Freitag, 26. Dezember 2025

Völlig irrsinnige Zahlen.

Als Schöffe beschäftige ich mich vor Gericht immer auch mit dem persönlichen Hintergrund und der Sozialprognose des Angeklagten. Es ist oft erschreckend einleuchtend, weswegen jemand kriminell wurde. Das hängt nicht von Ethnie oder Religion ab, sondern von Bildung und Papas Portemonnaie.

Aus guten Gründen darf ich nichts über meine Fälle sprechen.

Aber ohne Namen und konkrete Daten zu nennen, kann ich doch Folgendes aus meinem letzten Prozess erzählen:

Es ging um zwei Taten, die sich 2018 und 2019 ereigneten. Es wurde ein Fahrrad geraubt. Alle Beteiligten waren „intoxicated“; für das Strafmaß spielte es eine große Rolle, ob es dabei nur zu Handgreiflichkeiten kam (Raub), oder ob dabei auch ein Knüppel geschwungen wurde (schwerer Raub). Wir befragten fünf Polizisten, die alle mit dem Einsatz zu tun hatten, sich aber allesamt nicht Einzelheiten erinnerten und sich mühsam entlang des Polizeiberichtes hangelten. Wenig überraschend, denn die meisten der „Streifenpolizisten“ trennen täglich mehrere solcher Rangeleien,

mit sich heftig gegenseitig bepöbelnden und beschuldigende Parteien. Wie soll man da nach sieben Jahren noch genau wissen, wer bei einer Klopperei zuerst zu einer Waffe griff?

Außerdem vermuteten wir mehrere Urkundenfälschungen des Fahrradräubers. Die Staatsanwaltschaft hatte sein Girokonto überprüft, auf dem kein Überweisung mit dem Betreff „Honorar für die Urkundenfälschung in meinem Auftrag“ zu finden war.  

Wie überraschend. Die Staatsanwaltschaft könnte seine Wohnung durchsuchen lassen, womöglich fände sich dort Bargeld, welches auf eine Entlohnung schließen ließe. Aber wie wahrscheinlich ist das nach sieben Jahren?

Das ist nur der alltägliche Wahnsinn an einem kleinen Amtsgericht, an dem wir uns mit den kleinen Fischen beschäftigen. Ich sitze dabei noch an einem vergleichsweise gut ausgestatteten Gericht; wir arbeiten tatsächlich alte Fälle auf, bevor sie verjähren.

An den anderen Gerichten der Stadt sieht es übler aus.

[…] In Hamburg wachsen die Aktenberge bei Polizei und Justiz weiter an. Die Zahl der offenen Ermittlungsverfahren stieg innerhalb eines Jahres um fast 70 Prozent. […] Zum Stichtag 1. Dezember waren knapp 77.000 Ermittlungsverfahren bei der Hamburger Staatsanwaltschaft anhängig. Das sind rund 31.000 mehr als noch ein Jahr zuvor.

Die Dauer der Verfahren sind demnach lang: Am Stichtag dauerten rund 1.700 Verfahren mehr als sechs Monate. Knapp 700 lagen bei 12 Monaten und 228 Verfahren dauerten länger als zwei Jahre. [….]

(NDR, 16.12.2025)

Strafen sollen nicht nur für Gerechtigkeit sorgen, sondern auch einen abschreckenden und pädagogischen Effekt haben. Davon bleibt aber kaum etwas übrig, wenn Delinquenten vor allem die Erfahrung machen, daß nach einer Verhaftung Jahrelang erst mal gar nichts passiert.
Ich habe schon Fälle verhandelt, in denen der Angeklagte seit der Anklage noch fünf Mal verhaftet und fünf Mal frei gelassen wurde und selbst den Überblick darüber verloren hatte, worum es in dem gegenwärtigen Verfahren geht.

Aber, das sei noch einmal betont, sind die kleinen Fische.

Das Drama der deutschen Justiz und ihrer völlig aberwitzigen Unterfinanzierung, die in allen Bundesländern virulent ist, bezieht sich bedauerlicherweise auch auf die wirklich bösen Buben.

[…] Berlin. Berlin. Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg – landauf, landab erreicht die Zahl der offenen Ermittlungsverfahren bei den Staatsanwaltschaften neue Rekorde. Die personellen Engpässe in der Justiz spitzen sich zu.

So schieben die Ermittlungsbehörden bundesweit fast eine Million offene Fälle vor sich her, wie eine neue Umfrage der Deutschen Richterzeitung in den Ländern ergeben hat (Js-Verfahren, Stand 30.06.2025). Das sind fast 250.000 unerledigte Akten mehr als noch Ende 2021. Nie war der Stau offener Fälle länger als heute. Entspannung ist nicht in Sicht, denn auch die Neueingänge bei den Strafverfolgern bleiben auf Rekordniveau. Sie haben 2024 abermals die Marke von 5,5 Millionen erreicht. Für die ersten sechs Monate dieses Jahres geben die Strafverfolgungsbehörden bereits mehr als 2,7 Millionen neue Verfahren an.

Besonders dramatisch ist die Entwicklung in Hamburg, wo sich die Zahl der offenen Verfahren seit 2021 fast verdreifacht hat. Die dortigen Ermittler müssen einen Anstieg um 181 Prozent von 22.900 Fällen zum Jahresende 2021 auf 64.404 zur Jahresmitte 2025 bewältigen. „Die Kolleginnen und Kollegen bei der Staatsanwaltschaft Hamburg arbeiten am Rande der Belastungsgrenze und oft genug auch darüber hinaus, weil es nicht genug qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber für alle offenen Stellen gibt und immer wieder Kolleginnen und Kollegen wegen der Arbeitsbedingungen vorzeitig die Staatsanwaltschaft verlassen“, so der Hamburgische Richterverein. An der Grenze des Leistbaren arbeiten auch die Staatsanwälte in Schleswig-Holstein. Verzeichneten die Ermittler dort zum Jahresende 2021 noch 28.089 unerledigte Fälle, melden sie zum Halbjahr 2025 33.307.

Die bundesweit höchste Zahl offener Verfahren zum Stichtag 30. Juni 2025 gibt Nordrhein-Westfalen mit knapp 267.000 Fällen an, ein Zuwachs von rund 40 Prozent im Vergleich zum Jahresende 2021. Der DRB-Landesverband spricht von 460 fehlenden Staatsanwälten. Diese Lücke würde sich massiv auswirken, sagte der Landesvorsitzende Gerd Hamme in den Medien und bezifferte die Überlastungsquote der Staatsanwälte in seinem Bundesland auf 141 Prozent.  […]

(Deutscher Richterbund, 12.09.2025)

In Hamburg wird aktiv mit Recruitern und attraktiven Bedingungen nach Mitarbeitern bei der Justiz gesucht. Die Lage ist in diesem reichen Bundesland deswegen so schlimm, weil Hamburg im Gegensatz zu anderen Bundesländern, tatsächlich in der Justiz digitalisiert und bei der Umstellung viel Zeit der Mitarbeiter aufgewendet wird.

Der eigentliche Wahnsinn ist ein Politischer: Bundesländer sparen bei Steuerfahndern und Staatsanwälten, obwohl sie durch Mehrausgaben bei den Personalkosten, ein Vielfaches einnehmen könnten.

[…] Zu wenig Staatsanwälte, zu viele offene Verfahren: Der Deutsche Richterbund beklagt den mangelnden Einsatz der Bundesländer gegen Geldwäsche. Jährlich werde in Deutschland die Herkunft von rund 100 Milliarden Euro verschleiert.

Der Deutsche Richterbund wirft den Bundesländern vor, der organisierten Kriminalität das Geschäft zu erleichtern. "Die Landesregierungen lassen viele Milliarden Euro für den Staat liegen, weil sie zu einseitig auf die Personalkosten der Strafverfolgung fixiert sind", sagte Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

"Dabei würde jeder zusätzliche Euro, der in mehr Ermittler zur besseren Bekämpfung von Finanz- und Wirtschaftskriminalität fließt, am Ende mehrfach in die Staatskasse zurückfließen." Rebehn bezifferte das Volumen der Geldwäsche in Deutschland auf rund 100 Milliarden Euro pro Jahr.

"Es spielt der organisierten Kriminalität in die Hände, dass bundesweit inzwischen 2.000 Staatsanwälte fehlen, sich eine Million offene Verfahren bei den Ermittlern stapeln und gerade komplexe Fälle wegen fehlender Ressourcen häufig nicht ausermittelt werden können", so Rebehn.

Drogenbanden, Menschenhändler, Wirtschafts- und Finanzkriminelle hätten es in Deutschland zu leicht, weil sie es vielfach auch mit technisch schlecht ausgestatteten Strafverfolgungsbehörden zu tun hätten.

Der Bund hatte im Sommer zugesagt, den Ländern rund eine halbe Milliarde Euro in den nächsten vier Jahren für die Schaffung zusätzlicher Stellen in der Justiz bereitzustellen. Weil es aber noch Unstimmigkeiten bei der Finanzierung gibt, wurde das Thema bei der Ministerpräsidentenkonferenz unlängst von der Tagesordnung genommen.  [….]

(Tagesschau, 26.12.2025)

All das ist natürlich lange bekannt, wird aber nicht besser, sondern immer schlimmer, weil wir ein Land der Idioten sind.

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