dort ihren Nachwuchs abgeben und dann shoppen gehen.

In der ersten Zeit passierte es immer wieder, daß ich entsetzt aufsprang, ans Wohnzimmerfenster raste und das Telefon zur Hand nahm, um 110 zu wählen.
 Sowohl Mütter als auch Kinder schrien so hysterisch und in solcher Phonstärke, daß ich mich a) um meine Fensterscheiben sorgte und b) davon ausgehen mußte, jemand werde offensichtlich gerade abgestochen.

Mit der Zeit lernte ich aber, daß es sich beim „wie am Spieß schreien“ offensichtlich um normale Kommunikation bei heutigen Mutter-Kind-Verhältnissen handelt.

Das hat zwei negative und eine positive Seite.
Gut: Ich muß mir keine Sorgen mehr machen.
Schlecht: Der Lärmterror hält an.
Schlecht: Falls wirklich mal einem Kind Gewalt angetan würde und es dementsprechend losbrüllte, würde es keiner der Anwohner registrieren, weil die Bälger ja ohnehin dauernd schreien.

(Es gibt hier übrigens noch Bewohner, die schon in den 1950er Jahren in diese Häuser gezogen sind; so lange wie der Spielplatz besteht. Von ihnen weiß ich, daß es sich um ein neueres Phänomen handelt. Es gab Zeiten, in denen Mütter und Kinder so kommunizieren konnten, daß nicht im Umkreis von 200 m alles aus dem Bett fiel.
Meine Eltern habe ich auch befragt. Nein, es sei undenkbar gewesen, daß ich mich jemals so benommen hätte. Ich war ein artiges Kind.)

Zum Dauergeschrei vor meiner Tür gibt es ein politisches Pendant.

Permanente Schreihälse sind beispielsweise Generalsekretär Doofrind und Staatsminister Markus Söder.
Die Top-CSU’ler kreischen so beständig, daß selbst ihre CDU-Freunde verzweifeln.
 "Sprachrohr des Pöbels", "Stammtischkasper", "provinzielles Gemeckere" sind da noch die harmloseren Kommentare aus den Regierungsfraktionen.


„"Ich finde, die Sache ist schwer genug. Sie wird nicht dadurch besser, dass jeder jeden Tag irgendwo einen Hammer loslässt", kritisierte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, der auch CDU-Vizechef ist. EU-Kommissar Günther Oettinger (ebenfalls CDU) sagte: "Die Äußerungen sind nicht in Ordnung." Er kritisierte Stil, Inhalt und Kalkül Dobrindts. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) fügte hinzu: "Die Situation ist zu ernst, als dass man sie mit einem rhetorischen Überbietungswettbewerb bestreiten könnte." Bouffier und Lammert betonten allerdings, dass Griechenland seine Auflagen erfüllen müsse.  Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok rügte Dobrindt auch dafür, dass dieser den EZB-Präsidenten Mario Draghi als "Falschmünzer" bezeichnet hatte. "Zu dem Dobrindt fällt mir nichts mehr ein", sagte Brok dem "Kölner Stadt-Anzeiger". "Das ist einfach unerträglich." Durch seine Angriffe auf das hochverschuldete Griechenland und die EZB schaffe Dobrindt Unsicherheit und erhöhe so die volkswirtschaftlichen Kosten der Euro-Krise.“
(Spon 27.08.12)


Doofrind hat sich mit seinem hysterischen Politikstil zum Westerwelle Bayerns gemacht.

Nehmen wir den (allerdings rein theoretischen) Fall an, Dobrindt hätte zu einem Thema tatsächlich etwas sehr wichtiges zu sagen oder müßte vor einer ernsthaften Gefahr warnen: Es ginge nicht, weil ihn keiner mehr ernst nimmt.

Genauso ergeht es dem Außenminister
Falls er (ausnahmsweise) Wichtiges und Richtiges zu Syrien oder dem Iran zu verkünden hätte, kann er das lediglich Herrn Mronz erzählen.
 Alle anderen ignorieren ihn bestenfalls oder lachen ihn aus.

Für Deutschland ist das tragisch. Denn in der Außenpolitik gibt es wahrlich genügend Anlass zur Sorge, gibt es eine Fülle von Anlässen, die deutliche Worte aus Berlin erfordern.

Kriegstreiberei, Rohstoffspekulationen, Klimawandeln, Geschäft mit dem Hunger, Waffenexporte. 

Deutschland wird dazu nicht mehr wahrgenommen, weil der Außenminister kastriert ist.

Das analoge Problem besteht beim Antisemitismus.
Diese Geißel der Menschheit gibt es wirklich, sie ist hochgefährlich und streckt immer wieder auch in den angeblichen Musterdemokratien ihr häßliches Haupt hervor.

Zum Beispiel gestern. Mitten in der Hauptstadt:


Der jüdische Geistliche war am Dienstagabend vor den Augen seiner Tochter von vier jungen Männern im Berliner Stadtteil Schöneberg überfallen und antisemitisch beleidigt worden. Diese hatten ihn zunächst auf seine traditionelle jüdische Kopfbedeckung (Kippa) angesprochen und gefragt, ob er Jude sei. Dann versperrten sie dem Vater und seiner Tochter den Weg und verletzten ihn mit mehreren Schlägen am Kopf. Außerdem beleidigten sie ihn sowie seine Religion und drohten dem kleinen Mädchen mit dem Tod. Danach flüchteten die Täter. Der verletzte Rabbiner kam zur stationären Behandlung in ein Krankenhaus.   Nach Polizeiangaben handelt es bei den Tätern vermutlich um arabischstämmige Jugendliche. Der polizeiliche Staatsschutz übernahm die Ermittlungen. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte: "Solche Taten werden von den Sicherheitsbehörden unnachgiebig verfolgt." Er versprach ein hartes Vorgehen gegen die Täter.


Völlig ZU RECHT geben sich jüdische Organisationen empört. 
ZU RECHT ist der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann schockiert und mahnt bessere Gewaltprävention an.

Leider, leider sind aber auch Graumanns und Knoblochs Stimmen stumpf geworden. 
Sie haben etwas zu viel „Antisemitismus“ geschrien, als daß man ihnen jetzt so sorgsam zuhörte wie es nötig wäre.

Wenn pauschal Menschen, die sich lediglich um das Wohl von kleinen Kindern sorgen von Typen wie Rudolf Taschner als „Antisemiten reinsten Wassers“ bepöbelt werden, muß man sich nicht mehr wundern, daß die Antisemitismuskeule kleiner und stumpfer wird.

Dazu ist die Sache aber zu ernst. 

Menschenfeindlichkeit in Form von Rassismus, Homophobie, Antisemitismus und Misogynie gibt es jeden Tag und muß scharf verurteilt werden.

Das wird aber enorm erschwert, wenn ein extrem eitler Austeiler wie Guido Westerwelle Kritik an seiner Amtsführung mit der Homophobiekeule begegnet.

Die Liste der Vorwürfe an seine Adresse ist schier endlos.
 Das einzige, das „wir“ (und damit meine ich die böse Opposition aus Linken, Sozis, Grünen und Piraten) ihm nicht vorwerfen ist schwul zu sein.
Indem Guido nun versucht Kritik an ihm in die homophobe Kiste zu stecken, versündigt er sich an den Millionen Menschen weltweit, die tatsächlich unter Homophobie zu leiden haben.

Die richtige „Schreikultur“ fehlt in Deutschland und Europa.

Da wächst uns zum Beispiel in Osteuropa, insbesondere in Ungarn, ein massives Rassistenproblem heran und niemand greift ein. 
Dabei ist das genau die katastrophale Entwicklung, die es erforderte politisch mal so richtig laut zu werden.


Ungarns einflussreicher Rechtsaußen-Publizist Zsolt Bayer, ein Mitbegründer der Regierungspartei Fidesz, schrieb: "Wir müssen es aussprechen: Der viehische Mörder war ein Zigeuner. In diesem Ungarn erleben Millionen Menschen, dass die Zigeuner sie ausrauben, schlagen, demütigen und ermorden. Wenn die Zigeunergemeinschaft diese Mentalität ihrer Rasse nicht ausrottet, dann ist klar: Mit ihnen kann man nicht zusammenleben."
[…] Inzwischen marschieren Einheiten der verbotenen paramilitärischen "Ungarischen Garde" wieder auf im Land: Anfang August zogen rund tausend Rechtsextreme durch das Dorf Devecser in Westungarn, seit Tagen terrorisieren Mitglieder mehrerer rechtsextremer Bürgerwehren die Bewohner eines Roma-Viertels in der Stadt Cegléd südöstlich von Budapest. Am vergangenen Samstag feierten auf dem Budapester Heldenplatz Anhänger der verbotenen Garde die Gründung der Organisation vor fünf Jahren - und beschworen dabei die "Gefahr der massenhaften Vermehrung von Zigeunern".
[…] Die rechtsextreme Partei Jobbik ("Die Besseren"), die bei den Wahlen 2010 17 Prozent der Stimmen erhielt, [startete] eine großangelegte Kampagne zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Jobbik-Parteichef Gábor Vona begründet das in einem Blogeintrag so: "Die Morde geschehen. Die Täter stammen zu 90 Prozent aus ein- und demselben soziokulturellen Milieu. Sprechen wir es aus: Sie sind Zigeuner. Die Opfer hingegen sind zu 100 Prozent Ungarn. Deshalb brauchen wir die Todesstrafe."  Auch in der Regierungspartei "Bund Junger Demokraten" (Fidesz) plädierten mehrere Politiker für die Wiedereinführung der Todesstrafe. […]
Wohin ein solches Hassklima führt, zeigte sich nach einem Verbrechen im November 2008: Damals wurde in der Gemeinde Kiskunlacháza das 14-jährige Mädchen Nóra Horák ermordet. Sofort machte der Bürgermeister der Gemeinde, József Répás, die Roma im Ort kollektiv für den Mord verantwortlich. Lange glaubte auch die ungarische Öffentlichkeit, Roma seien die Täter gewesen. Mehrere Roma-Jugendliche standen unter Mordverdacht, ihre Familie wurde aus dem Ort vertrieben. Sieben Monate nach dem Mord fasste die Polizei den tatsächlichen Mörder - einen ungarischen Nachbarn des Mädchens. Auf eine Entschuldigung des Bürgermeisters warten die betroffenen Roma bis heute.


Ich kann es nicht umfassend beurteilen, aber es scheint mir, daß der in den USA immer noch virulente Rassismus (aus dem sich insbesondere der Hass der Rechten auf Obama speist) wenigstens ein bißchen konsequenter verfolgt wird.


Rassismus am Rande.
Immerhin hat man ihn dafür offenbar rausgeworfen: Ein Teilnehmer des Republikanerparteitags in Tampa, Florida, soll einer schwarzen Kamerafrau von CNN Nüsse hingeworfen haben – mit der Bemerkung: “So füttern wir Tiere!” Man arbeite mit den Organisatoren zusammen, um den Vorfall aufzuklären, hieß es nur von dem Sender.
(Carsten Luther 29. August2012)



In Deutschalnd gibt es keine VERNÜNFTIGE Empörung über Rassismus und Antisemitismus.
Dabei wird die größtmögliche verbale Keule viel zu oft geschwungen.

Das zeigen die Beispiele Stoiber (Warnung vor „durchmischter und durchrasster Gesellschaft“), Martin Hohmann (Juden seien “Tätervolk” ), Schäuble (über die Klagen gegen die Vorratsdatenspeicherung: “Wir hatten den ‘größten Feldherrn aller Zeiten’, den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten.”), Oettinger (Hans Filbinger “war Gegner des NS-Regimes”) Rüttgers („Kinder statt Inder“, „faule Rumänen“), Koch (Bsirskes Reichenkritik sei “eine neue Form des Sterns auf der Brust”), Jenninger (“Faszinosum” des Nationalsozialismus ), Laschet (über Kinderkrippen: „Das erinnert mich wirklich an jemanden, der bei einer anderen deutschen Diktatur gesagt hat: Das war alles gar nicht so schlimm, die haben wenigstens die Autobahnen gebaut“), Frank Steffel (Schwarze= „Bimbos“ und Türken= „Kanaken“. Behinderte waren für ihn „Mongos“ und eine Lehrerin, die diese Ausdrücke bemängelte, bezeichnete Jung-Steffel als „Kommunistenschlampe“), FJ Strauß (über Jusos: “schlimmsten Nazi-Typen in der Endzeit der Weimarer Republik”), Kohl (Goebbels-Gorbatschow-Vergleich, über Thierse: “schlimmster Präsident seit Hermann Göring”), Hans Werner Sinn (“In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. In der Weltwirtschaftskrise von 1929 “hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager“) und Christian Wulff (über Managergehälter: "Ich finde, wenn jemand zehntausend Jobs sichert und Millionen an Steuern zahlt, gegen den darf man keine Pogromstimmung verbreiten")
 

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