Sonntag, 11. Mai 2025

Der Bundeskanzler erstaunt.

Wir wissen vieles über Merz; einiges überrascht aber auch.

Bekanntlich ist der Mann Regierungsazubi, war noch nicht einmal Dorf-Bürgermeister. Gleichzeitig hält er sich selbst aber für so fabelhaft, daß er keine Notwendigkeit empfindet, sich irgendetwas erklären zu lassen. Er rennt einfach mit „Hoppla, jetzt komme ich“-Attitüde los.

[…..] In Warschau empfängt ihn am frühen Mittwochabend Donald Tusk, Polens Ministerpräsident. Der rote Teppich ist ausgerollt, die Ehrenformation ist angetreten, jetzt sollen Merz und Tusk die Reihe der Soldaten abschreiten. Aber Merz weiß nicht so genau, wohin. Er steht ein Stück vor dem roten Teppich.  Tusk gestikuliert, weist ihm den Weg, Merz betritt den Teppich, die beiden gehen ein paar Schritte, dann macht Tusk eine Kehrtwende, Merz zögert, wieder zeigt ihm Tusk, wo es langgeht. Die beiden schreiten die Formation noch einmal ab, dieses Mal in die andere Richtung. Bei Merz sieht das etwas unsicher aus, dann fasst er Tritt. Ist eben alles nicht so einfach. Im Kleinen nicht und im Großen schon gar nicht.  [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

Keine Überraschung stellt ferner die mangelnde Fachkompetenz des Kanzlers dar. Unglücklicherweise gehören viele Journalisten zu den Einfaltspinseln, die aus der Tatsache, daß Merz einst sein Adressbuch verscherbelte, um bei Blackrock Grüßonkel zu werden, fälschlicherweise schließen, er verstünde etwas von Wirtschaft und Finanzen. Dabei ist Merz gerade auf dem Themenfeld völlig ahnungslos, was sich unter anderem daran zeigte, daß er dem Rest der Welt im Wahlkampf weismachen wollte, massive zusätzliche Investitionen und Steuersenkungen könne er ohne Schulden wuppen.

Wir wissen außerdem nur zu genau, daß Merz unter chronischer Chef-Attitüde leidet, sich damit kontinuierlich unbeliebt macht. Untergebene staucht er im Befehlston zusammen, hinterlässt überall Verletzungen. Dieses Verhalten fällt ihm immer mal wieder auf die Füße, wie die 18 Gegenstimmen aus dem ersten Kanzlerwahlgang eindrücklich beweisen. Aber der knapp 70-Jährige ist geistig viel zu unflexibel, um sich noch zu ändern. Wo er hinkommt, zerschlägt er mit unbedachten Äußerungen Porzellan, weil es ihm grundsätzlich an Intelligenz mangelt, um die Folgen seiner Aussagen und seines Tuns strategisch abzuschätzen. In dieser Hinsicht ist er Merkel und Scholz hoffnungslos unterlegen.

[….] Doch in Brüssel trat er betont selbstbewusst, stellenweise breitbeinig auf. Sollte seine Europapolitik so aussehen, wie der Kanzler am Freitag geredet hat, dürfte es nicht lange dauern, bis es in Brüssel kracht. [….] Gleich am ersten Tag nach seiner Amtseinführung leitete Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) eine Verschärfung der Kontrollen an den deutschen Grenzen an, Menschen ohne Anrecht auf Asyl sollen dort gleich zurückgewiesen werden. Die »Welt« berichtete gar, Merz habe eine nationale Notlage ausgerufen. [….] Der Kanzler bekam kurz darauf bei seinem Antrittsbesuch in Warschau zu hören, was Polens Ministerpräsident Donald Tusk davon hält: nichts.   

[….] Den dritten Dämpfer verpasste Merz den anderen Europäern bei der Frage, ob man den aktuellen geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen mit einer erneuten gemeinsamen Schuldenaufnahme begegnen sollte, ähnlich wie in der Covidpandemie. Vor allem Frankreich wünscht sich das. Für Merz aber kommt das nicht infrage. [….]  »Da gibt es auch nicht überall einen Konsens zwischen Deutschland und Frankreich.«

Ein solcher fehlt auch bei einem weiteren brisanten Thema, bei dem Merz prompt die Saat für den nächsten Krach legte. Diesmal ging es um das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz, das Unternehmen verpflichten soll, auch bei ihren Zulieferern auf die Einhaltung von Menschenrechten zu achten. [….] »Wir werden in Deutschland das nationale Gesetz aufheben«, sagte er, als er neben von der Leyen stand. »Ich erwarte auch von der Europäischen Union, dass sie diesen Schritt nachvollzieht und diese Richtlinie wirklich aufhebt.« [….] Schon der Ton stieß manchem sauer auf. »So kann Herr Merz mit einem CDU-Kreisverbandsvorsitzenden im Sauerland reden, aber nicht in Brüssel mit der Präsidentin der EU-Kommission«, sagt Grünenparteivize Sven Giegold, der zuvor lange Jahre EU-Abgeordneter war.

Auch von Merz’ sozialdemokratischen Koalitionspartnern kommt Kritik. »Im Wahlkampf ist grobschlächtiges Auftreten Teil des Geschäfts, aber der Wahlkampf ist vorbei«, sagt René Repasi, Chef der SPD-Gruppe im EU-Parlament. »So funktioniert Europapolitik nicht. Man kann seine Wünsche vortragen. Aber kein Land ist groß genug, um in der EU per Ansage Dinge durchzusetzen.«  [….] Merz aber insistierte schon bei seinem Auftritt mit Ratspräsident Costa, dass eine bloße Verschiebung »keine Antwort« sei, sondern nur »eine vorläufige Lösung des Problems«. Denn: »Die dauerhafte Lösung des Problems muss darin bestehen, diese Richtlinie schlicht aufzuheben.«

Die Pressekonferenz beendete Merz dann kurzerhand selbst, ganz so, als sei er der Gastgeber: »So, vielen Dank und auf manches Wiedersehen.« Der düpierten Moderatorin aus Costas Team blieb nur noch, schnell »danke schön« zu sagen. [….]

(Markus Basler, 09.05.2025)

So weit, so hanebüchen. So weit, so erwartbar.

Der Bundeskanzler erstaunt mich aber auch. Ich habe ihm jede Kurzsichtigkeit, Eitelkeit zugetraut, weiß von seinen enormen charakterlichen Mängeln und dem völligen Fehlen jeder Regierungserfahrung, seiner fachlichen Inkompetenz. Allerdings hatte ich dann erwartet, es gäbe in der CDUCSU-Fraktion doch so viel Erfahrung, um sich zumindest an den ganz wichtigen Tagen, auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Müsste Merz nicht, nach dreieinhalb Jahren als Partei- UND Fraktionschef nicht gelernt haben, Verantwortlichkeiten zu delegieren und zumindest IRGENDJEMAND in der Fraktion die Dinge wissen zu lassen, die er nicht weiß? Offenbar nicht. Daß er im ersten Kanzlerwahlgang durchrauschen könnte, war gar nicht bedacht worden. Niemals wußte, wie es in so einem Fall weiter geht, welche Fristen zu bedenken sind.

[…..]  Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang gescheitert. Ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie konnte das passieren? [….] Merz und Klingbeil wissen nicht, wer diese 18 Abweichler sind. [….] Merz im ersten Wahlgang durchgefallen. Der Mann, der jahrelang auf diesen Tag hingearbeitet hat. Der schmerzhafte Niederlagen einstecken musste, aber nie aufgab. Der unbedingt Kanzler werden wollte. Der seine loyale Unterstützerin Julia Klöckner zur Bundestagspräsidentin machte. Sie hat jetzt den Apparat unter sich, der besser als irgendwer sonst wissen müsste, was in so einer Lage zu tun ist. Und sein engster Vertrauter, der designierte Kanzleramtschef Thorsten Frei, war gut drei Jahre lang Fraktionsmanager. Er sollte die Spielregeln kennen, die an diesem Tag gelten. Oder nicht?

Sie wissen es nicht, sie sind schlecht vorbereitet, wie Eingeweihte hinterher einräumen. Sie haben sich darauf verlassen, dass alles schon gut gehen würde. Es ist ein Elend. [….] Teilnehmer der Runde berichten später, dass sich Klöckner sicher gewesen sei. Ein zweiter Wahlgang am selben Tag sei nicht möglich. So sehen es die Regeln vor. Was Klöckner offenbar nicht geprüft hat oder nicht erklärt: dass man von den Regeln abweichen kann. [….] In der Unionsfraktion gibt es keinen Mangel an Juristen. Sie studieren auf ihren Handys das Grundgesetz, lesen die Geschäftsordnung des Bundestags. Und fragen sich, warum eigentlich ein zweiter Wahlgang noch an diesem Tag ausgeschlossen sein soll. Im Regelwerk finden sie keine Hinweise. [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

Nicht nur wußte niemand, wie es rechtlich weitergeht. Hinzu kommt auch noch die sträfliche Arroganz, eine fachfremde Weinkönigin und Theologin zur Bundestagspräsidenten gemacht zu haben und das kleine Einmaleins des Parlaments nicht zu beherrschen. Keiner kannte die Geschäftsordnung und als man endlich darüber Klarheit hatte und Dummerle-Julia darüber aufklärte, daß man diese Geschäftsordnung auch ändern könne, hatte niemand in der Union die entsprechenden Kontaktdaten, um die Grünen und die Linken zu erreichen. Obwohl man doch just noch vor ein paar Tagen bei der Aushebelung der Schuldenbremse erlebt hatte, daß man sie braucht, um eine Zweidrittel-Mehrheit zu erreichen. Die parlamentarische Inkompetenz der Merzianer verblüfft sogar mich.

[…..] Aber Entschlossenheit allein bringt ihn seinem Ziel nicht näher. Aus eigener Kraft kann er sich nicht erlösen, das wissen sie in der Union. Sie sind auf Hilfe angewiesen, der Opposition ausgeliefert. Jenen Leuten also, die sie, als die noch in der Regierung waren, zu Ideologen erklärt haben, den Grünen. Und jenen, die sie teilweise immer noch für Extremisten halten, den Linken. [….] Was nun beginnt, ist eine Art von chaotischer Pendeldiplomatie, die auf den wenigen Quadratmetern der Fraktionsebene im dritten Stock des Reichstagsgebäudes stattfindet. Ein improvisiertes Kammerspiel. [….] Spahn und Dobrindt bitten per SMS um ein Gespräch mit den beiden Fraktionsvorsitzenden. [….] Dröge und Haßelmann schleichen sich unauffällig aus der Fraktionssitzung, die anderen tagen weiter. Die Fraktionsmanagerin Irene Mihalic leitet die Runde. Auf einmal geht die Tür auf, und die Bundestagspräsidentin kommt herein. Nein, die beiden Vorsitzenden seien nicht da, sagt Mihalic. Die Situation ist nicht ohne Komik. Klöckner verlässt den Grünensaal und irrt weiter über die Fraktionsebene. [….] Aber die Linken muss Merz schon selbst überzeugen. Sie haben dem CDU-Chef nicht verziehen, wie er eilig die Mehrheiten des alten Bundestags nutzte, um sein gewaltiges Schuldenpaket durchzupeitschen. Um auf keinen Fall mit den Linken zusammenarbeiten zu müssen. Jetzt ist er auf sie angewiesen.

[….] Formal sind die Linken für die Union genauso aussätzig wie die rechtsextreme AfD. Die Union schließt eine Zusammenarbeit mit den Linken aus. [….] Alexander Hoffmann, der neue CSU-Landesgruppenchef, erinnert sich an ein gemeinsames Fernsehinterview am Rande der ersten Sitzung des neuen Bundestags. Damals hat er sich mit Heidi Reichinnek gestritten, der Fraktionschefin der Linken. Mit der könne er sicher reden, glaubt er. Viel ist das nicht, aber es muss jetzt genügen. [….] Sein Vorgänger Dobrindt kann ebenfalls etwas beitragen. [….] Er kennt Janine Wissler so gut, dass er auf sie zugehen könnte, glaubt er. Es gibt nur ein Problem: Janine Wissler, die ehemalige Linkenchefin, hat kein Amt mehr. Seit gut einem halben Jahr führen andere die Partei. In der Fraktion ist sie einfache Abgeordnete. Doch sie wird dazugeholt. Es geht jetzt nicht mehr um protokollarische Feinheiten, sondern ums politische Überleben. [….]

(SPIEGEL, Titelgeschichte, 09.05.2025)

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