Das war ja nicht bloß irgendein Unterrichtsstoff, den wir als junge Teenager im GMK- und Politik-Unterricht lernen mussten. Nein, die Akronyme SALT-I, SALT-II oder START waren so aktuell und politisch relevant, daß wir auch außerhalb der Schule über den Stand der Strategic Arms Limitation Talks der gesamten 1970er Jahre und die folgenden Strategic Arms Reduction Talks diskutierten. START-II wurde erst 1993 ratifiziert und sollte zwei Drittel der atomaren Sprengköpfe beseitigen, so daß Warschauer Parkt (WP) und Nato „nur noch“ jeweils 3.500 Nuklear-Explosionen zustanden.
Wir hatten 1983 alle „Wargames“ und „The Day After“ gesehen, konnten uns lebhaft vorstellen, wie schnell versehentlich ein Atomkrieg ausgelöst wurde und was so ein Atompilz konkret für die Menschen bedeutete.
Wie beim „Autoquartett“ in der Grundschule, kannten wir uns aus mit Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen. Es war Unterrichtsstoff; eine SS20, bzw. RSD-10 Pioner, beschreiben zu können. SS steht hier für surface-to-surface „Boden-Boden“. Die Biester waren so furchterregend, weil sie mobil waren, kreuz und quer durch das riesige Warschauer-Pakt-Gebiet fuhren, nach dem entsprechenden Befehl aus dem Kreml quasi sofort in die Luft schossen, bei einer Reichweite von bis zu 7.000 km jeden Winkel Europas erreichten und zudem jeweils drei thermonukleare Gefechtsköpfe trugen. Es gab hunderte SS20, von denen die meisten in Belarus und der Ukraine umherfuhren.
Helmut Schmidt erkannte, daß die NATO dieser Waffengattung nichts entgegen zu setzen hatte und bearbeitete den widerstrebenden Jimmy Carter so lange, bis es 1979 zum berüchtigten NATO-Doppelbeschluss kam, der bei Scheitern der Abrüstungsverhandlungen automatisch das US-Atomraketensystem Pershing II (und Marschflugkörpern) in Deutschland stationiert hätte. Die Dinger waren zwar der SS20 bei Reichweite und Sprengkraft deutlich unterlegen, waren aber eine Möglichkeit, von Süddeutschland aus, schnell russische Städte zu erreichen, ohne das Ende der Welt mit Interkontinentalraketen auszulösen. Schmidt trieb das um, was wir nun 2025 erleben: Die USA als unsicherer Kantonist, der möglicherweise nicht bereit ist, seine totale Vernichtung für Europa zu riskieren.
Ich gehörte zu den radikalen Gegnern der Pershing-II-Stationierung in Deutschland, ging demonstrieren und hielt es in meiner jugendlichen gefühlten Allwissenheit für vollkommen absurd, bei 20.000 Atomsprengköpfen weltweit und dem Potential, diesen Planeten hundert mal zu zerstören, weitere Atomraketen zu benötigen. Zudem würde Deutschland als Stationierungsort der Pershings bevorzugtes Erstschlagziel Moskaus. Die „Rüstungslücke“ bei den INF - Intermediate Nuclear Forces – mit einer Reichweite zwischen 1000 und 5500 km, überzeugte mich keineswegs.
Politischer Konsens war damals die vielfache Überlegenheit des WP bei konventionellen Waffen. Niemand glaubte, den Rückstand aufholen zu können. Also entwickelte die NATO die „flexible response“-Doktrin: Man würde eine Niederlage mit konventionellen Waffen nicht riskieren und gegebenenfalls zu ABC-Waffen greifen. Einen „konventionellen Krieg“ in Deutschland zu führen, erschien mir nach den Zerstörungserfahrungen des Zweiten Weltkrieges völlig irre. Statt zu Waffen zu greifen, sollte man „die Russen“ lieber kommen lassen und entsprechend des Buchs von Johan Galtung über „zivilen Widerstand“, welches wir ebenfalls im GMK-Unterricht gelesen hatte, handeln. Vor dieser Option fürchtete ich mich aber nicht, weil ich es weitgehend für konservative Propaganda hielt. Die CDU brauchte „den Russen“ als Feindbild, um Wahlen zu gewinnen. Aber wieso sollte Moskau so etwas tun? Breschnew und Schmidt hatten doch zu Hause in seinem kleinen Bergedorfer Reihenhaus gehockt und waren sich einig, wie „SCHEISSE“ der WKII gewesen war. 60 Millionen Tote. Wer sollte das noch einmal wollen?
Käme es zum Atomkrieg, würde ich schnell zum Hafen fahren, um möglichst dicht am Einschlagsort der ersten Atomsprengköpfe zu sein. Dann wäre man in Mikrosekunden pulverisiert, müsste nicht leiden.
Es dauerte zwar, aber irgendwann dämmerte mir, Anfang der 1980er doch nur ein idealistischer Teenager mit begrenztem Wissen gewesen zu sein.
1987 kam es tatsächlich zu einem INF-Vertrag, alle SS20 wurden bis 1991 zerstört.
Ob dafür die atomare Aufrüstung Westeuropas verantwortlich war, bleibt umstritten. Zunächst brach der Kreml alle Verhandlungen ab und rüstete ebenfalls weiter auf. Die Wende kam erst 1985 mit Michael Gorbatschow, der auf die NATO zuging und später erklärte, er habe viel von der Friedensbewegung gelernt.
Erst in den 1990ern erfuhr man, wie weit fortgeschritten, die „sowjetische Angriffsdoktrin“ war. Auch hier sollte Helmut Schmidt Recht behalten; der WP hatte detailliert geplant, wie man Westeuropa überrollen könnte.
[….] Eine wesentliche Konstante war die Maxime, stets einen Krieg vom eigenen Territorium abzuhalten. Aus diesem Gebot resultierte die große Bedeutung, die der Warschauer Pakt während des gesamten Kalten Krieges seinen militärischen Offensivfähigkeiten beimaß. In seiner konventionellen Kriegführung bildeten eine hohe Gefechts- und Mobilmachungsbereitschaft sowie eine außerordentliche Beweglichkeit der mechanisierten und motorisierten Verbände das Fundament dieser offensiven Fähigkeiten. Nur durch sie konnte der Gegner überrascht und die eigenen Truppen in einer Art „Blitzkrieg“ in die Tiefe des Territoriums des Gegners vorstoßen, bevor dieser mobilmachen, seine Verteidigungsbereitschaft herstellen und seine Kernwaffen einsetzen konnte.
In der letzten Phase des Kalten Krieges, als der Warschauer Pakt eine militärische Auseinandersetzung auf den Einsatz konventioneller Mittel begrenzen zu können hoffte, wurden schließlich mit der Einführung der Taktik der „tiefen Stöße“, dem Aufbau „Operativer Manövergruppen“ und der Flexibilisierung der Staffelungssystematik weitere Maßnahmen zur Steigerung der Offensivfähigkeiten der VSK getroffen. Diese Maßnahmen sollten die erste Angriffsstaffel der VSK zur „multiple penetration“ befähigen, d.h. zur Durchtrennung des NATO-Abwehrriegels an einer Vielzahl von Stellen. Das Prinzip der „Massierung von Kräften und Mitteln“ wurde hierbei jedoch nicht aufgegeben: Die Konzentration einer deutlichen materiellen und personellen Überlegenheit gegenüber einem verteidigungsbereiten Gegner sahen die Planer des Warschauer Paktes weiterhin als wesentliche Voraussetzung für den operativen Erfolg an. [….]
Aber in den 1990er dozierten die wichtigsten
US-Thinktanks vom „Ende der Geschichte.“ Der Westen, die Demokratie, die NATO
hatten gewonnen. Die UdSSR war gedemütigt, in Lyse. Die Menschen in St.
Petersburg hungerten, die WP-Staaten klopften allesamt bei der NATO an, um
möglichst schnell unter ihr Dach zu schlüpfen. Deswegen brauchten wir alle
keine Armeen mehr; insbesondere nicht in Deutschland. So begann das das große
Rosten und Einmotten. Bis es schließlich ein zackiger überreicher konservativer
adeliger CSU-Minister war, der die heilige Kuh der Union – die Wehrpflicht –
beerdigte.
Ich mag die Bundeswehrfreundlichkeit meiner Partei SPD nicht. Das ist mir zu
patriotisch. Mit steckt die Friedensbewegung noch in den Knochen und ich hasse
Uniformen jeder Art. Daher habe ich mich während der 16 CDUCSU-Verteidigungsministerjahre
immer gut amüsiert, wenn TV- oder Zeitungsreportagen, die völlig zerfallene
zerlumpte Rudimentär-Bundeswehr zeigten, in denen bloß noch unsportliche,
leicht unterbelichtete Dickerchen ihre Zeit absitzen. Sicher, die Welt lacht
über die deutsche militärische Unfähigkeit, genau wie auch deutsche Geheimdienste
eine internationale Lachnummer sind. Leider müssen wir stattdessen immer bei
den Großen um Informationen betteln, weil unsere Schlapphüte über ihre eigenen
Füße stolpern. Aber genau das finde ich eigentlich sympathisch, wenn eine
Nation so gar kein Händchen für das Militärische hat, mit albernen um die Ecke
schießenden Gewehren nach Afghanistan gefahren werden muss – von den
Amerikanern; wir selbst haben ja keine Transportflugzeuge ohne Motorschaden
oder Hubschrauber, die fliegen können. Da graben wir dann mal einen Brunnen und
bleiben ansonsten in den befestigten Camps – draußen wäre es auch zu
gefährlich. Da wird ja geschossen. Ursula
von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer zerbrechen sich unterdessen auf
der Hardthöhe den Kopf darüber, ob man Bundeswehr-Socken und Unterhosen vielleicht
sogar schon innerhalb von zehn Jahren, statt in 20 Jahren besorgen kann.
Und dann kam die Krim 2014. Und Donald Trump 2016. Und der Ukraine-Einmarsch 2022. Verdammt. Vielleicht wäre eine Bundeswehr mit Gerätschaften, die jünger als 50 Jahre sind, doch ganz sinnvoll. Gar nicht mal unbedingt zum Mitkämpfen, aber möglichweise muss man jemand anders damit aushelfen.
Die Bellizisten Hofreiter und ihr Bruder Strack-Zimmermann, die vor drei Jahren in den Talkshowsesseln festwuchsen, um da ihre Panzerkenntnisse aufzusagen, nerven mich immer noch. Das ist wieder so Grundschulhof-Autoquartett. Oder das Referieren und Reichweiten und Sprengkraft der thermonuklearen Köpfe von SS20 und Pershing-II im GMK-Unterricht.
Klingt nach wie vor grotesk aus dem Mund eines langhaarigen linken Grünen. Leider führt es auch zu social-Media-Selbstüberschätzung der Massen. Wir sind bekanntlich alle Bundestrainer, Virologen und nun eben auch Militärexperten.
Ich bin Laie, bezweifele aber, ob es so zielführend ist, wie klein Fritzchen auf dem Schulhof, die nackten Zahlen zu vergleichen.
Offenbar sind doch Logistik, Energieversorgung, Geheimdiensterkenntnisse, Kommunikation und insbesondere Drohnen, Drohnen, Drohen viel relevanter im konventionellen Krieg von heute.
Trump und Musk können mit dem Abschalten von Starlink oder dem Stopp der Geheimdienstinfos viel mehr Schaden anrichten, als Putin mit 100 Panzern.
[…] Im Kontext des Stopps der Militärhilfe für die Ukraine haben die USA nach Angaben von CIA-Direktor John Ratcliffe auch die Weitergabe von Geheimdienstinformationen an die Ukraine ausgesetzt. Das sagte Ratcliffe im Interview mit dem US-Sender Fox Business. Das Ausmaß der US-Entscheidung ist derzeit unklar. Ratcliffe bestätigte mit seinen Aussagen zwar einen Bericht der britischen »Financial Times« (»FT«) über die Entscheidung Washingtons. […]
Die Überlebensunfähigkeit der Gattung Homo Sapiens zeigt sich schon daran, daß ein irrer rechtsradikaler Pronatalist aus Südafrika über die Versorgung der Ukraine mit Internet bestimmt.
[….] Nach dem Eklat im Weißen Haus stellen die USA die Militärhilfen für die Ukraine vorerst ein. Nun wächst die Sorge, dass Musk auch den Zugang zum Satellitendienst Starlink einstellt.
Systematisch hatte Russland gleich von Beginn seiner Invasion an die ukrainische Infrastruktur inklusive Strom- und Internetversorgung zerstört.
Rettung kam aus dem All: Unmittelbar nach der ersten russischen Angriffen hatte der damalige ukrainische Vize-Premier Mychailo Fedorow im März 2022 über Twitter (heute X) den texanischen Geschäftsmann Elon Musk gebeten, seine Starlink-Satelliten für die Ukraine freizuschalten. Und Musk antwortete ebenfalls per Twitter spontan: "Starlink ist aktiv, weitere Empfangsanlagen sind unterwegs."
Seitdem ist der von Musks Unternehmen SpaceX bereitgestellte Satelliteninternetdienst eine zentrale Stütze des ukrainischen Abwehrkampfes. Vor allem die ukrainischen Drohnen, aber auch internetbasierte Anwendungen zur Kommunikation, zur Zielidentifizierung und Zielerfassung nutzen Starlink.
Das ukrainische Vertrauen in den Milliardär Musk wurde jedoch bereits im September 2022 tief erschüttert. Während des ersten ukrainischen Drohnenangriff gegen die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim brach plötzlich der Funkkontakt zu allen Drohnen ab, sie stürzen ins Leere, der Gegenangriff war gescheitert.
Ein Jahr später kam heraus, dass Elon Musk persönlich den Starlink-Ingenieuren befohlen hatte, das System abzuschalten. [….]
Ob es in der Cyberkrieg-Starlink-Welt sinnig ist, in Deutschland Panzer und Kanonen zu entwickeln, die gegebenenfalls in 20 Jahren einsatzbereit sind, weiß ich nicht. Ich bezweifele es.
[….] Das ukrainische Schlachtfeld hat gezeigt, wie ein 25 Millionen Euro teurer Panzer von einer Drohne für 5000 Euro ausgeschaltet werden kann. Im Krieg der Zukunft geht es um autonome Waffensysteme, gestützt auf vernetzte Drohnen, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Das kommt uns sogar entgegen. Die Kriegsbegeisterung in Europa ist nicht groß und die demografische Entwicklung negativ. Wir haben nicht viele Soldaten. Wenn wir glaubwürdig abschrecken wollen, müssen wir auf Roboter und unbemannte Technologie setzen. Das verstehen hoffentlich auch die Planer und Beschaffer bei der Bundeswehr. [….] Wir brauchen wohl eher eine Million Drohnen als 2000 neue Panzer, um die Ostflanke in der Zukunft besser und kostengünstiger zu verteidigen. Es sind vor allem Hightech-Bereiche, in die wir investieren müssen. [….]
(Moritz Schularick, Direktor des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, 05.03.2025)
Das erscheint mir richtig. Allerdings „Hightech“ in Deutschland, wo das Internet noch Neuland, also Zukunftsmusik ist?
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