Montag, 16. November 2015

Das Internet ist eigenartig.

Helmut Schmidts Biograf erklärte am Abend seines Todes, der letzte Satz, den Schmidt zu ihm gesagt hätte, lautete „Schade, daß einem so wenig Zeit bleibt zu erkennen, wie raffiniert alles zusammenhängt.“
(Aus dem Gedächtnis zitiert)

Das stimmt sicherlich für Helmut Schmidt, aber die allermeisten Menschen erkennen eigentlich gar nichts, weil sie entweder zu dumm oder zu ignorant oder zu phlegmatisch sind.

Menschen wollen gedanklich abgeholt werden; ihnen muss man Eselsbrücken zu bauen.
Sie können die Realität nicht rational einschätzen und bewerten erst Recht Gefahren falsch.
Sie gruseln sich beim Strandurlaub vor todbringenden Haien, haben aber gar keine Angst vor Kokospalmen, obwohl durch auf den Kopf fallende Kokosnüsse jährlich 100 mal mehr Menschen umkommen, als durch Haiattacken.

10.000 Verkehrstote jährlich erschrecken nicht, 40.000 Tote in deutschen Krankenhäusern durch Behandlungsfehler, 30.000 Tote durch nosokomiale Krankenhauskeime auch nicht. 50 Tote durch EHEC lösen hingegen echte Panik aus.

Menschen müssen Schicksale von der BILD plastisch aufbereitet bekommen, um sich dafür zu interessieren.
Niemand interessiert es, daß jeden Tag aufgrund unserer Agrar- und Finanzpolitik 20.000 Kinder elend verhungern. Und der langsame Hungertod dürfte so ziemlich das Grausamste sein, das einem Kleinkind widerfahren kann.
Wenn aber in Sachsen die kleine Chantal missbraucht wird, treibt das den deutschen Michl wochenlang um.
Das Drama braucht ein Gesicht, sonst begreifen wir es nicht.

Mal können aber Hunderttausende (Algerien) oder Millionen (Ruanda, Kongo) abgemurxt werden, ohne daß die UN das irgendwie erwähnenswert findet.

Bei humanitären Katastrophen, die nicht durch politische Gewalt ausgelöst wurden, ist das ganz ähnlich.

Als es in der russischen 5-Millionenstadt St. Petersburg 1990 und 1991 zu echten Hungerwintern kam, war die Partnerstadt Hamburg wie elektrisiert und jeder packte eifrig Care-Pakete. Diese privaten Lebensmittelhilfen wurden so selbstverständlich, daß man in den Supermärkten schon fertig gepackte und adressierte Pakete für 20, 30 oder 40 DM erstehen konnte.

Wenn in anderen Teilen der Welt - Eritrea oder Nordkorea zum Beispiel - Hunderttausende elendig verhungern, interessiert das hingegen wenig.

Auch die Spendenbereitschaft nach Naturkatastrophen ist höchst unterschiedlich.

Der Mega-Tsunami vor Sumatra an Weihnachten 2004 löste eine riesige internationale Spendenbereitschaft aus.
Allein Deutschlands Kanzler Schröder gab das OK zu Hilfen in Höhe von 500 Millionen Euro, die von den 503 Millionen Euro, die Deutsche privat spendeten sogar noch übertroffen wurden.

Als im Juli und August 2010 fast zwei Millionen Pakistanische Häuser durch eine gigantische Flut beschädigt wurden, hielt die Weltgemeinschaft demonstrativ die Portemonnaies zu.

Wenn IS-Terroristen in Paris 130 Menschen abmurxen finden wir es auch sehr schlimm. Logischerweise. Denn man kennt Paris. Die Bilder sind sehr plastisch. Und Frankreich ist nahe.

Es wird sich für immer in das kollektive westliche Gedächtnis als ultimatives Entsetzen einbrennen, wie am 11.09.2001 die WTC-Türme in sich zusammensackten und 3.000 Menschen starben.
Die Bilder waren extrem spektakulär und es traf zudem einen extrem symbolträchtigen Ort.
Das war die Superpropaganda schlechthin. Damit konnte man noch Jahre später Politik machen.

Daß in Folge des US-Angriffs auf den Irak, der rein gar nichts mit dem 11.09.2001 zu tun hatte, nicht 3.000, auch nicht 30.000, sondern eher 300.000 Unschuldige starben, ist hingegen kaum einem Menschen bewußt.
So sind wir.
Ungerecht und unaufmerksam.

Es gibt keine emotionale Gerechtigkeit.
Deswegen halte ich es auch für höchst unsinnig, wenn politisch Hyperkorrekte auf die ungerechte Verteilung des Mitgefühls bei den Anschlägen vom 13.11.2015 hinweisen.

Auf große Katastrophen und Ereignisse folgt üblicherweise ein Facebook-Trend. Noch bevor die Sachverhalte aufgeklärt sind, ändern User ihr Profilbild. Auch nach den Attentaten in Paris können die Mitfühlenden ihr Foto jetzt blau-weiß-rot färben und Haltung zeigen.
Facebook-Nutzer kennen das schon: Sie sind Charlie. Oder, um die Ehe für alle zu unterstützen, können sie die Regenbogenfahne über ihre Profilbilder legen. Nun ist es die französische Flagge. Nur: Statt einer sozialen Bewegung wird hier gleich ein ganzer Staat symbolisiert, was viele fraglos mitmachen.

Was ist mit den vielen Opfern, die im Libanon und Syrien umkommen?
Wieso hat niemand sein Facebook-Profil in den russischen Nationalfarben eingefärbt, als zwei Wochen zuvor ein russisches Flugzeug mit 224 Insassen  über der Sinai-Halbinsel gesprengt wurde?

Doch kaum ist das Profilbild umgefärbt, kommen die Nörgler. Diese Form der Solidarität sei oberflächlich, die Unterstützung und Anteilnahme würde über ein paar hübsche Farben und drei, vier Klicks nicht hinausgehen. Und überhaupt: Bei anderen Anschlägen sei die Anteilnahme im Netz längst nicht so groß gewesen.

Der Grund für die Ungerechtigkeit gegenüber syrischen und russischen Opfern ist, daß wir Menschen bedauerlicherweise blöd sind und nie gerecht sind.
Wir urteilen letztendlich gefühlig.
So entscheidet der deutsche Urnenpöbel auch Wahlen.
Merkels „sie kennen mich!“ hat ihr den Wahlsieg gesichert.
Das wohlige Gefühl der Vertrautheit.
Deswegen erscheinen auch Wahlplakate ohne Text.
Deswegen haben Vernunft und Argumente immer das Nachsehen hinter dem Bauchgefühl für eine Person.

Wir interessieren und dafür, was wir kennen und was wir uns vorstellen können.
Verhungernde Kinder im Kongo und dem Südsudan sind a) weit weg, haben b) eigenartige Namen und c) auch noch eine sehr dunkle Haut.
Das interessiert nicht.

Das ist bedauerlich für diejenigen, die unserer Solidarität womöglich viel mehr bedürfen, als das relativ reiche und zivilisierte Frankreich.

Aber wenn wie bei solidarischen Gefühlen auch noch auf Gerechtigkeit pochen, geht das im Grunde anständige Gefühl des Mitleids am Ende ganz flöten.
Daher lasst den Menschen bitte ihre tricolorierten Facebook-Profilbildchen.

Die Klage des 26-Jährigen libanesischen Arztes Elie Fares*, ob uns Europäern und Nordamerikanern arabische Leben weniger wert wären, ist im Grunde eine Rhetorische.
Ja, andere Leben sind uns weniger wert.
So sind wir eben.
Ich glaube nur nicht, daß das aus purer Bosheit passiert, sondern aus Dummheit und Ignoranz. Das liegt an der christlichen Prägung, die eben keinen universellen Humanismus kennt, sondern uns ein gruppenbezogenes „Wir sind besser als die“ einimpft.

*Sind arabische Leben weniger wert?
[….] Je länger ich las, desto höher stieg die Zahl der Toten. Es war schrecklich; es war entmenschlichend; es war völlig und unwiderruflich hoffnungslos: 2015 endete so, wie es begonnen hatte - mit Terroranschlägen, die im Libanon und in Frankreich beinahe zur selben Zeit stattfanden - ausgeführt von verrückten Kreaturen, die Hass, Angst und Tod verbreiteten, wohin sie auch gingen.
Heute Morgen bin ich aufgewacht und zwei Städte waren zerbrochen. Meine Freunde in Paris, die noch gestern gefragt hatten, was denn in Beirut passiert sei, lernten nun plötzlich die andere Seite kennen. Unsere beiden Hauptstädte waren zerbrochen und vernarbt. Für uns hier waren das vielleicht alte Nachrichten, für sie aber Neuland.
Mehr als 128 unschuldige Zivilisten aus Paris sind nicht länger bei uns. Am Tag zuvor waren 45 unschuldige Zivilisten aus Beirut nicht länger bei uns. Die Opferzahlen steigen, aber wir lernen offenbar nie dazu.
[….] Als meine Leute am 12. November auf den Straßen Beiruts in Stücke gesprengt wurden, lautete die Schlagzeile: "Explosion in Hisbollah-Hochburg", als könnte der politische Hintergrund einer urbanen Gegend den Terror irgendwie in einen Kontext einordnen.
Als meine Leute am 12. November auf den Straßen Beiruts starben, standen die Führer der Welt nicht auf und verurteilten das. Es gab keine Statements, in denen Sympathie mit dem libanesischen Volk ausgedrückt wurde [….] Es gab keine weltweite Empörung darüber, dass unschuldige Menschen, deren einziger Fehler war, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, nie so etwas passieren sollte oder dass ihre Familien niemals auf solche Weise zerstört werden sollten. Religion oder politischer Hintergrund eines Menschen sollten nicht darüber entscheiden, ob man erschrocken ist, dass sein Körper auf dem Zementboden verbrennt.
[….] Als meine Leute starben, hielt es kein Land für nötig, seine Sehenswürdigkeiten in den Farben seiner Flagge zu beleuchten. Nicht einmal Facebook hielt es für nötig, dass meine Leute sich als "sicher" markieren konnten, so banal das auch sein mag. Hier ist euer Facebook-Safety-Check: Wir haben, zum jetzigen Zeitpunkt, alle Terrorangriffe in Beirut überlebt.
Als meine Leute gestorben sind, hat das die Welt nicht in Trauer gestürzt. Ihr Tod war nicht mehr als ein irrelevanter Tupfen im internationalen Nachrichtenzyklus, etwas, das eben in diesen Teilen der Welt passiert.
[….] In einer Welt, die sich nicht um arabische Leben schert, stehen Araber in der vordersten Frontlinie.