Dienstag, 10. Juni 2025

Außenpolitische Stilfragen

Wenn man als Kind für den Deutschunterricht einen Aufsatz schreibt, wird man für plumpes Aneinanderreihen und Wiederholungen gemaßregelt. Mit 11 Jahren begreift man es noch nicht, aber es klingt schlecht, wenn in jedem Satz „und dann“ vorkommt. Ich erinnere mich noch an meine latente Unzufriedenheit, wenn mir „Stil“ angekreidet wurde, weil mir der Begriff, anders als Grammatik- oder Rechtschreibfehler, so schwammig vorkam. Es gibt keine allgemein bekannten Eselsbrücken, nach denen ein Grundschüler guten Stil lernt.

Ein Problem stellt sich immer, egal, ob ein Romancier über seinen Helden, ein Sportkommentator über einen Tennisspieler, oder ein Journalist über Politiker schreibt: Es klingt miserabel, denselben Namen ständig zu wiederholen. Daher verwendet man Umschreibungen. Statt immerzu „Merz“, streut man auch „der Sauerländer“, der „Merkel-Konkurrent“, „CDU-Chef“, „Bundeskanzler“ ein. Für einen Roman-Autoren birgt das freilich auch Risiken, da er einen viel längeren Text bewältigen muss, aber auch viel mehr Ebenen zur Verfügung hat, um Umschreibungen zu ersinnen. Diese können nämlich auch zu kreativ oder abwegig werden, so daß dem Leser unangenehm auffällt, wie jemand krampfhaft versucht, denselben Terminus zu oft zu verwenden. Das ist auch schlechter Stil.

In der Politik, verwendet man weniger Ausweich-Worte, neigt aber dazu, sie völlig synonym zu verwenden, auch wenn erheblich unterschiedliche Topoi definiert sind. Schreibt man über den Krieg in der Ukraine, tauchen außer „Wladimir Putin“ die Begriffe „Moskau, Russland, Kreml, die Russen, russischer Präsident“ auf, die alle dasselbe meinen, aber nicht synonym sind. Natürlich ist Putin nicht Russland; das weiß aber auch der Leser und versteht, wie es in dem Zusammenhang gemeint ist.

Niemand versteht es als volksverhetzend gegenüber 130 Millionen Russen, wenn sie in einem Text sprachlich mit Putin gleichgesetzt werden.

Bei Israel funktioniert das allerdings weit weniger gut, weil der Staat, die Staatsbürgerschaft und das Judentum kollidieren. Bei der völlig legitimen Kritik am Vorgehen der gegenwärtigen Israelischen Regierung schwingt leicht einmal völlig illegitimer Antisemitismus mit.

Verkompliziert wird die Sache wegen der besonderen deutschen Geschichte, der Verwirrung um die genaue Definition, was eigentlich Antisemitismus ist und schließlich auch den fälschlichen Antisemitismus-Vorwurf, der aus Netanjahus Kabinett leider oft kommt, um legitime politische, moralische und rechtliche Kritik zu diskreditieren.

Daher sollte man unbedingt vermeiden, um des flüssigeren Lesens Willen, die Begriffe „Netanjahu, israelische Regierung, Israel, die Juden, Jerusalem, israelische Armee, Israelis“ synonym zu verwenden. Sie sind sehr unterschiedlich. Daher habe ich auch mehrfach in diesem Blog versucht, sie auseinander zu klamüstern

(….) Aber abgesehen von Raphaels persönlichem Martyrium; auch wenn sie keinerlei Bezug zum Hamas-Massaker hätte: Es ist die Paradedefinition von Antisemitismus, einer Person, wegen ihres Jüdisch-Seins zu drohen und sie aufgrund ihrer zufälligen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu verurteilen. Hier verschwimmt alles: Judentum, Israel, Gaza, Netanyahu-Regierung, Ethnie, Religion.

Marcel Reich-Ranicki, 1920 im polnischen Włocławek geboren, hatte einen säkularen polnischen Vater (David Reich) und eine deutsche Mutter (Helene Auerbach). Er besuchte die deutsche Schule in Polen und zog 1929 mit seinen Eltern als kleines Kind nach Berlin. 1938 deportierte man ihn nach Polen, ab 1958 lebte er wieder dauerhaft in Deutschland. Eine Verbindung zu Israel hatte er gar nicht. Reich-Ranicki gehörte aber auch nicht zur jüdischen Religion, weil er immer Atheist war.

„Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott. […] Ich kenne keinen. Hab ihn nie gekannt. Nie in meinen Leben!“

(MRR)

Kein Israeli, kein Angehöriger des Judentums und dennoch zweifellos Jude, obwohl es gar keine „menschlichen Rassen“ gibt. Er gehörte nicht zu der Ethnie, nicht zu der Religion und nicht zu dem Nationalstaat (Israel), empfand sich aber eindeutig als Jude. Die Beispiele Marcel und Teofila Reich-Ranicki zeigen die Perfidie des Antisemitismus: Aufgrund nicht existenter, ausgedachter Zugehörigkeiten, wurden ihre gesamten Familien, ihre Eltern, alle Geschwister, alle Verwandte ermordet.

Yuval Raphael ist genauso wenig für den Gazakrieg und die Netanyahu-Regierung verantwortlich, wie Annalena Baerbock für Adolf Hitler oder ich für Donald Trump.

Menschen, die ihre außerordentlich berechtigte Kritik an Bibis inzwischen offenkundig genozidalen Krieg ausdrücken, indem sie einzelne Israelis und/oder Juden in Berlin, Malmö oder Basel angreifen, gehört meine ganze Verachtung.
Das ist Antisemitismus! Und es ist ebenfalls antisemitisch zu behaupten, man dürfe Israel nicht kritisieren, weil es die klassischen Stereotype aus der Nazizeit bedient: Es gäbe mächtige internationale jüdische Seilschaften, die so etwas verböten.

Selbstverständlich darf man Kritik üben.

(….)   Viele Rechtsextreme, viele Idioten und leider auch zu viele engagierte Linke, blamieren sich, seit die Hamas am 07.Oktober 2023 mehr als 1.400 Israelis massakrierte und rund 250 Menschen als Geiseln verschleppte, mit verstörenden Aussagen.

Möglicherweise gab es schon beim Jom Kippur-Krieg 1973, oder dem Sechstagekrieg von 1967 so abwegige deutsche Meinungen dazu. Aber glücklicherweise gab es damals noch kein Internet, so daß nicht jeder Depp seine irrelevanten Ansichten publizierte.

Ich möchte 20 Axiome zur Nahost-Meinungsäußerung in Deutschland nennen, die ich mir nicht etwa gerade selbst ausdenke, sondern seit Jahrzehnten rauf und runter gebeten werden. Aber offensichtlich dennoch immer weniger gehört werden.

1.   Niemand ist gezwungen sich zu positionieren.

2.   Niemand muss Nahost-Experte sein.

3.   Kritik an Israelischer Politik ist nicht verboten.

4.   Politisches Handlungen der Jerusalemer Regierung zu kritisieren, ist nicht antisemitisch.

5.   Einzelne Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland für Netanyahus Handlungen zu beschimpfen, ist antisemitisch.

6.   Die Hamas ist nicht identisch mit den Palästinensern.

7.   Ein nach 1945 geborener Deutscher ist nicht Schuld am Holokaust.

8.   Die Deutschen Bürger sind aber dafür zuständig, den Holocaust nicht zu vergessen und ihn nicht zu wiederholen.

9.   Für die historischen Leiden des jüdischen und des palästinensischen Volkes ist Deutschland sehr stark mitursächlich und sollte deswegen auf internationaler Ebene nicht ausgerechnet am Lautesten kritisieren und den moralischen Zeigefinger schwenken.

10.Hamas-Terror, der zum Beispiel beinhaltet, die deutsche Geisel Shani Louk, nackt zur Schau zu stellen, sie zu vergewaltigen, foltern, köpfen, zu zerstückeln und mit solchen Taten im Netz zu prahlen, ist eben nicht mit den Aktionen Israelischer Soldaten zu vergleichen.

11.Wenn man auf Social Media Israel beschimpft und dafür seinerseits kritisiert wird, bedeutet das nicht „man darf ja gar nichts mehr sagen“.

12.Meinungsfreiheit in Deutschland bedeutet nicht das Recht, seine Meinung immer widerspruchslos kund zu tun.

13.Wenn deutsche Juden nur unter besonderem Schutz in Schulen oder Synagogen gehen können, ist das nicht ihre Schuld, sondern eine elende Schande für die deutsche Gesellschaft.

14.Empathie für die getöteten Kinder im Gaza-Streifen zu empfinden, bedeutet nicht, israelfeindlich zu sein.

15.Empathie für die von der Hamas gefolterten und getöteten Israelis zu empfinden, bedeutet nicht, alle Palästinenser zu hassen.

16.Die internationale Gemeinschaft verlangt nicht von Fritze Meier in der Fußgängerzone von Buxtehude, eine Lösung des Nahostkonfliktes aus dem Ärmel zu schütteln.

17.Nicht jeder Deutsche muss über historisches Fachwissen verfügen.

18.Wer historische Vergleiche bemüht, sollte aber die Fakten kennen.

19.Deutsche Rechtsradikale, die mit ihrem extremen Hass auf Migranten und Muslime Stimmungen machen, sind nicht automatisch Israel-Freunde.

20.Die Kriegsverbrechen Putins rechtfertigen selbstverständlich nicht, 80 Jahre rückwirkend den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. (….)

(Historisch aufgeladene Zeiten, 04.11.2023)

Selbstverständlich wird auch Kritik geübt. Insbesondere in Israel selbst gibt es seit vielen Jahren massive deutliche öffentliche Kritik an Bibis Vorgehen. In Parteien, in der Presse, in der Zivilgesellschaft, sogar in Geheimdiensten und Armee. (…)

(Israel-Fragen, 17.05.2025)

Im SPIEGEL meldete sich zu dem Thema letzte Woche eine Kolumnistin des Hauses zum Thema.

[…] In politischen Debatten werden Länder oft wie Personen behandelt. Das kann gefährlich werden. Besonders im Umgang mit Israel ist sprachliche Präzision wichtig.  [….] Vor einigen Tagen stolperte ich über eine Umfrage, die der »Tagesspiegel« beim Meinungsforschungsinstitut Civey in Auftrag gegeben hat. Eine Frage lautete: »Welchen politischen Kurs wünschen Sie sich von Deutschland gegenüber Israel?« Die Befragten konnten sich zwischen drei Antworten entscheiden: »Distanzierung«, »Gleich«, »Annäherung«.

Ich versuchte, mir vor Augen zu führen, wie sich »Deutschland« von »Israel« distanzieren könnte. Es stellte sich kein Bild dazu ein, aber eine inhaltliche Aussage ergab sich dennoch, und die ist nun wirklich problematisch. Deutsche sollten sich nämlich nicht von Israel als Staat distanzieren, sondern sollten immer für ihn eintreten. Erst, wenn diese Prämisse gilt, kann etwa ein deutscher Bundeskanzler sich von bestimmten Handlungen eines israelischen Regierungschefs distanzieren. […] Gerade im Fall Israel zeigt sich also, dass es falsch sein kann, Orte mit ihren Regierungschefs gleichzusetzen. […] Wir sollten also differenzieren zwischen diesem Ministerpräsidenten und seinem Land, und wir sollten uns auch endlich das Wort »Israelkritik« abgewöhnen. […] »Netanyahukritik« wäre zwar eine Wortneuschöpfung, aber ich schlage den Begriff jetzt mal als bessere Alternative vor.  [….]

(Susanne Beyer, 01.06.2025)

Eine Art Entsprechung des Beyerschen Wunsches nach sprachlicher Differenzierung, lieferte heute London, aka Starmer, aka UK, aka die britische Regierung, aka England, aka das Vereinigte Königreich.


Sie wirft nicht alles in einen Topf, sondern adressiert präzise.

[…] Großbritannien und weitere Länder verhängen »mit sofortiger Wirkung« Sanktionen gegen zwei rechtsextreme israelische Minister. Das geht aus einer Erklärung des Außenministeriums hervor. […] Demnach werden die Vermögenswerte des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, und von Finanzminister Bezalel Smotrich eingefroren sowie Einreiseverbote gegen die beiden Politiker verhängt. Zudem müssen britische Finanzinstitute Beziehungen zu den beiden einstellen.

»Die heute angekündigten Maßnahmen zeigen die Entschlossenheit des Vereinigten Königreichs, gegen diejenigen vorzugehen, die zu Hass und Gewalt aufstacheln«, heißt es in der Mitteilung. Der britische Außenminister David Lammy erklärte laut BBC, die Minister hätten »zu extremistischer Gewalt und schweren Verstößen gegen die palästinensischen Menschenrechte aufgerufen.« Diese Handlungen seien »inakzeptabel«. »Deshalb haben wir jetzt Maßnahmen ergriffen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen«, so Lammy.

[…] Die Regierung in London schließt sich mit dem Schritt Kanada, Australien, Neuseeland und Norwegen an. In der Mitteilung heißt es zudem: »Das Vereinigte Königreich und seine Partner unterstützen die Sicherheit Israels und werden weiterhin mit der israelischen Regierung zusammenarbeiten, um einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza zu erreichen.« […] Großbritannien ist international zu einem der größten Kritiker der israelischen Regierung geworden. […]

(SPON, 10.06.2025)

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