Ganz knapp bin ich keiner der verhassten Boomer mehr, da ich nach 1965 geboren wurde. Aber meine Schulfreunde haben schon Enkel; also bin ich alt genug, um meine Jugend zu verklären. Früher war alles besser. Dieses Gefühl kann mit den zunehmenden Sorgen, mit dem daraus resultierenden Pessimismus, überwältigend werden. Ich kann den Impuls, aus Frustration über aktuelle Entwicklungen, anfällig für populistische politische Versprechen zu werden, durchaus verstehen. MAGA und AfD fußen auf Hass und Rassismus, den ich selbstverständlich verurteile und verachte. Aber das sentimentale Sehnsucht-nach-dem-Früher-Gefühl verstehe ich.
Ein Gefühl, das die gesamte Agenda des Fritzekanzlers bestimmt: Atomkraftwerke, tolle röhrende Benziner ohne die Miesmacher-Grünen und nervenden Emanzen.
Unglücklicherweise entspricht dieses „goldene Früher“ nicht der Realität, sondern ist ein Produkt aus Selbstverklärung und beschränkter Information.
Das liegt insbesondere daran, in diesem „goldenen Früher“ nicht Derjenige von heute gewesen zu sein.
Viele physische Beschwernisse existierten nicht. Peters Ustinov sagte so treffend „Die Jugend ist eine wunderbare Sache, nur schade, dass sie an Kinder verschwendet wird.“ Natürlich ist es toll, keine Brille zu brauchen, keine knackenden Gelenke zu spüren, nichts über problematische Blutwerte zu wissen, Energie zu haben, Treppen problemlos hinaufsprinten zu können, im Yogasitz zu hocken. Aber wir haben es damals nicht genossen, weil wir nicht ahnten, nicht wußten, daß so etwas einen selbst treffen könnte.
Auf der geistigen Ebene war das mangelnde Problembewußtsein noch eklatanter. Zwar war ich ein engagierter politischer Jugendlicher, der ganz vorn gegen Nachrüstung, Robbentötungen oder Volkszählung 1987 kämpfte, aber die alltäglichen Lästigkeiten ahnte ich nicht: Steuererklärung machen, sich um todkranke, sterbende Eltern/Verwandte sorgen, Miete zahlen, einkaufen, aufräumen, Auto durch den TÜV bringen, sich den Kopf zerbrechen, wie man als Pflegefall versorgt wird.
Die Probleme existierten selbstverständlich alle schon in den von mir verklärten 1980ern, aber ich war noch zu unterentwickelt, um sie zu kennen.
Die großen Menschheitssorgen kamen ohnehin verspätet und textlich aufbereitet, per Zeitung oder 20Uhr-Tagesschau zu uns. Kriege, Naturkatastrophen, Seuchen, Chemieunfälle existierten natürlich schon genauso, aber sie waren nicht simultan auf jedem Mobiltelefon sichtbar.
Insbesondere gab es massenhaftes individuelles Leiden, das uns 80er-Jahre Jugendliche aber kein bißchen beschwerte, weil wir nichts davon wußten, gar nicht davon wissen konnten, weil es medial verschwiegen wurde:
Massenhaft durch Geistliche gequälte und vergewaltigte Kinder. Trans-Menschen, die in den Selbstmord getrieben wurden, weil sie gegen ihre Natur leben mussten. Unterdrückte und diskriminierte Schwule und Lesben. Geschlagene Kinder. Ihren Männern untergeordnete Frauen. People Of Color, die von vielen Berufszweigen ausgeschlossen waren. Männer, die in Kriegen und Gefangenschaft schwerste psychische Schäden erlitten hatten und nie therapeutisch behandelt wurden. Genitalverstümmelte Jungs und Mädchen überall auf der Welt. Buchstäblich versklavte Menschen. Osteuropäer ohne Freiheit.
Wenn man das alles nicht weiß und am besten selbst ein weißer heterosexueller, wohlhabender christlicher Mann ist, waren die 1950er, 1960er, 1970er schon toll.
Es gab in meinem „goldenen Früher“ ein Vielfaches der Verkehrstoten, der Sexualmorde an Kinder, ja der Kriminalität insgesamt.
Aber die allermeisten Fälle wurden verschämt verschwiegen, brachten es nie in die Medienaufmerksamkeit. In der heilen Welt von damals vergewaltigten und verprügelten Pfarrer viel mehr kleine Jungs als heute, aber ohne unser Wissen, unser Bewußtsein. Herrlich.
Heute gibt es – ZUM GLÜCK – eine viel höhere Bereitschaft solche Fälle anzuzeigen, sich zu wehren. Sie werden sofort publik, wir hören dauernd davon und kommen zu dem Fehlschluss, „es gibt immer mehr Kinderschänder“!
Es gibt immer mehr Kriminalität! Immer mehr überfahrene Kinder im Straßenverkehr!
Das wird von interessierter Seite gern aufgeblasen und führt zu einem allgemeinen Bedrohungsgefühl, auf das wir mit Abschottungsphantasien, Forderungen nach härteren Strafen und der Wahl rechter Parteien reagieren.
Aber all das beruht auch falscher Wahrnehmung.
Im „goldenen Früher“ mussten wir uns nicht anschnallen und keine albernen Fahrradhelme tragen. Aber damals gab es auch zehnmal so viele Verkehrstote wie heute! Über 20.000 Menschen verunglückten in meiner Jugend jedes Jahr tödlich im Verkehr, heute sind wie bei rund 2.500 im Jahr.
Ganz im Gegensatz zum gefühlten tödlichen Verkehrswahnsinn von heute, leben wir sicherer, denn je.
Jeder grantige Rentner in Hamburg wird einem erzählen, wie sehr ihn die zunehmende Kriminalität beunruhigt. Dabei sinkt sie Kriminalitätsrate seit 45 Jahren kontinuierlich. Wir haben seit meiner Jugend 500.000 Einwohner dazu bekommen und die wenigstens Straftaten seit 1990, aber BILD und Social Media vermitteln den diametrale gegenteiligen Eindruck.
In den 1990ern gab es rund 1.500 Mordopfer jedes Jahr, heute nur noch ein Drittel.
Nicht nur unsere rückblickend idealisierte Fehlwahrnehmung trübt das Bild.
Vieles war wissenschaftlich und technisch noch nicht erkannt, oder aus der wissenschaftlichen Sphäre noch nicht ins Allgemeinwissen diffundiert.
Natürlich wirkte Coca Cola mit Kokain herrlich erfrischend.
Natürlich war der Heroin-Hustensaft für Kinder effektiv.
Natürlich schätzen Migränepatienten ihren Laudanum/Opium-Saft.
Natürlich war es unheimlich praktisch, bei Läuseplagen den Kindern radioaktives Uranerz auf dem Kopf zu legen, so daß alle Haare ausfielen.
Natürlich ist DDT ein wirksamer Unkrautvernichter.
Natürlich sind Barbiturate, Polamidon und Contergan zuverlässige Schlafmittel.
Natürlich ist Asbest ein idealer Baustoff gegen Brandgefahr.
Natürlich erhöhen Bleizusätze die Klopffähigkeit von Benzin.
Natürlich sind FCKWs wegen ihrer Reaktionsträgheit gute Haarspraytreibgase.
Natürlich ist weniger umständlich, in der Schwangerschaft einfach weiter zu rauchen und zu trinken.
Natürlich ist es billiger, seine Blagen ohne Kindersitze im Auto fahren zu lassen.
Das war schon toll, als man all das lästige Wissen noch nicht hatte, welches einem solche technischen Fortschritte vermieste.
Aber wir lernen nun einmal dazu und begreifen in der Regel irgendwann unsere Irrwege.
Außer man heißt Friedrich Merz. Der Mann ist auch erschreckende Weise erkenntnisresistent.
Er will in Atomkraft und Verbrennertechnik einsteigen.
[…] Aber rettet die Rückkehr zum Verbrenner wirklich deutsche Industriejobs? Vier namhafte Ökonomen aus verschiedenen Lagern, von arbeitgeber- bis gewerkschaftsnah, hat die SZ zu genau dieser Frage um Antwort gebeten. Ihre Einschätzungen im Protokoll:
Monika Schnitzer, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
„Die Abkehr vom Verbrenner wird Industriearbeitsplätze kosten, das war immer klar. Einfach weil man für die Produktion eines Verbrenners nicht so viele Leute braucht, das ist ein viel einfacherer Prozess. Aber würde man diese Arbeitsplätze retten, wenn man das Verbrenner-Aus jetzt verschiebt? Ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. […] Meine Sorge ist, dass manche Autohersteller das gleiche Schicksal erleiden könnten wie Nokia oder Kodak. Die waren auch mal extrem erfolgreich mit ihren Tastenhandys und Fotofilmen. Aber heute spielen sie keine Rolle mehr. Wenn es jetzt also heißt, die Deutschen hätten bei den Verbrennern einen großen Vorteil gegenüber der Konkurrenz, kann ich nur sagen: kurzfristig vielleicht. Aber heute nutzt auch niemand mehr ein Tastenhandy.“
Thomas Puls, Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
„Ich halte das alles vor allem für eine Symboldebatte: E-Autos und Plug-in-Hybride werden bis 2035 für die allermeisten Anwendungen sowieso das bessere Produkt sein. Und das Problem der Autoindustrie liegt auch nicht im Angebot. 40 Prozent aller in Deutschland produzierten Autos sind schon E-Fahrzeuge und Plug-ins, Tendenz steigend. […]
Sebastian Dullien, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)
„Das Problem der deutschen Autoindustrie ist weniger das Verbrenner-Aus, sondern vor allem der technische Rückstand, zum Beispiel bei den Batteriezellen. Auf der Lernkurve für E-Autos sind die Hersteller im Vergleich zu China nicht schnell genug und nicht weit genug. Je weiter man da kommt, desto besser und günstiger wird man. Aber das funktioniert nur, wenn man mehr E-Autos baut. Wenn man stattdessen mehr Verbrenner baut, hilft das nicht. […]
Anita Wölfl, Ifo-Institut
„Die CO₂-Emissionsgrenzen jetzt aufzuweichen, indem man das Verbrenner-Aus zurücknimmt oder verschiebt, würde die Situation der deutschen Autohersteller nicht verbessern. Ganz im Gegenteil: Es führt zu einem Glaubwürdigkeitsverlust und zu Unsicherheit bei den Käufern. So hat die Flaute im Geschäft von neuen Elektrofahrzeugen im letzten Jahr nicht nur an der wirtschaftlichen Unsicherheit gelegen, sondern auch viel mit Unsicherheit bei den Käufern über die Entwicklung der E-Mobilität zu tun. […]
[….] Friedrich Merz steht auf einem CSU Parteitag und verkündet mit dem Pathos eines Mannes, der gerade den Schlüssel zu einer Zeitmaschine gefunden zu haben glaubt, Deutschland steige nun endlich wieder ein. Einsteigen, das heißt bei ihm, den Rückwärtsgang mit Entschlossenheit einzulegen und dabei so zu tun, als sei Stillstand ein Startschuss. Atomausstieg, Verbrenner Aus, Verteufelung der Biotechnologie, ruft er, als habe eine finstere Sekte das Land von seinen heiligen Maschinen entfremdet. Dass ausgerechnet er die Vergangenheit zur Zukunft erklärt, ist keine Ironie mehr, sondern ein intellektueller Offenbarungseid.
Denn was meint Merz mit Einsteigen. Er meint Kohlenstoff, Uran und Kolben. Er meint Technologien, die schon im Museum standen, als man noch mit Faxgeräten die Moderne herbeisehnte. Fossile Energien, die uns seit Jahrzehnten in geopolitische Abhängigkeiten treiben. Atomkraft, die nur dann billig ist, wenn man Endlager, Rückbau und Zeit aus der Rechnung streicht. Der Verbrennungsmotor, diese mechanische Kerze, die Energie in Hitze verwandelt und Hitze in Abgase und Abgase in Ausreden. Das alles verkauft Merz als Aufbruch, während er gleichzeitig dort aussteigen will, wo tatsächlich gefahren wird.
Denn die vermeintlichen Aussteiger, die Grünen, haben nicht den Motor abgestellt, sondern neue gebaut. Wärmepumpen, Speicher, Solarzellen, Windräder, Elektromobilität, geteilte Fahrzeuge, vernetzte Netze, all das sind keine ideologischen Fantasien, sondern funktionierende Industrien, globale Wachstumsmärkte und reale Maschinen. Merz nennt sie Ausstieg, weil sie nicht nach Öl riechen und keinen nostalgischen Sound haben. Er nennt sie Ideologie, weil sie der Physik gehorchen und nicht den Stammtischen. [….]
(Wemeze, 14.12.2025)










Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Feedback an Tammox