Die Sicht auf das Pulverfass Nahost wird oft von Emotionen getragen. Abscheu, Ermüdung, Wut, Mitleid, Empörung.
Bestenfalls wird auf die enorme Komplexität verwiesen. Da es seit 75 Jahren immer wieder Kriege und Terror gab, Supermächte und Religionsführer intensiv ihr Gewicht in die verschiedenen Waagschalen warfen, wurden so viele Fehler gemacht, so viele Verbrechen begangen, so viel unerträgliches Leid zugefügt, daß jede Seite abendfüllend valide Argumente dafür aufzählen kann, im Recht zu sein, indem die Heuchelei und Abscheulichkeit der jeweils anderen genannt werden.
Zu dem großen religionsspezifischen Unglück - alle drei abrahamitischen Weltreligionen, die unendliches Leid über den Planeten brachten, haben dort ihren Ursprung – gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, weswegen die eigentlich auf ein vergleichsweise kleines Gebiet lokalisierte Nahost-Hölle, globale Auswirkungen hat:
· Den Keim der Probleme legten die Europäer und US-Amerikaner durch ihre kolonialen Verbrechen und die damit verbundenen willkürlichen hochproblematischen Grenzziehungen.
· Deutschland als die Holocaust-Täter-Nation kann niemals neutral sein.
· Ost und West sehen in verschiedenen Nahost-Playern ihre Proxys und führen systemische Stellvertreterkriege.
· Ausgerechnet in den Golfstaaten gibt es enorme Öl- und Gas-Vorkommen, die nicht nur die Weltwirtschaft in Gang halten, sondern auch unermesslichen Reichtum und damit verbundene ökonomischen Interessen begründen.
· Zu allem Übel beinhaltet die Region rund um die arabische Halbinsel mit der Straße von Hormus, dem Suezkanal, dem Roten Meer, dem Golf von Oman und natürlich der Bab-al-Mandab-Straße, gleiche mehrere für den Welthandel absolut essentielle Meerengen.
Schlichtere Geister, wie Fritze Merz, verwerfen angesichts dieser komplizierten Gemengelage, gleich das internationale Recht und wollen Völkerrecht nur noch gelten lassen, wenn es „den anderen“ schadet, aber es nicht für Freunde und sich selbst anwenden. Legal, illegal, scheißegal – so lautet das bekannte CDUCSU-Motto.
[…] Merz sieht »keinen Grund« USA und Israel zu kritisieren
Bundeskanzler Friedrich Merz hat die Angriffe der USA und Israels auf Iran begrüßt. »Es gibt für uns und auch für mich persönlich keinen Grund, das zu kritisieren, was Israel vor einer Woche begonnen hat«, sagte der CDU-Vorsitzende auf dem Tag der Industrie des Wirtschaftsverbandes BDI. »Und es gibt auch keinen Grund, das zu kritisieren, was Amerika am letzten Wochenende getan hat«, fügte er mit Blick auf die US-Angriffe auf iranische Atomanlagen hinzu.
»Es ist nicht ohne Risiko. Aber es so zu belassen, wie es war, war auch keine Option«, betonte der Kanzler mit Blick auf das iranische Atomprogramm. Iran wird vorgeworfen, Atombomben zu entwickeln, was die Regierung in Teheran zurückweist. Es gebe durchaus die Gefahr einer Eskalation, sagte Merz. Er sei jedoch einigermaßen optimistisch, dass es dazu nicht kommen müsse, wenn er sich die bisherigen Reaktionen Irans anschaue. Wenn die Straße von Hormus gesperrt werde, werde dies jedoch Konsequenzen geben. [….]
(Spon, 23.06.2025)
Mit dieser Haltung zeigt Merz, wieso Deutschland international keine Glaubwürdigkeit besitzt: Regeln gelten also nur rein willkürlich. Aber wieso sollten sich Iranische Mullahs oder Russische Präsidenten an Völkerrecht halten, wenn Merz klar sagt, die USA und Israel brauchen sich nicht danach richten?
Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen an der Uni Frankfurt, sieht es wie fast alle Vertreter ihrer Zunft, völlig anders als der Bundeskanzler.
[…] Zunächst einmal haben sich die USA hiermit in einen Angriffskrieg Israels eingeschaltet. Das heißt, die US-Regierung ahmt das Verhalten Israels nach. Sie heißt es damit auch gut. Aber nach wie vor gilt: Wir haben es hier mit einem völkerrechtlich gesehen illegalen Krieg zu tun. Und das heißt, dass diese Spirale der Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht sich weiter verschärft beziehungsweise weiter und schneller dreht. […] Gleichzeitig gibt es offensichtlich keinen Plan auf Seiten der USA. Wenn man sich Trumps Verlautbarungen ansieht, dann wirkt es ein wenig so, als denke er, dass mit diesem Angriff auf die drei Atomanlagen der Kriegseintritt der USA schon wieder erledigt sei. Das ist sehr unwahrscheinlich, denn wir müssen davon ausgehen, dass Iran in der einen oder anderen Weise reagieren wird. […] Zum jetzigen Zeitpunkt können wir überhaupt nicht einschätzen, ob die Nuklearanreicherungsanlagen, die bombardiert worden sind, tatsächlich restlos zerstört worden sind. Das wird sich erst in der Zukunft zeigen. Wir wissen auch nicht, ob angereichertes Uran bereits aus Fordo fortgebracht wurde. Der Iran fährt seit mehreren Jahrzehnten sein Atomprogramm. Das heißt, er kann solche Anlagen auch wieder aufbauen. Er kann sich wieder auf den gleichen Pfad begeben. Um das iranische Atomprogramm zu beenden, brauchen wir ein verlässliches Abkommen. […] Man kann sogar Israel unterstützen in seinem Angriff. Aber man muss sich ganz klar sein: Der Angriff ist nichtsdestoweniger eine Verletzung des Gewaltverbots. Es ist ein Angriffskrieg, und der ist untersagt.
Und in dem Moment, in dem man das verschleiert und so tut, als wäre es legal, diesen Krieg zu führen, gibt man dauerhaft jedes Instrument aus der Hand, andere dafür kritisieren zu können, dass sie sich eventuell in Angriffskriegen engagieren. Man denke etwa an Russland in der Ukraine. Natürlich sind das unterschiedliche Situationen und unterschiedliche Gründe für diese Angriffskriege, aber beides sind Angriffskriege. Und in dem Moment, in dem wir das Recht nicht mehr für uns gelten lassen wollen, sondern nur noch für andere, wird es für niemanden mehr Geltung haben. […] Man kann das gar nicht dramatisch genug sagen. Wir sind momentan in einer Phase, in der die Weltordnung und damit auch das Völkerrecht auf der Kippe steht. Weil wir erleben, dass immer weniger Staaten - und eben nicht nur kleine, unbedeutende, nicht nur irgendwelche Schurkenstaaten - sondern die großen und wichtigen Staaten beginnen, sich immer weniger an das Völkerrecht gebunden zu fühlen.
Das schafft eine Situation, in der das Völkerrecht von niemandem mehr Anerkennung erfährt, weil einfach klar ist, dass sich niemand daran halten muss. Damit kommen wir in eine Welt zurück, in der allein das Recht des Stärkeren von Bedeutung ist. Und man muss sich ganz klar machen: Europa und Deutschland gehören weltpolitisch nicht zu den Stärkeren. Wenn wir über Machtpolitik sprechen, sind wir die kleineren. Wir brauchen das Regelwerk der internationalen Ordnung, wir brauchen das Völkerrecht. […]
Merz ist aber zu unterbelichtet, um das zu verstehen. Er ist naiv und rechtlich unwissend.
[….] Nein, Herr Merz,
SIE sind von diesem Regime überhaupt nicht betroffen. Betroffen sind
zuallererst 80 Millionen Menschen im Iran, die seit 46 Jahren unter der
tödlichen Unterdrückung dieses Regimes leben müssen. Einem Regime, mit dem Ihre
Partei, das nur nebenbei, seit Jahrzehnten herumkumpelt, während genau diese
Menschen Sie anbetteln, nicht mehr auf das Regime zu hören, sondern auf die
Menschen.
Nicht die israelische Regierung macht die „Drecksarbeit“, sondern die vielen
Menschen, die sich den islamistischen Machthabern widersetzen. Auf diese
Menschen hagelt es im Übrigen gerade Bomben.
Get educated or shut the F up.
[….]
Die Konsequenzen sind klar: Durch den totalen Glaubwürdigkeitsverlust in der Region, spielen die EU und insbesondere die drittgrößte Wirtschaftsmacht des Planeten Deutschland, keine Rolle im Nahen Osten. Was Fritze dazu sagt, ist schlicht irrelevant. Er wird gar nicht erst informiert. Das liegt keineswegs in der Natur der Sache, wenn man die deutsche Regierung ist. Die Regierungen Schmidt und Schröder genossen gerade im Nahen Osten enorme Glaubwürdigkeit auf beiden Seiten. Sie waren kenntnisreiche Vermittler. Die Minister Wischnewski und Fischer verfügten über exzellente Kontakte; wurden auf arabischer, iranischer und israelischer Seite gern gesehen. Die Außenminister der Merkel-Ära konnten da nicht anknüpfen, Baerbock wurde noch weniger ernst genommen und Wadephul, obschon er erst so kurz im Amt ist, ist bereits in den USA völlig unten durch und wird sogar in seiner CDU scharf kritisiert.
Komplexe Themen lassen sich nicht nach kurzfristiger Opportunität simplifizieren. Man kann ihnen nicht geistig Herr werden, indem man mangelnde intellektuelle Durchdringung durch Subjektivität und Sympathie ersetzt.
Mangelnde Medienkompetenz spielt auch eine große Rolle. Die schrecklichen Bilder, die uns erreichen, werden viel zu wenig überprüft, auf die Absichten der Absender gegengecheckt. In Gaza gibt es so gut wie gar keine Journalisten. Das israelische Militär zensiert die Informationen sehr stark. Es gibt auch keine verlässlichen Fakten über die Fraktionen innerhalb des Teheraner Regimes. Nur Spekulationen. Nach Kriegseintritt der USA und dem Abwurf der 14, je 14 Tonnen schweren Bunkerbrecher, gab es selbstverständlich keine belastbaren Informationen aus dem Iran selbst. Stattdessen übernahmen Agenturen und deutsche Medienhäuser schlicht die Informationen, die Trump und Bibi verbreiteten: Zwei Männer ohne jede Glaubwürdigkeit; absolut notorische Lügner.
Wer bequem auf einem deutschen Sofa sitzt und sich ein möglichst realistisches Bild machen will, sollte auf seriöse Menschen hören, die aus dem Iran und Israel und Gaza stammen, die dort Familie und Freunde haben, die sich rund um die Uhr mit den Themen beschäftigen. Zum Glück gibt es solche Personen, die sogar auch ihre Analysen und Berichte in den Medien teilen. Natalie Amiri, Navid Kermani, Daniela Sepehri, Gilda Sahebi.
[….] Der Schriftsteller Navid Kermani hat Bundeskanzler Friedrich Merz wegen dessen „Drecksarbeit“-Aussage scharf kritisiert. Merz habe mit seiner Aussage die vielen zivilen Kriegsopfer beleidigt und entmenschlicht, sagte Kermani der Deutschen Presse-Agentur in Köln. „Wen meint er mit Dreck? Damit meint er offenbar die Menschen, die im Iran in den Hochhäusern ohne Luftschutzkeller sitzen und jetzt von Israel bombardiert werden. Das sind meine Verwandten, meine Cousinen und Cousins, meine Kollegen und Freunde. Viele von ihnen haben im Kampf gegen das Regime Opfer gebracht, von denen wir im Westen nicht einmal eine Vorstellung haben.“
Alle bekannten Protagonisten der Demokratie-Bewegung hätten sich gegen den Krieg ausgesprochen, so auch die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi oder die Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh. „Diese beiden Frauen und Millionen andere Iraner kämpfen seit Jahren heroisch gegen das Regime und damit auch für Israels Sicherheit. Sie sind kein Dreck.“ Er glaube nicht, dass ein Helmut Kohl, ein Wolfgang Schäuble oder gar eine Angela Merkel, die in der Sache womöglich Merz zugestimmt hätten, je auf eine solche zynische Wortwahl zurückgegriffen hätten, sagte Kermani.
„Merz leistet damit einer Verrohung und Enttabuisierung der öffentlichen Sprache Vorschub, die den Rechtspopulisten enorm in die Hände spielt, siehe USA.“ In einem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ (Wochenendausgabe) formulierte Kermani pointiert: „Wer Respekt vor der Drecksarbeit hat, Bomben auf Zivilisten abzuwerfen, ist selbst ein Dreckskerl.“ [….]
Unglücklicherweise argumentieren auch seriöse Publizisten wie Ilko-Sascha Kowalczuk oder Hasnain Kazim bisweilen erstaunlich unterkomplex und polemisch.
Nein, Kazim und Kowalczuk; wenn ich Israel für den Bruch des Völkerrechts und die Angriffe auf den Iran kritisiere, bedeutet das eben NICHT, Sympathien für Al Chamenei und seine Mörderbande zu hegen.
Im Gegenteil. Ich befürchte, durch die militärischen Angriffe von außen, wird das Regime gestärkt und die Opposition nur noch mehr unterdrückt.
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