Sonntag, 2. Oktober 2022

Irreparable Demokratie-Schäden.

Das habe ich von meiner Mutter geerbt. Ich war schon immer ein Wahljunkie, habe mir Wochen vor Wahltagen den Kopf darüber zerbrochen, wie es ausgehen könnte, welche Ereignisse für welche Ergebnisse sprächen, gebannt Umfragen und Prognosen studiert und schließlich mit einer Partei oder einem Kandidaten mitgefiebert. Am späten Wahlabend; spätestens am nächsten Morgen wußte man, wer gewonnen hat.

Dann kam aber der 07. November 2000. Der debile Schwachkopf George W. Bush errang 500.000 bis 600.000 Stimmen weniger als der brillante Al Gore, wollte aber dennoch der nächste US-Präsident werden.

So wie man auch durchaus ein Tennis-Match gewinnen kann, obwohl man weniger Punkte als der Gegner gemacht hat. Sicher, das US-amerikanische Wahlrecht gibt es her, denjenigen mit deutlich weniger Stimmen zum Sieger zu erklären. In diesem speziellen Fall musste GWB dafür die ultraknappe Mehrheit den Bundesstaat Florida gewinnen und dafür wahlrechtskonform 100% der Wahlmänner bekommen. Allerdings weiß man bis heute nicht, wer die Stimmenmehrheit in Florida wirklich gewann, weil Stimmzettel und Wahlmaschinen vielfach so gestaltet waren, daß man nicht sicher war, wen der Wähler wirklich angekreuzt hatte.

In Deutschland hatte die Ära des Trash-TVs begonnen. Die Idee, ein Dutzend Menschen abgeschottet von der Außenwelt unter totaler Kameraüberwachung in einen Container zu stecken, war noch so neu, daß sie zu einem Politikum wurde. Ich erinnere mich an das Ende von Staffel Zwei am 31.12.2000. Als die letzten Gestalten freigelassen wurden, die drei Monate zuvor in der Hoch-Phase des US-Wahlkampfes eingesperrt wurden, fragten, wer denn nun der neue Präsident wäre und „das weiß noch niemand“ als Antwort erhielten, erschienen mir die perplexen Gesichter als Apotheose des Wahlirrsinns. Die USA, das Mutterland der Demokratie, hatte Präsidentschaftswahlen abgehalten und zwei Monate später stritt man immer noch wie die Kesselflicker darüber, wer eigentlich gewonnen habe.

Aber das würde sich nicht wiederholen. Die Vereinigten Staaten waren sich schließlich einig, unter keinen Umständen jemals wieder so eine Blamage vor der Welt hinlegen zu wollen. Die Auszählungsprobleme würden behoben sein bei den Midterms.

Wie naiv man vor 22 Jahren war.

Al Gore verzichtete letztendlich darauf, jeden Wahlhelfer Floridas in Grund und Boden zu verklagen. Er fühlte sich der Staatsraison verpflicht, wollte nicht riskieren, die Hängepartie in eine Staatskrise zu verlängern. Die guten anständigen Demokraten.

Hillary Clinton fuhr 2016 einen sehr deutlichen Sieg über Donald Trump ein. Sie gewann drei Millionen Wählerstimmen mehr, war aber eine vorbildliche Staatsbürgerin und akzeptierte Trumps Mehrheit im electoral college. Die USA brauche eine stabile Regierung, hieß es aus der Clinton-Kampagne. Womöglich glaubten im November 2016, in den Tagen nach der Wahl, immer noch allerhand Demokraten, Trump würde sich im Präsidentenamt mäßigen und die ungeheuerlichen Lügen, die schrillen Auftritte des Wahlkampfes abstreifen, weil er Präsident aller US-Amerikaner wurde.

Wie naiv man vor sechs Jahren war.

Joe Biden regiert schon ein Jahr und neun Monate. Die Wahl hatte er mit über sieben Millionen absoluten Stimmen Vorsprung überzeugend gewonnen und erreichte 306:232 Wahlmännerstimmen im Electoral College.

Trump und die Republikaner erkannten aber die Ergebnisse des 03.11.2020 nicht an und seit dem 06.01.2021 ist es traurige Gewissheit: Mit der GOP ist eine gesamte Groß-Partei zur Staatsfeindin mutiert, die demokratische Spielregeln mit Füßen tritt und die Verfassung verachtet.

Sie wird geprägt von bösartigen Hetzern, die sich längst vollständig von der Realität abgekoppelt haben.

Sie verachten den eigenen Staat, die Mehrheit der eigenen Bürger, selbstverständlich auch den eigenen Präsidenten. Sie erkennen Wahlergebnisse nicht an und lobpreisen stattdessen den Kriegsverbrecher Putin.

Demokratie funktioniert aber nicht, wenn Fakten und Wahlergebnisse nur akzeptiert werden, wenn sie politisch erwünscht sind.

[….] Trumps früherer Kommunikationsstratege Steve Bannon hat diese Strategie jüngst neu interpretiert: Flood the zone with shit. Einfach so viel Blödsinn in die Welt pusten, so viele konkurrierende Narrative, Lügen, sich widersprechende Behauptungen, dass die Wahrheit selbst irgendwann auch nur wie eine von vielen Versionen der Realität erscheint.   Diese Strategie ist vor allem dann hilfreich, wenn man nicht vorhat, die Wahrheit zu sagen. Donald Trump etwa ist bekanntlich ein pathologischer Dauerlügner. Er lügt, um sein eigenes Ego zu streicheln, er lügt aus geschäftlichem Interesse, er lügt aus politischem Kalkül – und manchmal hat man das Gefühl, er lügt einfach aus Gewohnheit.  Die alten Lügen gebären ständig neue: Weil ihm zum Beispiel die New Yorker Staatsanwaltschaft vorwirft, den Wert vieler seiner Immobilien dramatisch übertrieben und sich so Vorteile verschafft zu haben, muss Trump jetzt einmal mehr etwas behaupten: Dass er selbst nicht etwa ein kriminell agierender Zocker ist, sondern eine verfolgte Unschuld. Dass die Tatsache, dass seine Verfehlungen ihn jetzt womöglich doch einholen, keine gerechte Strafe ist, sondern ein Ergebnis politisch motivierter Attacken.  [….]

(Christian Stöcker, SPON, 25.09.2022)

Heute könnte der Hassfanatiker und Faschist Jair Bolsonaro, der Süd-Trump, die brasilianischen Präsidentschaftswahlen verlieren.

Aber in der Post-2020-Welt der Trumpesken Nationenzerstörer sind Wahlergebnisse nur noch vage Empfehlungen.

Gut möglich, daß Lula mehr Stimmen holt. Aber so what?  Wird der Noch-Präsident das anerkennen?

[…]  Ergebnis der Präsidentenwahl in Brasilien noch unklar

In Brasilien führte der linksgerichtete Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva zunächst nach ersten Teilergebnissen bei der Präsidentenwahl. Inzwischen ist aber Amtsinhaber Jair Bolsonaro in Führung gegangen.  [….]

(DW, 02.10.2022)

Bei einem Auszählungsstand von 7% liegt Bolsonaro mit 49:42% vorn. Seinen Sieg würde er anerkennen. Aber etwa auch eine Niederlage?

[….] Eher zu Trumps Kategorie zählt auch Jair Bolsonaro, der diese Woche bei der Uno-Konferenz in New York wieder für alle erkennbar eine Unwahrheit nach der anderen verbreitete . Von seinem angeblich erfolgreichem Umgang mit Covid (trotz Hunderttausender realer Toter) bis zum angeblichen Wohlbefinden des Amazonas-Regenwaldes. Ihn werden seine Lügen hoffentlich spätestens bei der brasilianischen Wahl ab dem kommenden Wochenende einholen. [….]

(Christian Stöcker, SPON, 25.09.2022)

Unglücklicherweise schludert auch das deutsche Wahlsystem. Unglücklicherweise haben sich insbesondere in der Ex-DDR von der Demokratie verabschiedet.

Ulrike Nimz beschreibt in einer großen Montagsdemo-Reportage, wie ganz normale Ossis auf die Straße gehen, um die demokratischen Eckpfeiler auszumerzen

[….] Auf der Bühne hat nun Petra Scholz das Wort, eine schmale Frau mit schwarzen Locken, alleinerziehend, Friseurmeisterin mit eigenem Salon. Zwei Nebenjobs habe sie, um sich über Wasser zu halten. Impfgegner nennt sie „Superhelden“. Jeder müsse jetzt raus auf die Straße, sich den örtlichen Demos anschließen, egal, wer sie veranstaltet. „Lasst euch nicht mehr sagen, wen ihr hassen sollt“, ruft sie und erklärt, wen es stattdessen zu hassen gilt: die Grünen, die Klimaaktivisten, die „einzigen Extremisten“, die „Eigentum zerstören, um die Welt zu retten“. [….] Petra Scholz aus Plauen will nicht nur Haare schneiden und ein gutes Leben. Sie will die Regierung „endlich zum Teufel jagen“. Sie will, dass Deutschland „souverän“ wird, sich befreit von „der Diktatur des Westens“. Und wer sagt eigentlich, dass Betroffenheit und Radikalisierung sich ausschließen? Was, wenn es beim „heißen Herbst“ in Plauen, Bautzen und anderswo nicht nur um bedrohte Existenzen geht, sondern darum, den Volkszorn zu bündeln?  [….]

(SZ, 30.09.2022)

Ausgerechnet die deutsche Hauptstadt zeigt sich zu dysfunktional, um überhaupt korrekte Wahlen durchzuführen. Was für ein Geschenk an die rechtsextremen Demokratieverächter.

[….]  Was fast niemand erwartet hat, ist eingetreten: Berlin bereitet sich auf eine komplette Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirken vor. Grund ist die Einschätzung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, dass diese Wahlen vom 21. September 2021 ungültig seien. [….]

(taz, 02.10.2022)

Gute Nacht, demokratische Welt.

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