Montag, 18. Juli 2016

Türkeiprobleme



Das Internet ist schon toll.

Da leider die deutschen TV-Sender bei der Berichterstattung zum Türkei-Putschversuch geschlafen haben, wurde man wenigstens laufend mit widersprüchlichen Meldungen und Verschwörungstheorien aller Art versorgt.
Das passiert, wenn die professionellen „Gatekeeper“ nicht arbeiten.

Warum schaffen es deutsche Nachrichtensender eigentlich nicht, nah am Geschehen zu sein? N-tv war von ein bis sechs Uhr morgens nicht einmal nachrichtlich, geschweige denn live drauf, erst ab sechs Uhr wieder. Und da hat n-tv es geschafft, ein Interview dreimal zu wiederholen in anderthalb Stunden.
[….] N24 und n-tv haben ihre Entscheidungen während des Putschversuchs in der Türkei mittlerweile gegenüber dwdl.de erklärt. N-tv hatte die Live-Berichterstattung gegen eins beendet, N24 erst um 1 Uhr 30 eine Sondersendung gezeigt. Gerade in der Nacht, wo es weniger Zuschauer gibt, habe man gründlicher abwägen und die Mannschaft für die Live-Berichterstattung am nächsten Morgen schonen wollen, so etwa N24-Sendersprecherin Kristina Faßler.

Wohin sich die Türkei entwickelt, kann man ahnen. Man kann auch klar sagen, wer vom Putsch nach dem Putsch profitiert.
Man kann aber sicher nach derzeitigem Informationsstand nicht sagen, wer wirklich die Fäden gezogen hat oder ob es überhaupt ein Mastermind gab.
Es ist auch möglich, daß eine Menge Stümperei zusammenkam und Recep Tayyip Erdoğan, 62, einfach die Gunst der Stunde nutzt, um sich noch viel mehr Macht zu sichern.

Wenn ich schon spekuliere, so tue ich das lieber bezüglich der Auswirkungen auf die deutsche Politik.

Da bilden sich für meine verehrte Bundeskanzlerin nun noch mehr Probleme.
Der ganze Türkei-Flüchtlingsdeal hängt an der Person Erdoğan und ist nur dann möglich, wenn man die Türkei als rechtsstaatliche Demokratie ansieht, die folgerichtig auch ein sicherer Herkunftsstaat im deutschen juristischen Sinne ist.
Gleich zu Anfang, als man noch dachte, der „Putsch“ könnte gelingen, twitterte Merkels Regierungssprecher, die „demokratische Ordnung“ der Türkei müsse respektiert werden.



Ob so eine „demokratische Ordnung“ 2015, 2016 in der Erdoğan-Türkei überhaupt noch existierte, war schon vor dem Wochenende fraglich.

Nun, da die großen Säuberungen begonnen haben und der Präsident tausende Richter, Staatsanwälte und Journalisten verhaften läßt, kann davon keine Rede mehr sein.

Ein bizarres Dilemma für Frau Merkel, denn ihr Flüchtlingsdeal setzt EU-Aufnahmegespräche voraus, die nun in erster Linie ausgerechnet ihre Parteifreunde torpedieren.
Aber wie will man der Türkei entgegenkommen, wenn die Regierung selbst nach Todesstrafe verlangt, sich damit in eine Reihe mit zweifelhaften Regimen wie Iran, Saudi Arabien, der USA und China stellt?
Regimegegner hinrichten und dann offene Türen der EU erwarten?

Das harte Durchgreifen der türkischen Regierung nach dem Putschversuch beeinträchtigt nach Einschätzung von Europapolitikern der Union die EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land. Sollte Präsident Recep Tayyip Erdogan die Situation ausnutzen, "um weitere Verfassungsrechte einzuschränken, dann werden die Beitrittsverhandlungen schwierig bis unmöglich", sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok (CDU), dem "Handelsblatt".
Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), forderte die türkische Regierung auf, die demokratischen Prinzipien einzuhalten. Unrecht dürfe nicht mit Unrecht bekämpft werden, sagte er der Zeitung. "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein undemokratischer Staat Mitglied der EU wird."
CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer forderte, nun die Beitrittsverhandlungen ernsthaft zu überdenken. "Wer es spätestens bis jetzt nicht gemerkt hat: Die EU-Türkei-Politik muss vollständig auf den Prüfstand." [….]

Ich bin sehr ungern auf einer Linie mit Scheuer und habe viele Jahre ausdrücklich für einen EU-Beitritt der Türkei geworben.
Aber spätestens seit 2016 mutiert der Präsident zu sehr zum Extremisten, um das noch möglich zu machen.

[….] Unglaublich leicht kommen diese zwei Wörter den Leuten auf der Straße über die Lippen: Idam istiyorum! Es ist wie ein Chor, der für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan singt. Er wird immer lauter, immer wütender. Idam istiyorum! Idam istiyorum! Ein Mann ruft: "Ich wünsche es mir von ganzem Herzen." Erdoğan steht mittendrin. Idam istiyorum heißt: "Ich will die Todesstrafe." Auch für Erdoğan ist die Todesstrafe offenbar eine Herzensangelegenheit. Er sagt, sein Herz sage "Ja" zur Todesstrafe. Aber wenn es nicht möglich sei, sie wieder einzuführen, dann wolle er zumindest eine "erschwerte lebenslange Haft" für diejenigen, die das Land am Wochenende ins Unglück gestürzt haben.
[….]  Die Ereignisse, die Diskussionen dieser Tage haben die Türkei in die Vergangenheit katapultiert. Militärputsch, Todesstrafe - das waren die Achtzigerjahre. Damals hatte Putsch-General Kenan Evren die Macht im Land übernommen und in den folgenden Jahren etwa 50 Menschen exekutieren lassen. Wer mag, kann in der Geschichte noch viel weiter zurückgehen, da wird es noch düsterer. Bis 1965 wurden in Istanbul auf dem weltberühmten Sultanahmet-Platz Verbrecher vor den Augen der Öffentlichkeit hingerichtet. [….] Die Regierung hat am Montag ihre "Säuberungsaktionen" fortgesetzt, die Gefängnisse füllen sich mit Menschen, die als Gegner gelten. [….] Die Jagd auf mutmaßliche Verräter ist im vollen Gange. 30 Gouverneure wurden von ihren Ämtern entbunden, etwa 8000 Polizisten vom Dienst suspendiert. Nach den Worten Yıldırıms wurden bis Montagmittag 7543 Personen inhaftiert, darunter 6038 Soldaten. Der Staat zeigt keine Gnade. Nicht jetzt. [….]

Nach der Brexiteer-induzierten EU-Krise ist es unmöglich noch mehr von unseren „Werten“ aufzugeben, um Ankara entgegen zu kommen.

Frau Merkels Türkei-Deal, um die verzweifelten Menschen aus Syrien außerhalb der Sichtweite ihrer deutschen Wähler zu bringen, war ohnehin amoralisch und inhuman.
Nun ist er auch unpraktikabel geworden.
Der Pakt gehört beerdigt. Europa sollte damit rechnen, daß Erdoğan wie angedroht aus Rache seine Grenzen öffnet und zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge nach Nordwesten spazieren lässt.
Betrachten wir es als Chance der Welt europäische Werte zu demonstrieren.
500 Millionen Europäer können zwei weitere Million Menschen gut verkraften.

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