Donnerstag, 5. Juni 2025

Freiheit der unpopulären Meinung

Wenn ich nicht mit den meisten Punkten des SPD-Parteiprogramms übereinstimmte, wäre ich dem Laden nicht Anfang der 1990er beigetreten und würde nicht seither Beiträge zahlen.

Daher verteidige ich die Sozis auch vehement gegen Großmäuler, die ihnen vorhalten, als Regierungsmitglieder anders zu handeln, als es die reine Parteiprogrammatik Verlangt.

Felix Banaszak nahm vor ein paar Tagen ein effektives Merz-Kritisches Video auf, mit dem er im Kumpel-Ton seinem Freund Lars für die Merz-Politik kritisierte.

Lars Klingbeil? Gibt es Dich noch, lebst Du noch?“
Das ist typische Oppositions-Methode und geht völlig in Ordnung.

Banaszak erwähnt allerdings eine entscheidende Sache nicht: Die SPD bekam 16% bei der Bundestagswahl, ist Juniorpartner. Es liegt in der Natur der Sache und ist sogar der Sinn der deutschen parlamentarischen Demokratie, Koalitionen einzugehen und Kompromisse zu finden. Selbstverständlich kann die SPD nicht mit 16% Wahlergebnis in der Bundesregierung 100% ihrer Partei-Programmatik umsetzen. Das wäre antidemokratisch, weil der Souverän genau das eben nicht wollte. Stellte die SPD eine Allein-Regierung, weil sie bei der Bundestagwahl mehr als 50% der Sitze erlangt hätte, wären Banaszaks Anwürfe voll zutreffend und vernichtend. Aber bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen, muss die SPD vieles mitmachen, das sie eigentlich ablehnt. Willkommen in der Demokratie. Lars Klingbeil ist der oberste rote Repräsentant der Bundesregierung und tut gut daran, nicht dem Lindner-Beispiel zu folgen und alles zu blockieren, was man gemeinsam beschlossen hat. Daneben gibt es natürlich noch die reine SPD-Programmatik. Dafür ist Tim Klüssendorf zuständig, der nicht zur Bundesregierung gehört und den Wählern erklären muss, wozu die SPD Teil der Koalition ist, was die (sehr viel schlimmere) Alternative wäre, wo die Unterschiede zu CDU und CSU liegen und was man täte, wenn die SPD das Mandat hätte, allein die Bundesregierung zu stellen.

Man kann und muss nicht nur als Partei eine Regierungspolitik mitverantworten, die einem widerstrebt; es gehört zum Wesen der Demokratie an der Meinungsbildung mitzuwirken, kontroverse Meinungen auszuhalten und als Parteipolitiker auch Dinge zu vertreten, die man persönlich nicht unterstützt. Wer das nicht will, kann als Einzelpersönlichkeit antreten und als solche nur das vertreten, von dem man 100% überzeugt ist. So wird man zwar die reine Lehre propagieren und ein gutes Gewissen behalten, aber in der Praxis nie Einfluss bekommen, weil 360.000 Menschen mehr sind als einer und sich im Wahlkampf sehr viel mehr Gehör verschaffen können.

Es ist eine absolute Unsitte des Blasen-Scheinrealität Sozialer Medien, kompromisslos nur noch seine eigene Meinung zu akzeptieren. Sich nur noch in einem Umfeld zu bewegen, in dem man mit jedem haargenau übereinstimmt. In dem jeder Abweichler verdammt wird.

Also ja, ich stehe hinter der großen Mehrheit der Punkte im SPD-Parteiprogramm. Meine persönliche programmatische Schnittmenge ist zwar auch mit dem Grünen Programm recht groß, aber eben noch größer mit den Roten. 

 

Ich co-finanziere die SPD, weiche aber persönlich auch in allerlei Punkten ab.

Teilweise sind meine Ansichten ganz und gar nicht mehrheitsfähig: So trete ich für eine völlig Legalisierung aller Drogen (Abgabe natürlich nur an Erwachsene, die über die Wirkungen aufgeklärt wurden) und wesentlich mehr Migration nach Deutschland ein. Ich will den Kirchen den Status der Gemeinnützigkeit entziehen, Inzest aus dem Strafrecht entfernen und die plebiszitären Elemente der deutschen Politik deutlich zurückfahren. Sportübertragungsrechte sollen nicht vom ÖRR gekauft werden. CRISPR/Cas9-Technologie ist gut, Leihmutterschaft muss erlaubt sein.

Ich vertrete aber auch von der SPD-Linie abweichende Meinungen, die durchaus mehrheitsfähig sind, nur in der SPD nicht gern gesehen werden: Aktive Sterbehilfe muss legalisiert werden. PID muss erlaubt sein. Der Föderalismus in der Bildungspolitik muss verschwinden.

Ich bin im Wortsinne liberaler, als die Durchschnitts-SPD, nehme aber andererseits weniger Rücksicht auf klassische Sozi-Klientel, wie Kohlkumpel, Pendler oder Gewerkschaftler. Als Privatperson kann ich es mir leisten auf populistische Töne zu verzichten. Es kommt bei der Masse immer gut an, gegen Ausländer zu agitieren, sich patriotisch zu zeigen, nach strengen Gesetzen zu krakelen und Fußball-Fans zu umschmeicheln – ich verabscheue alles daran.

(…….) Natürlich ärgert es mich als Liberalen (nicht im FDP-Sinne!), wenn rechte Parteien tragische Vorkommnisse ausnutzen, um sich als tatkräftig zu inszenieren, indem sie höhere Strafen und schärfere Gesetze fordern.

Das ist so billig und durchschaubar. Das tut man wenn das Kind im Brunnen ist.  Schärfere Gesetze kosten nichts und lenken davon ab, daß die aktiven Politiker offensichtlich bei der Prävention versagt haben.

Ganz ohne Strafgesetzbuch und Jugendknäste geht es leider nicht.

Aber ich erwarte, daß Politiker nicht wie 2001 CDU und Schillpartei in Hamburg dafür gewählt werden mehr Jugendliche einzusperren, sondern wünsche mir Bildungs-, Sozial- und Justizpolitik, die verhindert, daß Jugendliche überhaupt auf die schiefe Bahn geraten.

Nach „schärferen Gesetzen“ zu krakeelen, ist ein Armutszeugnis und zu allem Übel wird das auch noch vom Wähler belohnt.

Mein persönlicher Liberalismus gebietet es Freiheiten nur dort einzuschränken, wo sie Dritte gefährden.

Waffen müssen für den Privatgebrauch verboten sein, weil man mit Waffen andere verletzt. Man darf nicht mit drei Promille Autofahren, weil man sich damit nicht nur selbst umbringt, sondern andere gefährdet.

Irrigerweise gibt es aber auch zahlreiche Verbote, die aus reiner (oft religiotisch beeinflussten) Borniertheit entstanden.

Eins, das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe wurde gerade erst abgeschafft.

Intersexuelle dürfen aber immer noch nicht heiraten.

Man darf auch nicht zu dritt heiraten. Die Ehe zwischen Geschwistern ist nach wie vor verboten, obwohl das Inzest-Tabu absurd und anachronistisch ist. (….)

(Das gehört verboten, 04.01.2018)

Es gibt also eine Menge Meinung in meinem Kopf, die nicht zur SPD-Regierungspolitik passt und auch im Gesamtvolk nur von wenigen geteilt wird.

Das macht aber nichts, weil ich vom Pluralismus überzeugt bin. Andere können anderes denken, ohne daß ich den Drang verspüre, ideell folgen zu müssen.

(….) Es ist dieser erzkonservative, autoritäre Reflex, alles verbieten zu wollen, das nicht wie man selbst ist. Ich lehne das als zutiefst illiberal ab. Unter konservativer Ägide wurde und wird so viel verboten, das völlig harmlos ist und positiv wirken kann: Gemischtrassige Ehen, Verhütungsmittel, Masturbation, das Wahlrecht für Frauen, Homosexualität, außerehelicher Geschlechtsverkehr, die Freiheit Atheist zu sein, Stammstellenforschung, das Wahlrecht für Schwarze, PID, Leihmutterschaft und vieles andere mehr.  [……] Manchmal schieben sie eine gute Absicht vor, wie das Verhindern von Abtreibungen und den Schutz des werdenden Lebens.

Die Praxis zeigt aber den gegenteiligen Effekt. Es finden weniger Abtreibungen bei liberaleren Regelungen statt, weil Schwangere dann nicht unter Druck gesetzt werden. Strengste Regeln, wie sie Trumps GOPer gerade in den USA durchsetzen, führen hingegen dazu, daß nicht nur mehr Panik-Abtreibungen passieren, sondern daß dabei auch Frauen auf bestialische Art sterben. (….)
(Das gehört verboten – Teil II, 17.09.2024)

Ich bin außerdem Realist und weiß daher Zweierlei:

1.   Wenn ich zur Überzeugung gelange, daß Heilpraktikerei und Homöopathie verboten werden sollten, leitet sich daraus kein Recht ab, diese Ansicht in der Tagesschau und dem SPIEGEL kundzutun.

2.   Wenn ich ein Heilpraktikerverbot auf der Straße oder auf Facebook verlange, wird mir nicht jeder zustimmen; es wird heftigen Widerspruch geben.

Nach meiner Erinnerung begann es vor etwa 20 Jahren, daß Rechte sich gar fürchterlich empörten, wenn man ihnen widersprach oder ihnen nicht überall der Rote Teppich ausgerollt wurde, um ihre Meinungen zu multiplizieren.

(…) Es ist fast 20 Jahre her, als es die rechtsextreme Maximal-Schwurblerin Eva Herman mit ihrem „man darf ja nichts mehr sagen“-Gejammer so weit trieb, aus der laufenden Kerner-Sendung gebeten zu werden.

Ein Glücksfall für die Faschistin, die bis heute von dem Opfer-Narrativ lebt, seither nach Herzenslust publiziert, schreibt, diskutiert, deklamiert, eigene Formate bekommt. Jede Menge Bücher veröffentlicht. Sie redet und redet und redet darüber, daß sie nicht mehr reden dürfe.

[….] Der 9. Oktober 2007 ist ein denkwürdiger Tag in der deutschen TV-Geschichte. In der Talkshow von Johannes B. Kerner kommt es zum Eklat. Mit seinen Gästen Senta Berger, Margarethe Schreinemakers, Mario Barth und Eva Herman diskutiert der Moderator über das Thema "Geschlechterrollen". Die ehemalige "Tagesschau"-Sprecherin, die kurz zuvor über ihre kontroversen Aussagen zum nationalsozialistischen Familienbild in die Kritik geraten war, wiederholt ihre steilen Thesen. Bis Kerner handelt.  "Du hast dich beschwert über die gleichgeschaltete Presse. Das ist keine glückliche Wortwahl, weil auch dieses Wort kommt aus dem Dritten Reich", sagt der Moderator, der Herman duzt, zu Beginn des Gesprächs. Herman versucht sich zu wehren. Dieser Begriff sei auch in anderen Zusammenhängen benutzt worden. Als ein Historiker klarstellt, dass es eine nationalsozialistische Wortschöpfung ist, kommt es zu einem legendären Satz Hermans: "Es sind auch Autobahnen gebaut worden damals und wir fahren heute darauf."  Statt einzuschreiten, lässt Kerner weiter gewähren. Zum Erstaunen seiner Gäste. Erst Schreinemakers, dann Barth, dann Berger widersprechen Herman. "Es gibt so ein paar Sachen, die sind einfach problematisch, was heißt problematisch, die gehen nicht. Und Autobahn geht eben auch nicht. Autobahn geht halt nicht, finde ich", sagt Kerner. Doch statt zu erkennen, dass er mit Herman eine Unbelehrbare vor sich hat, bekommt sie noch einmal die Chance zu Erklärungsversuchen. [….]

(STERN, 06.08.2020)

Heute sind die Thesen der 2007ner Herman nahezu Mainstream. Wesentlich strammere Nazis bekommen in den deutschen Talkshows den roten Teppich ausgerollt, dürfen unwidersprochen widerliche Hetze verbreiten, lügen und für antidemokratische Ziele werben. (…)

(Braundrift, 23.01.2025)

Ob Wendler, Naidoo, Nena oder Nuhr: Den braunen Oldie „man darf ja nichts mehr sagen“, singen sie jetzt alle. Das Klagelied ist fester Bestandteil rechtsradikaler Schwurbelei und wird unter dem Deckmantel der „Meinungsfreiheit“ gegen Demokratie und Minderheitenschutz instrumentalisiert. Besonders prominent log US-Vizepräsident Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Europäern ins Stammbuch, sie hätten Demokratiedefizite.

Wir haben aber auf guten Gründen und historischen Erfahrungen einen Volksverhetzungsparagraphen. Wir verstehen, daß absolute Meinungsfreiheit nicht möglich ist, weil sie da enden muss, so sie anderen schadet. Man darf eben nicht zum Mord an bestimmten Menschengruppen aufrufen, weil diese dadurch gefährdet werden. Selbstverständlich gibt es in Vances „Land of the free“ auch keine absolute Freiheit. Weder darf man seinen Nachbarn umbringen, noch kann man ungestraft Kinder vergewaltigen. Freiheit kann nur mit einer enormen Fülle von Einschränkungen  - nämlich überall dort, wo Dritte gefährdet werden – funktionieren.

Es ist eine schwere Pervertierung des Freiheitsbegriffs, zu glauben, man selbst dürfe alles tun und die anderen nichts.

Es ist eine schwere Pervertierung der Meinungsfreiheit, zu glauben, nur noch die eigene Meinung gelte, müsse verbreitet werden und habe unwidersprochen zu bleiben.

Unglücklicherweise macht sich der deutsche Kulturstaatsminister Weimer den Pseudo-Meinungsfreiheitsbegriff zu eigen und bedient heute in einem SZ-Aufsatz das rechtsschwurblerische „man darf ja nichts mehr sagen“-Narrativ. Ganz auf Linie des Musk-AfD-Fanatikers Poschardt, beklagt das Regierungsmitglied die angeblichen woken Horden, die über tapfere Menschen mit gesunden Meinungen herfielen.

[….] Bislang waren mir die ganzen Debatten um den neuen Kulturbeauftragten der Bundesregierung, Weimer, ziemlich egal. Nun hat er mich aber doch ziemlich erheitert: Er publiziert in der SZ einen Essay unter der Überschrift "Verteidigt die Freiheit" und meint, Kunst habe unpolitisch zu sein. Was auch immer das sein, wie auch immer das gehen soll - aber dann holt Weimer zum großen unpolitischen Schlag aus und zeigt, was er wirklich meint: Kunst habe so zu sein, wie es ihm paßt, und wenn die Künstler ihm passen, dann dürfen sie selbstredend auch politisch sein. Abgesehen von dieser intellektuellen Erbärmlichkeit in seinem Amt - hat ihm dort niemand gesagt, was er für einen unlogischen Müll unter seinem Namen verbreiten lässt -: ich habe mich köstlich amüsiert und laut losgelacht angesichts solcher Peinlichkeiten des Wachhabenden.  [….]

(Prof. Ilko-Sascha Kowalczuk, 05.06.2025)

Bisher hatte ich vier CDUCSUler – Merz, Klöckner, Dobrindt und Reiche – als dringend rücktrittsbedürftigangesehen.


Aber Weimer ist auch sowas von fällig. Der Mann ist schwer unterbelichtet und scheint gar nicht zu bemerken welch unsäglichen Unsinn er schreibt.

  

Staatsminister Weimer, SZ, 05.06.25

[…] Von Trump über Rowling bis zu Karl May

Wie macht es aber unser Kulturstaatsminister Wolfram Weimer? Er schmeißt alles in einen Topf. In einem Gastbeitrag für die SZ bringt er die jüngsten Angriffe Donald Trumps auf Harvard, das Aussortieren Tausender Bücher wegen angeblicher Pornografie in den US-Bibliotheken, ja sogar die blutige Unterordnung der Künste in China und Russland zusammen mit der Kritik hierzulande an den Kabarettisten Dieter Nuhr, der Autorin J. K. Rowling sowie unkritischer Ausgaben von Karl May. Über das Ungleichgewicht der jeweiligen Machtverhältnisse kein Gedanke.

Links und rechts rücken bei Weimer sowieso zusammen, Hufeisentheorie, klar. Wie wenig sie zur Klärung der Sachlage beiträgt, zeigt sich in Weimers Text: Sensivity Reading und rechtsradikaler Kulturkampf, moralische Bedenken und tatsächliche Verfolgung von Intellektuellen – sollte man da nicht differenzieren?

Weimer kolportiert lieber eine seiner Lieblingsthesen, dass nur die bürgerliche Mitte Bedeutungsoffenheit und Vielfalt der Kunst verteidigt. Aber wann ist etwas „Shitstorm“ und wann „Mitte“? Letzteres nur dann, wenn es Weimer in den Kram passt? Dass er hier selbst als Kulturkämpfer auftritt, scheint er gar nicht zu bemerken. […]

(taz, 05.06.2025

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