Schon seit Teenager-Zeiten beschäftigt mich die Frage, wie 1933-1945 möglich war.
Natürlich fängt man in der eigenen Familie an. Väterlicherseits gab es keine Erkenntnisse zu gewinnen, weil das alles Amerikaner sind, die auf Seiten der Alliierten gegen Hitlerdeutschland kämpften. Mein Opa mütterlicherseits war kurze Zeit im WK-I Soldat, daher Kriegsgegner und für WK-II zu alt. Opa starb fünf Jahre vor meiner Geburt. Aber meine Oma erzählte viel aus dem Alltag, so daß ich als Kind eine ausführlichen Eindruck des Grauens bekam. Sie gehörte nicht zu einer Opfer-Gruppe, viele Familienmitglieder überlebten. Aber zwei Söhne meiner Oma und ihr Bruder gingen „verloren“. Ein Onkel wurde 1944, am Tag seiner Ankunft, in Russland gefangen genommen, bevor er einen Schuss abgeben konnte, lebte bis mindestens 1955 und verschwand für immer. Sein ältester Bruder krepierte schon als Säugling am Ende des ersten Weltkrieges, weil keine Medikamente zu bekommen waren. Mein Großonkel war Funker in einem Flugzeug und wurde über Frankreich abgeschossen.
Meine Oma tat mir so furchtbar Leid, aber sie war, wie so viele Frauen ihrer Generation tough und hatte sich notgedrungen das Überleben antrainiert. Im hohen Alter, war es ihr ein Trost zu wissen, daß ihre beiden verlorenen Kinder und ihr Bruder, wenigstens nicht selbst morden mussten und umkamen, bevor sie womöglich gezwungen gewesen wären, einen anderen Menschen zu erschießen. Das war „Glück“. Leider war ich noch nicht einmal 14 Jahre alt, als meine Oma starb und somit war meine Augenzeugen-Verbindung abgerissen, bevor ich erwachsen wurde und die richtigen Fragen stellte. Meine Mutter war das Küken der Familie, hatte die Nazi-Zeit als Mädchen erlebt und war enorm an Zeitgeschichte interessiert. Sie konnte mir viel erklären, war aber eben nicht selbst erwachsen, bevor Hitler demokratisch an die Macht gewählt wurde. In den folgenden Jahrzehnten ging ich dieser Frage intensiv nach, las Regal-weise Bücher zu dem Thema, befragte jeden, der alt genug war. Die Antworten schienen widersprüchlich zu sein: Man konnte von den Verbrechen gar nichts wissen – man wußte genug, um zu wissen, daß man nicht mehr wissen wollte – man wußte durchaus, was sich tat – man wußte und stimmte auch zu, weil man beispielsweise von den „Arisierungen“ profitierte.
Das betrifft auch die Fragen, ob man während des Naziregimes Widerstand leisten konnte: „Nein, wer sich widersetzte, wurde erschossen“, lautet die eine Überzeugung. Andererseits gibt es Berichte (beispielsweise vom gut erforschten Hamburger Polizeibataillon 101) über diejenigen, die zu Juden-Massenerschießungen abkommandiert wurden. Einige ganz wenige weigerten sich mit Hinweis auf ihr Gewissen und wurde ohne irgendeine Strafe wieder von der Aufgabe freigestellt. Die allermeisten Polizisten weigerten sich aber nicht.
Also, was stimmt denn nun? Die Antwort ist: Alles. Es war eben kein homogenes Regime. Was der eine Nazi-Kommandeur durchgehen ließ, bestrafte sein Kollege im Nachbarort drakonisch.
Irmgard von zur Mühlen befragte 1995 Marion Gräfin Dönhoff (*1909) nach ihrer Flucht aus Ostpreußen und wollte wissen, wie stark dort der der Einfluss der Propaganda war. Was wußten die Leute?
[…..] Die Leute waren furchtbar aufgeregt und hatten keine Ahnung; das war das Merkwürdige. Also nicht nur die Opfer waren, wie auch die Täter waren vollkommen ahnungslos […..] Ja, Also immer gab es natürlich politisch interessierte Leute, die wussten mindestens seit Stalingrad, dass der Krieg verloren ist und waren sehr skeptisch. Aber die breite Masse des Volkes, vor allem auf dem Lande hatte natürlich keine Ahnung. Die waren eingehüllt durch die Radiopropaganda und die Zeitung, wo alles bestens war. Also der Slogan der damals Umlauf hatte, war der Sieg ist eine Frage des Willens. Also wenn man das wirklich will dann siegt man immer und wenn man das nicht glaubte, war man eben eigentlich ein Verräter. Die Realität kam gar nicht an die Leute heran auf dem Lande. Die hörten eben ihren Rundfunk abends und manche lasen morgens das Blättchen, was da eben erschien und natürlich in allen dasselbe stand und immer hatte der Führer für alles gesorgt. Das was an Kraft fehlte um diese Illusion hin zur Realität werden zu lassen, das wurde durch Agitation ersetzt, durch Propaganda. Wenn man eben Jahre lang einer gewissen Propaganda unterliegt, dann kann man nicht mehr unterscheiden, was ist Realität und was ist von irgendwem zurecht gemacht. [….]
Faszinierend, zur selben Zeit, am selben Ort, nehmen Menschen die Realität völlig anders wahr. Während Marion Dönhoff selbst schon vor 1933 klar erkannte, was Hitler will und später aktiv den ostpreußischen Widerstand gegen das Regime mitorganisierte, lebten mit ihr unter einem Dach erwachsene Leute, die gar nichts davon begriffen.
Bis vor ungefähr zehn, fünfzehn Jahren gruselte ich mich zwar, ob der Rechtsradikalen in Deutschland, verabscheute DVU und NPD, empörte mich über Franz Schönhuber und Jörg Haider und Jean Marie Le Pen. Aber ich hatte keine Angst vor einer Rückkehr des Faschismus in Deutschland. Denn anders als 1933, ging man nicht mehr ahnungslos mit der Gefahr um, sondern war gewarnt. Außerdem schien es dank Internet und freier Presse nicht mehr möglich, die Menschen durch rechtsradikale menschenfeindlichen Propaganda von der Realität zu entfernen und sie durch gezielte Massen-Agitation Unsinn glauben zu lassen. Schließlich war auch noch ein stabiler Parteienstaat da, dessen Vertreter von CDU oder FDP ich zwar gar nicht mochte, die sich aber im Zweifelsfall doch gegen Antisemitismus und Autokratie stellen würden.
Bedauerlicherweise hat sich mein Optimismus inzwischen vollständig zerschlagen.
Social Media und die entsprechenden Algorithmen schieben fast alle Wähler in Info-Blasen, die teilweise keinerlei Berührungspunkte mehr mit der Realität haben. Eine faschistische Partei liegt bundesweit bei 20% und konnte sich in einigen Bundesländern zur stärksten Kraft aufschwingen.
CSU, CDU und FDP halten eben nicht Stand, um die Demokratie zu verteidigen, sondern robben sich ungeniert an die Faschisten heran. Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat übernimmt teilweise wörtlich AfD-Propaganda, die nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat. Offen wird mit Menschenhass geworben.
Wir sehen in den USA, wie die Medien – CNN zum Beispiel – vor Trump kriechen und insbesondere die Megareichen – Musk, Bezos, Zuckerberg – nicht widerständig, sondern willig nach Mar a Lago pilgern. Ja, sogar begeistert Millionen für Trumps Amtseinführung für die Sprengung von Verfassung, Demokratie und Pressefreiheit spenden. Möglich wird es durch eine absolut groteske Medienkonzentration in der Hand einiger weniger Multimilliardäre, die auf ihren weltumspannenden Plattformen ungeniert rechtsradikale antidemokratische Propaganda betreiben.
Ein ähnliches Bild gibt der deutsche Döpfner-Konzern ab, der sich daran berauscht, die Regierung zu sprengen und nun sogar dem reichsten Mann des Planeten Platz einräumt, um für die verfassungsfeindliche faschistische AfD zu werben.
Ein 400 bis 500 Milliarden schwerer Mann, der vom Chef der einst liberalen Ex-Regierungspartei FDP ohne jede Scham umworben wird.
[….] Wer wissen will, wie viel Macht Elon Musk auch in Deutschland hat, der kann das an diesem Wochenende beobachten. Vorgezogenes Fazit: Viel. In der aktuellen Ausgabe der Welt am Sonntag steht auf der Meinungsseite ein Gastbeitrag von Elon Musk. Eine starke Meinung zu Deutschland hat der Superunternehmer. Er schreibt, Deutschland taumle „am Rande des wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenbruchs“. Und wiederholt dann ausführlich, was er am 20. Dezember mit einem Satz auf seinem Kurznachrichtendienst X proklamiert hatte: „Nur die AfD kann Deutschland retten.“ Er attestiert der Partei politischen Realismus, eine vernünftige Energie- und Wirtschaftspolitik, den Willen zur Innovation, die Zukunftstauglichkeit, vor allem aber bestreitet er, dass die AfD eine rechtsradikale Partei sei. […]
Zu Trumps erster Amtszeit gab es schon gehässige Kommentare und Memes – wer sich wundere, wie der Faschismus 1933 gewinnen konnte, könne das nun in Echtzeit in den USA miterleben.
2024 kippt nun auch Deutschlands selbst zunehmend in den braunen Abgrund.
[….] Der Tech-Milliardär, Polit-Hau-Drauf und Trump-Buddy Elon Musk sorgt nun auch für einen Eklat in der deutschen Medienlandschaft. Eva Marie Kogel, Chefin der Meinungsredaktion der Zeitung Welt, hat ihren Job hingeschmissen, nachdem das Blatt einen Text von Musk in der Sonntagsausgabe veröffentlicht hat. [….]
Musks offensive Wahlwerbung für die AfD hatte laut dem Branchenportal medieninsider schon Tage vor der Veröffentlichung zu heftigen Debatten in der Redaktion geführt. Am Samstag verkündete Eva Marie Kogel, Meinungschefin der Welt: „Ich habe immer gerne das Meinungsressort von WELT und WAMS geleitet. Heute ist in der Welt am Sonntag ein Text von Elon Musk erschienen. Ich habe gestern nach Andruck meine Kündigung eingereicht“. Ihr Post erschien wohlgemerkt per Tweet bei X (vormals Twitter), dem Kurznachrichtendienst des Tech-Milliardärs. [….]
Die auf X vorherrschende rechte Bubble kriegt sich jedoch gar nicht mehr ein. Annabel Schunke, einst selbst Welt-Kolumnistin, ereiferte sich: „Die Welt sollt solchen Journalistendarstellern, die ein Problem mit der Meinungsfreiheit hätten, keine Träne nachweinen.“ Kogel solle doch „bei der TAZ anheuern“. [….]
Und Julian Reichelt, Ex-Chef der Bild und heutige Leiter des extrem rechten Mediums Nius, twitterte: „Wenn man als Leiterin Meinung kündigt, weil man andere Meinungen nicht aushält, war man für den Job eher ungeeignet“. [….]
Und was sagt Ulf Poschardt, bis Jahresende noch Chefredakteur der Welt und danach Herausgeber einer neuen Springer-„Premium“-Marke? Er ergötzt sich auf Twitter wie gewohnt in Sottisen, die vieles offen lassen: „Der größte Witz der Gegenwart: dass die Opportunisten im Rebellengewand durchs Leben laufen“. Wenig später legt er nach und repostet einen Tweet zum Musk-Text. […..]
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