Jeder,
der Verwandte in Amerika hat, versuchte am 11.09.2001 sie zu erreichen.
Da
ich Sippschaft in Washington UND New York habe, wurde ich entsprechend nervös
als ich gemütlich vorm TV saß und mir ansah, wie Ulli Wickert das Zusammenfallen
der WTC-Türme kommentierte.
Spät
am Abend begann „Kabula Rasa“; die bekannten grünen Videospielartigen Bombardierungsbilder,
die man schon aus dem Golfkrieg 1991 kannte.
Wer
nicht emotional ausgeflippt war, fragte sich natürlich eins:
Was können eigentlich die Zivilisten in Kabul dafür, daß das WTC in Trümmern lag?
Was können eigentlich die Zivilisten in Kabul dafür, daß das WTC in Trümmern lag?
Die
Kabuler sind doch ganz sicher unschuldig und was ist daran gerecht, wenn die
jetzt gemeuchelt werden?
Die
Mischpoke aus Washington wollte davon nichts wissen.
„Sind die Zehntausend Toten aus dem WTC etwa nicht unschuldig?????“
schalt es zurück.
(Zunächst ging man noch von
viel mehr Opfern in NY aus.)
Die
Unlogik war entwaffnend:
Wenn hier Unschuldige sterben, hat Amerika das Recht
anderswo auch jede Menge Unschuldige zu morden.
Und
dann die Tränen.
Wie sollte man mit jemanden diskutieren, der gerade etwas so Schockierendes
und Schreckliches erlebt hatte, daß er während des Telefonats immer wieder von
Heulkrämpfen erstickt wurde?
Das
Fazit, welches ich am 12.09.01 aus Washington hörte war klar, eindeutig und
fordernd zugleich:
„DER TALIBAN MUSS WEG!“
Ich
Depp muß ja immer anfangen zu erklären und versuchte zu erläutern was es mit
dem Begriff „Taliban“ auf sich hat.
Daß es nicht DER Taliban ist, sondern DIE
Taliban sind.
Und wo dieses Kabul überhaupt liegt.
Wollte
man in Washington nicht hören.*
„DER TALIBAN MUSS WEG!“ Schluß, aus.
Auch
in Deutschland gab es am Anfang wenig differenzierte Stimmen.
In den Autos und
Wohnungsfenstern hingen US-Fahnen, die Menschen pilgerten zu den US-Konsulaten
und sammelten fleißig für die Hinterbliebenen der Opfer in NY und DC.
(Natürlich nicht für die Opfer in Kabul)
Gerd
Schröder sprach von der „uneingeschränkten Solidarität“ und alle fanden es
großartig.
Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen Präsidenten das tief empfundene Beileid des gesamten deutschen Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte – ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität Deutschlands zugesichert. Ich bin sicher, unser aller Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gilt unser Mitgefühl, unsere ganze Anteilnahme.
Ich möchte hier in Anwesenheit des neuen amerikanischen Botschafters Dan Coats noch einmal ausdrücklich versichern: Die Menschen in Deutschland stehen in dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika.
(Beifall im ganzen Hause)
Kritik
an der 100%-Solidarität gab es kaum.
Ausgerechnet
der so belächelte Bundespräsident Johannes Rau war der einzige Politiker, der
unmittelbar nach den Anschlägen schon vor militärischen Gegenmaßnahmen warnte.
„Uneingeschränkte“
Solidarität könne man nicht versprechen.
Er
stellte sich klar gegen Gerd Schröder und bekam dafür reichlich Kloppe aus CDU,
CSU und FDP.
Es
spricht für Schröder, daß er sich heute klar zu einem Irrtum bekennt und
zugibt, es wäre besser gewesen damals auf Rau zu hören.
Der
zweite Kritiker der ersten Stunde war ausgerechnet der Bellizist Peter
Scholl-Latour.
Im
Gegensatz zu den meisten anderen kannte er Afghanistan, wußte was es mit „dem
Taliban“ auf sich hat, kannte Topographie und ethnisches Durcheinander des
riesigen Landes am Hindukusch.
Scholl-Latour
war damals Dauergast in deutschen Talkshows und Infosendungen.
Immer wieder
erzählte er empört davon, daß in den USA auf offener Straße ein Sikh erschlagen
worden wäre, weil die aufgebrachten Amis nicht zwischen Moslems und Sikhs zu
unterscheiden wußten.
(Natürlich
sind Vergeltungsmorde an Moslems genauso wenig zu rechtfertigen.)
Viele Gemeinsamkeiten haben die 23 Millionen Anhänger des Sikhismus allerdings nicht mit den rund eine Milliarde Moslems.
Für
den Ami des Jahres 2001 galt aber die einfache Regel:
Orientalische Hautfarbe + eigenartige Kopfbedeckung
= fanatischer Amerikahasser.
In
den meisten Ländern Europas setzte der Lernprozess relativ schnell ein.
Man
glaubte den Scholl-Latours im TV, die erklärten Kriege gegen Afghanistan und
Irak müßten im Desaster enden.
Als
es 2003 gegen Bagdad losging, hatte Amerika eine überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit
gegen sich.
Solidaritäts-US-Fahnen sah man schon lange nicht mehr in Deutschland.
In
Amerika selbst dauerte die Lernphase erheblich länger.
Ende 2004 scharte man sich noch mal
mehrheitlich hinter Präsident George W. Bush und seine Kriege. Seine Kompetenz
beim „war on terror“ sicherte ihm die Wiederwahl.
Ein echter Treppenwitz der
Geschichte - denn wer könnte bei der Terrorismusbekämpfung inkompetenter als
die Bush-Administration gewesen sein?
Erst
2008 dämmerte den Amerikanern, daß die Kriege gegen Afghanistan und den Irak
die Lage noch verschlimmbessert hatten.
In
einigen umnachteten Hirnen kam es allerdings nie zu einem Lernprozess. Dort ist
die Doofheit so gewaltig, daß kein Informationszufluss etwas ändern kann.
Der
Amerikaner Wade Michael Page, der am Sonntag in einem Sikh-Tempel in Oak Creek,
einem Vorort von Milwaukee im (US-Bundesstaat Wisconsin) ein Massaker
angerichtet hat, trug ein „Remember 9/11-Tattoo“
Warum
richtet man Massaker unter Sikhs an?
Nach dem Amoklauf wurden Indizien bekannt, die auf Rassenhass und Rechtsextremismus des Amokläufers hindeuteten. Der 40-Jährige war demnach ein aus dem Militärdienst entlassener Soldat, der in rechtsextremen Bands mit Namen wie "Definite Hate" und "End Apathy" spielte. Außerdem postete er immer wieder in Internetforen für rechtsextreme Skinheads.
Die
menschliche Doofheit ist unendlich.
Natürlich
muß man immer damit rechnen, daß es extrem verdummten gewalttätigen Bodensatz
in einer Gesellschaft gibt.
Atemberaubend
ist es allerdings, wenn sich im Jahre 11 nach den WTC-Anschlägen einer der
Topverblödeten, der ganz offensichtlich nicht die geringste Ahnung von anderen Kulturen
und Religionen hat, dazu aufschwingt US-Präsident zu werden.
Mitt
Romney, der gerade noch seine geistige Unterentwicklung eindrucksvoll in England, Israel und Polen zur Schau stellte, bedauerte nach dem Anschlag von Oak Creek
die „Scheichs.“
Mitt Romney ist erneut in ein Fettnäpfchen getreten. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Iowa wollte der designierte Präsidentschaftskandidat der US-Republikaner eigentlich Anhängern der Sikh-Gemeinde sein Mitgefühl aussprechen. Ein Mann hatte im US-Bundesstaat Wisconsin einen Tempel der Religionsgruppe angegriffen und sechs Menschen erschossen.Doch dann leistete sich Romney einen peinlichen Patzer. Statt "Sikh" sagte er "Scheich" - und das gleich mehrfach.
Der
Unterschied zwischen Sikhs und Scheichs ist dem außenpolitisch
Desinteressierten ganz offensichtlich
gar nicht bewußt.
Der Kandidat der Republikaner, dem schon der Besuch zur Eröffnung der Olympischen Spiele in London zu einer "Pleiten, Pech und Pannen"-Serie geriet, sprach nach dem tödlichen Amoklauf in einem Sikh-Tempel von diesen "Scheich-Leuten". Scheich heißt auf Englisch "sheik", hat aber wenig mit der Religion der Sikhs zu tun. Egal, sagt Romney, diese "Scheich-Menschen" sind die friedlichsten und liebenswürdigsten überhaupt.
So
steht es in einer SPRINGER-Zeitung, also einem Blatt aus jenem Konzern, der seine
Mitarbeiter per Unterschrift dazu verpflichtet Amerika-freundlich zu schreiben.
Das Niveau der amerikanischen Politiker
verfällt noch schneller als das der Minister in Deutschland.
Darf man sheik und sikh verwechseln, nur weil beide auf ein K enden und weil die Mitglieder beider Gruppen eine turbanartige Kopfbedeckung tragen? Nein, darf man nicht, vor allem nicht, wenn man Präsident der USA werden will.Mitt Romney, der Kandidat der Republikaner, hat sich diesen Fehler geleistet und als Versprecher abgetan. Der Mann sei übermüdet gewesen, hieß es. Ehrlich gesagt: Das ist eine lausige Entschuldigung. Die Verwechslung zeugt im besten Fall von Ignoranz - Romney ist es einfach egal, um was für eine Gruppe es sich hier handelt, so wie es der Mehrheit seiner Wähler egal sein wird. Im schlechtesten Fall zeugt es von grandioser Unbildung und Klischeehuberei.Der Kandidat steht freilich in bester Gesellschaft. Sarah Palins außenpolitische Tölpeleien waren geradezu Kult und trugen zur dauerhaften Beschädigung der Kandidatin vor vier Jahren bei. George Bush zeigte sich vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten ebenfalls erschreckend unbeleckt. Wenn es um die Welt geht, ist Amerikas politische Klasse oft zutiefst provinziell.(Süddeutsche Zeitung 10.08.12)
*(Die
Person, die ich eben zitierte, mutierte später zum extremen GWB-Gegner und ist
heute der größte Kritiker der US-Kriegseinsätze)
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