Mittwoch, 31. Mai 2023

Danke Bremen

Das Drama der Berliner Landes-Groko ist vielschichtig.

Zunächst einmal, gäbe es sie gar nicht und die alte RGR-Koalition würde weiter regieren, wenn die wie immer hoffnungslos debakulierende Berliner Verwaltung, es geschafft hätte, am 26.09.2021 ordnungsgemäße Wahlen durchzuführen, die nicht wegen offenkundiger allgemeiner Doofheit am 12.02.2023 hätten wiederholt werden müssen.

Ich sage es extrem ungern, aber man kann beim besten Willen nicht behaupten, die regierende Berliner Landes-SPD; meistens in einem Boot mit den Grünen; wären in den letzten gut 20 Jahren fähig gewesen, die ganz normalen Verwaltungsaufgaben zu bewältigen. Eigentlich gehören solche Roten und Grünen abgewählt. Das war aber nicht möglich, da Landes-CDU und Landes-FDP noch deutlich schlimmer sind und sich die Stadt immer noch nicht von dem Multimilliardendesaster erholt hat, welches die Diepgen/Lewandowsky-Regierung (Stichwort Berliner Banken-Katastrophe) zuvor anrichtete.

Die Berliner Wähler hätten theoretisch eine/n Grüne/n auf den Chefsessel platzieren können, aber leider gaben der Hauptstadtgrünen rund um die extrem unbeliebte geborene Bayerin Bettina Jarasch als Umwelt- und Mobilitäts-Senatorin, ein zu jämmerliches Bild ab.

Die besten Senatoren der Stadt – Lederer und Kipping – waren kurioserweise beide Linke, aber die auf Platz 1 zu setzen, verhinderte die Anti-Linkenkampagne der Aluhut-Schwurblerin und Putinistin Sahra Sarrazin in einer konzertierten Aktion mit der Linken-Bundespartei.

Der Wählerwille des Urnenpöbels war eindeutig. Mit zehn Prozentpunkten Abstand wurde die CDU stärkste Partei und so regiert nun, mit dem provinziellen und xenophoben Auto-Narren Kai Wegner ein Mann zum Mitschämen die geschundene Millionenstadt an der Spree.

Glücklicherweise kann man die ebenfalls bisher schon RGR-regierte Hansestadt Bremen nicht mit Berlin vergleichen.

Ja, es war kurios, auch an der Weser gibt es gegen den Bundestrend zwei besonders gute Linke Senatoren und zwei katastrophal unbeliebte Grüne Regierungsmitglieder.

Dafür wurden die Grünen zu Recht abgestraft und schickten ihre Senatoren Maike Schaefer und Anja Stahmann in Rente.

Aber der beliebte Bürgermeister Bovenschulte konnte, anders als Giffey, die Verluste kompensieren.

In Bremen funktionierte die Verwaltung, de Wahl wurde korrekt abgehalten, der SPD-Amtsinhaber ist populär, seine Partei legte zu, wurde stärkste Partei. Die Wähler machten eben nicht eine bisherige Oppositionspartei zur stärksten Kraft, drückten nicht ihren Willen nach einem Wechsel aus.

Glückliche Bremer. Sie müssen also nicht zukünftig, wie die Berliner, auf ihre besten Senatoren verzichten und von CDUlern im Senat blamiert werden. Bovenschulte hat entschieden, wie es weitergeht.

[….] Wer klug ist, nicht nur in der Politik, greift Bedenken auf, bevor sie jemand gegen einen wendet. Und genau das tat Bremens alter und sehr wahrscheinlich neuer Bürgermeister Andreas Bovenschulte, als er seiner Ankündigung, die Koalition mit Grünen und Linken in der Hansestadt fortsetzen zu wollen, den Satz beistellte: "Ein einfaches Weiter-so" könne es nicht geben.

Dass die Sozialdemokraten die Wahl im Zweistädtestaat so deutlich gewonnen haben, liegt zuallererst an ihm: Der Sänger, Gitarrist und Jurist (mit steigendem Professionalisierungsgrad) hat ein Talent, das gar nicht mal so häufig ist unter Berufspolitikern: Er kann Menschen unterhalten und Zuversicht verbreiten. [….] Vor allem die grüne Umweltsenatorin und Spitzenkandidatin Maike Schaefer zog Unmut auf sich, und sei es nur durch so etwas Banales wie die Abschaffung einer Kurzparktaste fürs Brötchenholen. Ihr Rücktritt liefert den psychologischen Vorteil, den Bovenschultes "Weiter-so-aber-besser-Koalition" braucht. [….]

(Ulrike Nimz, 25.05.2023)

Dienstag, 30. Mai 2023

Kässi bleibt sich treu

Die Frau kann man sich nicht ausdenken.

Seit Beginn dieses Blogs vor 16 Jahren analysiere ich regelmäßig die frappierende geistig-moralische Unterbelichtung von Deutschlands bekanntester Bischöfin.

Dabei betone ich immer wieder, daß ich selbstverständlich das Recht auf freie Religionsausübung unterstütze. Jeder darf und soll glauben oder nicht glauben, was er will. Natürlich darf sie gern Bischöfin sein.

Allerdings sucht kein deutscher Kirchenvertreter so penetrant die Öffentlichkeit, überflutet den Buchmarkt mit neuen „Werken“, sitzt in Talkshows, gibt ununterbrochen Interviews und schreibt auch noch wöchentlich Kolumnen für Europas größte und auflagenstärkste publizistische Dreckschleuder, wie sie.

Margot Käßmann ist derartig Publicity-süchtig, daß niemand ihr entkommt, auch wenn er noch so ungern über sie spricht.

Man denke nur daran, was sie dem armen Denis Scheck in den letzten Jahrzehnten antat, indem ihre Plattitüdensammlungen in den TopTen landeten und er dadurch gezwungen war, den Unsinn für seine Druckfrisch-Rubrik zu lesen.

Ihre Mitteilungswut konterkariert notwendigerweise ihre geistige Schlichtheit.

 Ihre fortwährend erscheinenden Bücher (80 Stück bisher!) sind derart platt und inhaltsleer, daß professionelle Buchkritiker wie Denis Scheck vor echte Herausforderungen gestellt werden, wenn sie die neuesten Käßmannschen Plattitüden-Ansammlungen beschreiben müssen.

Der arme Denis Scheck, der all die Käßmann-Bücher tatsächlich gelesen hat, findet aber angemessene Worte.


Margot Kässmann "In der Mitte des Lebens"
Changierend zwischen Predigtentwürfen und autobiographischen Notizen, geschrieben in jenem anbiedernden theologischen Kauderwelsch, das zum Niedergang der protestantischen Predigt beigetragen hat, ist dieses in seiner Konzeption nicht nachvollziehbare, in seinen Gedankengängen sprunghafte Büchlein eher eine Art Promigucken als wirklich etwas zum Lesen.


Margot Kässmann: "Sehnsucht nach Leben "
In zwölf besinnungsaufsatzähnlichen Texten denkt die Ex-Vorsitzende der EKD über Leben und Liebe, Kraft, Heimat, Stille und ja, auch über Gott nach. Dabei schreibt sie Sätze wie: "Ein Nein ohne jedes Ja – das wurde auf lila Tüchern beim Kirchentag 1983 in Hannover gegen den Willen von Kirchentagsleitung und Evangelischer Kirche in Deutschland zum Symbol." "Ein Nein ohne jedes Ja", auf diesen wirren Nenner könnte man auch meine Meinung zu diesem Mischmasch von einem Buch bringen.


Margot Kässmann: Mehr als Ja und Amen

Gibt es Jämmerlicheres, als wenn Erwachsene beim Besuch im Kindergarten oder in der Grundschule so tun, als wären sie selbst Kindergartenkinder oder Grundschüler? Dieses literarische Leben auf Kredit, diese geborgte Naivität, dieses Sich-blöd-stellen mit großen Stauneaugen ist der basso continuo von Margot Kässmanns publizistischem Oevre. "Für dieses Buch habe ich über viele Monate Zeitungsauschnitte gesammelt und war am Ende fast erschlagen von der Vielfalt der Probleme, der Stimmen, der Ansätze", schreibt sie. Ein unnötiges Buch, von der Konzeption her Kraut und Rüben, in der Ausführung lieblos hingerotzt, ein Buch, dessen Leser sich wie zu Unrecht ans Kreuz geschlagen fühlen müssen.

(Denis Scheck 06.05.13)

 

Margot Käßmann: "Sehnsucht nach Leben"

Zwölf Aufsätzlein der Ex-EKD-Vorsitzenden zu Themen wie Mut, Trost, Liebe und Geborgenheit versammelt dieses leider illustrierte Büchlein. "Ich denke, jeder Mensch muss für sich selbst herausfinden, wo die eigenen Kraftquellen liegen", schreibt Margot Käßmann darin. Aus dem Mund einer FDP-Vorsitzenden klänge das akzeptabel, für eine protestantische Theologin aber ist das bis zur Selbstaufgabe lasch und opportunistisch: ein Offenbarungseid.

(Denis Scheck 25.09.11)

 

Margot Kässmann: "In der Mitte des Lebens"

Aus groupiehafter Sehnsucht nach der medialen Wiederaufstehung einer wegen Trunkenheit am Steuer zurückgetretenen Landesbischöfin und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland ein grauenhaftes Mischmasch aus Sermon, Erbauungsliteratur und moralisierenden Textautomatenbausteinen über Monate an die Spitze der deutschen Bestsellerlisten zu jubeln – für solch merkwürdige Heiligenverehrung kennt man meines Wissens im Norddeutschen das schöne Wort "katholisch!"

(Denis Scheck, 30.01.11)

(Tammox 29.04.12)

Käßmann missversteht wie viele Aluhüte den Begriff Meinungsfreiheit, als das Recht UNWIDERSPROCHEN ihre Meinung kundzutun.

Selbstverständlich darf sie für die rechtspopulistische Springer-Presse schreiben und im Reichelt/FJWagner-Kosmos ihre schlichten Ansichten verbreiten. Aber mit einem derartig mächtigen Multiplikator sind ihre Texte dann auch wirklich verbreitet und gelangen auch an Menschen, die geistig nicht ganz so schlicht, wie der durchschnittliche BILD-Leser gestrickt sind. Als prominente Figur wird Käßmann von den Agenturen zitiert und dann ist der Schlamassel nicht mehr aufzuhalten. Ihre Thesen sind derartig hanebüchen, daß es schwerfällt, sie zu ignorieren. Zumal Käßmann in all ihrer Doofheit noch nicht mal witzig ist, sondern immer nur ihre besonders schwere Form des Dunning-Kruger-Leidens vorführt.

Und nun das: Sie hört auf als BILD-Kolumnistin für den Trump-Fan Matthias Döpfner zu schreiben.

Gründe, um sofort jede Zusammenarbeit mit dem hepatisgelben Aluhut-Konzern, der toxischen Geißel der deutschen Presse, abzubrechen, gibt es mehr als genug. Niemand schürt so nachhaltig xenophobe Stimmungen und schadet Deutschlands Zukunft so sehr, wie Käßmanns Arbeitgeber. Es ist übrigens ein Job, den die in Buchtantiemen schwimmende Millionärin und B9-Penionärin (gegenwärtig 12.425,82 Euro monatlich) sicherlich nicht finanziell benötigt.

(….) Die Protestanten in Deutschland stehen nach der exzessiv gefeierten Lutherdekade etwas bedröppelt am Rand, während die päpstlichen Kollegen mit immer neuen Kindersexskandalen in allen Ländern der Welt für Schlagzeilen sorgen.

Käßmann ist in Rente, macht sich auf Steuerzahlerkosten ein schönes Leben.

Im Alter von 60 Jahren genießt die Bischöfin ihre B9-Pension, 11.577,13 Euro im Monat, ohne selbst Beiträge gezahlt zu haben. Ihre Zeit als Luther-Botschafterin, 2012-2017 verbrachte sie mit weltweiter Dauerreisetätigkeit, um Propaganda für einen der menschenfeindlichsten Antisemiten der Geschichte zu machen. Sie war entsprechend ihrer rhetorischen und intellektuellen Fähigkeiten effektiv. Während ihrer fünf Jahre als Ober-Lutheranerin verließen mehr als 1,8 Millionen Evangelen die Kirche!

2012 zählte die EKD 23.356.096 Mitglieder; nach fünf Jahren Käßmann waren es 2017 noch 21.536.000!

Da kann man schon mal applaudieren.  (…)

(First World Problems, 13.11.2018)

Und wieso hört sie nun konkret beim Lügenblatt Bild mit dem schönen christlichen Motto bumsen, belügen, wegwerfenauf? Sind ihr nach neun Jahren und 454 BILD-Kolumnen doch noch moralische Skrupel gekommen?

Nein, weit gefehlt.

Die arme Frau beklagt sich darüber, kritisiert worden zu sein!

[….] Die "Bild am Sonntag" habe im vergangenen Jahr eine Reichweite von rund 6,2 Millionen Leserinnen und Lesern pro Ausgabe erzielt, erläuterte die frühere Landesbischöfin von Hannover und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "Es war mir eine Freude, die Kolumne schreiben und Ihnen jede Woche einen Bibelvers mit auf den Weg geben zu dürfen", schreibt die Theologin ihren Leserinnen und Lesern. In ihrer letzten Kolumne am Pfingstsonntag begründete Käßmann ihren Schnitt auch mit der "Dauerkritik", die sie zunehmend belaste. "Wer heute eine Meinung äußert, wird von denen mit einer anderen Meinung sofort an den Pranger gestellt, mit übelsten Beschimpfungen versehen und diffamiert", schreibt sie. "Die Diskussionskultur ist durch die sogenannten sozialen Medien absolut verroht. Da fehlt Menschen jeder Anstand, sie rotzen ohne Anrede ihre Ablehnung persönlich beleidigend in die Tasten." Sie diskutiere gern. "Aber nicht auf diffamierende Weise. Das muss ich mir nicht mehr antun."  [….]

(Katholisch, 28.05.2023)

Waaaaas? Die BILD und ihre Leser sind gar nicht der feinsinnige intellektuelle Zirkel, für den sie ihn immer hielt?

Potzblitz.

Montag, 29. Mai 2023

Türkische Zahlen

Immer wenn außer der Reihe Autokorsi, Feuerwerk und stundenlanges Gehupe hier in der Stadt aufgeführt werden, nehme ich an, Deutschland ist Fußballmeister geworden, oder der HSV hat einen Pokal gewonnen. Was weiß ich schon, wo gerade Gröl-Menschen allerlei Geschlechtes wegen welcher Trophäen über den Platz rasen?

Fußballfans sind nun einmal lärmige Proleten; damit muss man leben, wenn man in der Stadt wohnt.

Da mich Bällchentreten nicht die Bohne interessiert, mache ich in so einem Fall die Fenster zu, drehe die Musik lauter und ignoriere das alberne Theater. So auch gestern Abend. Stunden später stutzte ich, als ich bei einem flüchtigen Blick auf die News feststellte, daß der HSV-Aufstieg offenbar doch nicht der Grund für den Lärm gewesen war, weil die Hamburger, wie jedes Jahr, im letzten Moment verkackt hatten.

Dann schwappten auch schon die Türkophoben Kommentare durch die sozialen Medien.

Es waren offenbar die Microphalli-behafteten Erdoğan-Epigonen, die in ihren Poser-Karren ihre Komplexe kompensieren mussten.

[….] Indirekte Kritik am Wahlverhalten hatte Landwirtschaftsminister Özdemir geäußert. Der Grünen-Politiker schrieb auf Twitter, Erdogans Anhänger feierten hierzulande, ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen. Dies müssten aber viele Menschen in der Türkei durch Armut und Unfreiheit. Die Autokorsos jubelnder Türken hierzulande seien eine Absage an die pluralistische Demokratie.

Gestern Abend waren unter anderem in Berlin, Duisburg und Hamburg hupende und mit Türkei-Fahnen geschmückte Autos durch die Straßen gefahren. In Mannheim kam es laut Polizei zu „Provokationen“ zwischen Teilnehmern eines Autokorsos sowie Passanten, die letztlich „auch in körperlichen Auseinandersetzungen endeten“.

Bei der Stichwahl hatte Erdogan gestern 52 Prozent der Stimmen erhalten, sein Herausforderer Kilicdaroglu kam auf 48 Prozent. […]

(DLF, 29.05.2023)

Demokratie ist schön, weil sie besser als Autokratie ist.

Aber sie funktioniert unglücklicherweise nur mit halbwegs gebildeten und informierten Wählern.

Davon haben wir hier nicht genügend, wie die am Wochenende gemessenen 18 Insa-Prozent für Führer Bernd Höcke beweisen.

Ich verstehe natürlich Cem Özdemirs Frust sehr gut und würde mir auch wünschen, alle in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken, hätten gegen den Präsidenten gestimmt und damit seinen Wahlsieg verhindert.

Gökay Sofuoğlu, der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, hat aber Recht, wenn er den deutschen Minister kritisiert. Regierungen sollten Wahlentscheidungen nicht pauschal in Frage stellen.

Cem Özdemir bedient ein antitürkisches Klischee; in seinem Twitter-Feed toben sich erwartungsgemäß die „dann sollen sie doch zurück in Türkei gehen“-Trolls aus. Der Minister höchstpersönlich, öffnete die Tür für diese Pauschalkritik, weil DIE Türken in Deutschland Erdoğan wählen und anschließend, um den Deutschen den Mittelfinger zu zeigen, hupend unseren schönen ruhigen Pfingstsonntag ruinieren.

Das ist aber falsch, denn wir hören/sehen nur eine laute Minderheit.

Über den Daumen gepeilt, geht die Rechnung so:
50% der türkischstämmigen Menschen in Deutschland haben noch den türkischen Pass und sind wahlberechtigt (etwa 1,5 Millionen Personen).

50% der Wahlberechtigten gehen wählen.

60% der in Deutschland abgegebenen Stimmen, waren für Erdoğan.

60% von 50% von 50% sind 15% der türkischstämmigen Personen.

Fünfzehn Prozent sind aber nicht „die Türken“, sondern 450.000 von rund drei Millionen.

Aber so wie 30% für die AfD in Sachsen oder Thüringen viel zu viel sind, darf man auch sehr deprimiert angesichts von 15% für Erdoğan sein.

Man sollte aber schon mal nachfragen, welches die Gründe für so ein Wahlverhalten sind und nicht pauschal unterstellen, es wären alles Autokratiefreunde. Die Politikwissenschaftlerin Nalan Sipar hilft weiter. Sie hörte sich in Berlin bei jungen Erdoğan-Wählern um und fragte nach ihren Motiven. Im Presseclub am 14.05.2023 berichtete sie von den erhaltenen Antworten.

1.
Gegenreaktion auf das empfundene Erdoğan-Bashing der deutschen Medien.

2.

Sich als  Moslem in Deutschland diskriminiert fühlen, Erdoğan habe den Islam in der Türkei wieder stark gemacht.

3.

Wähle Erdoğan, weil die Eltern ihn auch immer wählen.

4.

Finde Erdoğan cool, weil er als Underdog zur Macht gekommen ist. Damit kann man sich als in Deutschland diskriminierter Mensch identifizieren.

5.

Enorme staatliche Propaganda der türkischen Medien, die rund um die Uhr für Erdoğan trommeln.

6.

Nostalgie-Türken, die nur noch selten zu Besuch in der Türkei sind, dann aber beeindruckt davon sind, wie gut die Infrastruktur unter Erdoğan geworden ist.

7.

Konservative AKP-Anhänger, die unbedingt verhindern wollen, daß Liberale an die Macht kommen.

Das sind keine empirischen Daten, aber sie zeigen, wie heterogen die Gründe der 15% Erdoğan-Wähler in Deutschland sind.

Offenbar gibt es Zusammenhänge mit einer gefühlten Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Eine Diskriminierung, die sehr real ist, wie immer wieder bei Bewerbungen um Jobs und Wohnungen gezeigt wird, wenn man bei wortgleichen Texten deutsche oder türkische Namen einsetzt.

Mit türkischen Namen bekommt man schlechtere Noten in der Schule, spätere Arzttermine oder wird nicht in Diskotheken eingelassen.

Deutschtürken sind in allen gesellschaftlichen Machtpositionen unterrepräsentiert.

Es brauchte 73 Jahre bis mit Cem Özdemir der erste türkischstämmige Bürger Bundesminister wurde.

Nein, ich finde es natürlich übel Erdoğan zu wählen und möchte das nicht rechtfertigen, aber es gibt nachvollziehbare Motive.

Sonntag, 28. Mai 2023

Brücke zu den Faschisten

Vor zwei Jahren, lang ist es her, erschien Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wie der frische Wind. Die Grünen waren in Umfragen stärkste Partei mit rund 28%, Scholz und Laschet wirkten dagegen lahm und langweilig.

Am 26.09.2021 ging bekanntlich die SPD als erste durchs Ziel, aber auch in der Rot-geführten Ampel, sah es zunächst gut aus für die Grünen. 26% ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen noch vor neun Monaten im August 2022 für die Habeck-Partei.

Wie konnte es in diesem Jahr nur so rasant bergab grünen, während die Höcke-Faschisten trotz hanebüchener Obstruktion auf absolute Rekordwerte von 18% klettern?

Sicher, grüne und rote Minister machen auch Fehler. Aber niemand mit einem IQ über Zimmertemperatur, kann das mit dem hochdebilen Schwachsinn vergleichen, den AfD-Hetzer öffentlich von sich geben.

[….] Wer gern mal wieder gefährliche Dummheit, Arroganz, Ignoranz und den #DunningKrugerEffekt in Kombination mit bewusster Falsch-Propaganda und trotziger Realitätsverleugnung bei der Arbeit sehen möchte, dem empfehle ich Steffen Kotré AfD bei Markus Lanz am Donnerstag!

Meinung statt Fakten, persönliche Gefühle statt neutraler Wissenschaft und Frieden für Putin -  selten so schockiert geschämt!

Und selten einen Menschen gesehen, der sich beim Argumentieren derart selbst verbal die Hosen ausgezogen hat!

Wer danach noch wirklich ernsthaft erwägt die #AfD zu wählen, leidet definitiv unter mentalem Kontrollverlust.  [….]

(Oliver Kalkofe, 26.05.2023)

Kalkofe hat Recht, vergisst aber zu erwähnen, wie viele Millionen Deutsche es gibt, die tatsächlich unter mentalem Kontrollverlust leiden. Weite Teile des Urnenpöbels sind grenzdebil und damit hochanfällig für abstruse Hetze und dummdreiste Lügen.

[….] Wer noch einen Beleg braucht, warum man AfD-Politiker nicht in Talkshows einladen sollte, liefert ihn #Lanz gerade: Völlig faktenfreies Schwurbeln des energiepolitischen Sprechers zum Klimawandel. Putinpropaganda inklusive. Dafür gibt‘s dann Applaus aus der rechtsextremen Blase. Verstehe ja den Gedanken, Propaganda „demontieren“ zu wollen. Mag bei Menschen, die die AfD durchschauen, funktionieren. Die AfD und ihre Fans werden den Auftritt trotzdem als Beweis für ihren Opfermythos feiern. So funktioniert die Propaganda von Rechtsextremisten.  [….]

(Georg Restle, 26.05.2023)

Die Voraussetzung, um die AfD auf 18% hochzutreiben, sind durch Mangel-Bildung und Minder-Intellekt des teutonischen Wahlvolkes also gegeben.

Dazu gibt es aber zwei Aktivierungs-Koalitionen, um die potentiell Braunwähl-Bereiten anzuspornen.

1.
Der C-Partei-BILD-Komplex, der massive antigrüne Hetze betreibt, um vom Totalversagen in den 16 CDUCSU-Kanzlerjahren abzulenken.

(….) Welcher Geist bei Reichelt herrscht, zeigte bereits Anja Reschke in diesem Beitrag mustergültig. Reichelts neues rechtes Geflecht versuchte natürlich die Ausstrahlung zu stoppen, aber der NDR schaltete den „Reschke Fernsehen“ Beitrag wieder frei.

Der CDUCSUAfD-Höhenflug und Grüne Niedergang wird befeuert, weil auch jenseits der rechtspopulistischen Medien, CDU und CSU den Fakten völlig entkoppelt, auf die Grünen eindreschen.

[….] Kein Fleisch für Kinder, und Pony reiten dürfen sie auch nicht mehr: CSU-Chef Markus Söder wirft den Grünen permanent vor, das Land mit Verboten überziehen zu wollen. [….] Wieso müssen "irgendwelche verhungerten grünen Funktionäre" entscheiden, was Kinder essen dürfen, fragt sich Söder öffentlich. Dass die Grünen den Verzehr von Fleisch- und Wurstwaren untersagen wollen, ist seit der missglückten Erfindung des "Veggie Day" ein Klassiker unter den Verbotsdebatten. Söder skizziert in diesem Kontext das Horrorszenario von einem Land, in dem die Menschen zum Frühstück Tofu-Weißwürste werden essen müssen, die Kinder ohne "Pausenbrot-Check" gar nicht mehr das Schulgebäude betreten dürfen, und wenn es überhaupt noch irgendwo Fleisch gibt, dann allenfalls Insektenburger.

"Jeder soll essen, was er will", findet Söder. Im Umkehrschluss steckt die Behauptung, dass man das nicht mehr darf. Wobei der CSU-Chef hier gerne und offenbar mutwillig fleischlose Angebote mit Fleischverboten gleichsetzt. [….]

(SZ, 13.05.2023) (….)

(Reichelts und Söders Grünen-Hetze, 15.05.2023)

2.

Der F-Partei-Lindner-Lehfeldt-Rosenfeld-Döpfner-WELT-Komplex.

(…..) Keine Steuern für Superreiche – so lautet das gemeinsame Motto von FDP und Springer. Bundesfinanzminister Lindner und BILD-Chef Döpfner, 2016 bis 2022 Präsident des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), waren sich daher einig, daß Matthias Döpfner keinen Cent Steuern zahlen musste, als er eine Milliarde geschenkt bekam. Steuerzahlen ist nur etwas für Geringverdiener.  Porschefahrer und Rolex-Träger stehen hingegen unter dem besonderen  Schutz der Hepatitigelben.

Sich eine private Lobbytruppe in der Bundesregierung zu halten, zahlt sich für den Springer-Haupteigner Döpfner also vielfach aus. Und so zeigt er sich der destruktiven Liste Lindner gegenüber stets erkenntlich. Beide Lindner-Ehefrauen haben Top-Jobs im Springer-Konzern; BILD und WELT werden dafür exklusiv mit Regierungsinterna versorgt.

Im Gegenzug befiehlt Döpfner seinem Konzern massive FDP-Wahlwerbung, um deren Regierungsposten zu sichern. (….)

(Die unspaßige Spaßpartei, 07.05.2023)

Zusammen ergibt das eine perfekte Partei-Presse-Propaganda, um die Faschisten maximal zu stärken.

[…..] Die rechtsradikale AfD [tritt] seit vielen Jahren lautstark gegen das von ihr selbst geschaffene Feindbild »linksgrün versifft« an. Dieses Feindbild macht sich die Union, insbesondere die wahlkämpfende CSU, derzeit mehr und mehr zu eigen. Die CSU, aber auch Teile der CDU machen Mafia-Witze über Wirtschaftsminister Robert Habeck (samt gephotoshopptem »Der Pate«-Plakat), übernimmt die antigrünen Slogans der »Bild«-Zeitung (»Heiz-Hammer«, »Heiz-Pranger«, »Heizungsspionage«, »Heiz-Stasi«), spricht im Gleichklang mit der AfD  bei jedem Anflug von strategischem Denken von »Planwirtschaft«. Dabei stellt bei den Grünen wirklich niemand die Marktwirtschaft infrage.

Die wiederum von »Bild« angefachte Aufregung über die Erhebung kommunaler Heizungsdaten ist übrigens ziemlich lustig: So eine »Energie-Stasi«, so einen »Schnüffel-Staat« (so der Thüringer CDU-Vorsitzende Mario Voigt ) gibt es bereits ! Nämlich in von der Union mitregierten Bundesländern Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein – und im CSU-Land Bayern . In allen drei Ländern sehen Klimaschutzgesetze eine entsprechende Datenerhebung schon vor.

Sehr oft geht es eben nicht um echte inhaltliche Differenzen, um unterschiedliche Auffassungen zu Sachfragen, sondern um die Diffamierung der Partei an sich. Um Strohmann-Attacken. Friedrich Merz ließ den Grünen kürzlich auf Twitter unterstellen, sie hegten »Hass auf die marktwirtschaftliche Ordnung, die Art, wie wir leben und arbeiten«. Das ist im Tonfall nicht mehr von Äußerungen aus der AfD zu unterscheiden. […..] Auch innerhalb der Koalition ist das Thema »Abwertung des grünen Koalitionspartners« bekanntlich, FDP sei Dank, salonfähig. Die Liberalen schicken immer wieder Leute vor, die den lächerlichen Kampfbegriff »Heizungsverbot« benutzen, um ein Gesetz zu kritisieren, dem sie selbst längst zugestimmt hatten. Ein Rechtsaußenvertreter der 6- bis 8-Prozent-Partei behauptete kürzlich, »Millionen Deutsche wären schlagartig in Partylaune, wenn die Grünen aus der Bundesregierung aussteigen«. Wolfgang Kubicki wollte  im März Parallelen zwischen Robert Habeck und Wladimir Putin entdeckt haben. […..] Fraktionschef Dürr macht mit »Bild« gemeinsame Sache gegen das von seinem Parteivorsitzenden kurz zuvor noch gelobte Gebäudeenergiegesetz: »Ich werde Habecks Heiz-Hammer entschärfen.« Immer geht es gegen die Grünen. Aber nicht gegen die echten, mit denen man koaliert, sondern gegen eine fiktive Partei, die die Marktwirtschaft ablehnt, Planwirtschaft einführen und Heizungen verbieten will. […..] Aber auch »Bild« und »Welt« tragen mit ihrer unterbrechungsfreien Anti-Grünen-Kampagne  vor allem zu etwas anderem bei: Please, stärke die AfD.  [….]

(Prof. Christian Stöcker, 28.05.2023)

Samstag, 27. Mai 2023

Leserbrief an die SZ

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wie lange ich schon die SZ abonniert habe, weiß ich gar nicht genau. 30 Jahre? Ich war noch Student und es war für meine damaligen finanziellen Verhältnisse eine kostspielige Angelegenheit. Aber letztlich überzeugte mich Heribert Prantl, den ich unter dem Begriff „Edelfeder“ kennengelernt hatte und der so wohltuend auf viel höherem Niveau schrieb, als ich das aus meinem sehr regionalen „Hamburger Abendblatt“ kannte.

Prof. Dr. Heribert Prantl (*1953), Jurist (Promotion Magna Cum Laude), Staatsanwalt, Richter, Autor, Journalist, Publizist war ab 1988 SZ-Redakteur, von 1995 bis 2017 Chef des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, 2018 bis 2019 Leiter des Ressorts Meinung und von 2011 bis 2019 war er Mitglied der Chefredaktion.

Das Abo habe ich nie bereut und schätze inzwischen viele andere SZ-Autoren sehr. Aber da Prantl für mich der erste Anknüpfungspunkt war, achte ich immer noch besonders auf seine Kolumnen am Wochenende und zu den Christlichen Feiertagen.

Umso mehr schmerzt es mich natürlich, bei all der Grundsympathie zu beobachten, daß Heribert Prantl offenbar zunehmend an „Religiotie“ leidet, die im Schmidt-Salomon-Sinn bedeutet:

Religiotie ist eine selten diagnostizierte (wenn auch häufig auftretende) Form der geistigen Behinderung, die durch intensive Glaubensindoktrination vornehmlich im Kindesalter ausgelöst wird. Sie führt zu deutlich unterdurchschnittlichen kognitiven Leistungen sowie zu unangemessenen emotionalen Reaktionen, sobald es um glaubensrelevante Sachverhalte geht. Bemerkenswert ist, dass sich Religiotie nicht notwendigerweise in einem generell reduzierten IQ niederschlägt: Religioten sind zwar weltanschaulich zu stark behindert, um die offensichtlichen Absurditäten ihres Glaubens zu erkennen, auf technischem oder strategischem Gebiet können sie jedoch (siehe Osama bin Laden) hochintelligent sein. Wie es „Inselbegabungen“ gibt (geistig behinderte oder autistische Menschen mit überwältigenden mathematischen oder künstlerischen Fähigkeiten), so gibt es offensichtlich auch „Inselverarmungen“ (normal oder gar hochintelligente Menschen, die in weltanschaulicher Hinsicht völlig debil sind).

Religiotie sollte daher als „partielle Entwicklungsstörung“ verstanden werden – ein Begriff, den der Entwicklungspsychologe Franz Buggle schon vor Jahren vorgeschlagen hat, um die spezifischen Denkhemmungen religiöser Fundamentalisten zu erfassen.“

(Keine Macht den Doofen, s.42f)  (….)

 (Das ewige Rätsel 23.04.2014)

Sicher, ich habe es leichter, weil ich säkular aufwuchs und nicht wie Prantl wohlige Kindheitserinnerungen mit katholischen Riten konnotiere. Von so etwas muss man sich erst einmal intellektuell befreien.

Aber dennoch sollten doch so umfassend belesene Menschen wie Prantl einsehen, wie absurd und paradox das katholische Grundkonstrukt ist.

Noch einmal MSS dazu:

[…..] Ich glaube nicht, dass die wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, schwerer zu verstehen sind als die seltsamen Geschichten, die uns von religiöser Seite nahegebracht werden. Ich frage Sie: Was ist schwerer zu verstehen? Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass wir Teil eines evolutionären Prozesses sind, der aus einfachen einzelligen Lebensformen allmählich komplexere Organismen hervorbrachte? Oder der Glaube an einen Gott mit multipler Persönlichkeitsstörung (Dreifaltigkeit), dessen erster Teil (Gottvater) sich mit seinen Geschöpfen verkrachte, worauf er den zweiten Teil seiner selbst (Heiliger Geist) aussandte, um eine Jungfrau auf nichtsexuelle Weise zu schwängern, wodurch der dritte Teil seiner selbst (Jesus Christus) als aufrechtgehender Trockennasenaffe geboren wurde, um von einer historischen Besatzungsmacht hingerichtet zu werden und – ätsch – am dritten Tag wieder von den Toten aufzuerstehen? Man muss sich doch mal überlegen, welche intellektuellen Verrenkungen solche Glaubensinhalte den Menschen abverlangen. [….]

(Michael Schmidt-Salomon)

Wie kann also ein so heller Kopf wie Prantl an so etwas glauben?

Ein Klick zu Wikipedia hilft weiter.

[…] Heribert Prantl ist der älteste von drei Söhnen seines gleichnamigen Vaters, der Oberamtsrat und Stadtkämmerer sowie ehrenamtlicher Vorsitzender des Kolping-Werks war, und seiner Mutter Julie Prantl, einer Schneidermeisterin. Nach seiner Darstellung war sein Vater ein „gläubiger Mensch“, die Hochzeitsreise hatte die Eltern zum Wallfahrtsort Altötting geführt, den auch die Familie später oft besuchte. Als Jugendlicher engagierte er sich im Bund der Deutschen Katholischen Jugend und schrieb bereits ab dem Alter von 15 Jahren fast täglich Berichte und Reportagen für die Lokalzeitungen seiner Region. Er absolvierte 1973 sein Abitur am Regental-Gymnasium Nittenau. Danach leistete er seinen Wehrdienst (letzter Dienstgrad: Fähnrich der Reserve) in Regensburg und Idar-Oberstein ab.  [….]

(Wikipedia/Prantl)

Der Jurist und Journalist Prantl war aber immer ein liberaler Mann, dessen Ansichten ich stets respektierte.

Umso geschockter war ich, als Prantl 2012 zum inzwischen berüchtigten "Kölner Beschneidungsurteil" den Juristen und Humanisten in sich über Bord warf und sich der Religiot in ihm Bahn brach. Er plädierte deutlich dafür, Kindern und Jugendlichen, medizinisch unsinnige schmerzhafte Genitalverstümmelungen antun zu dürfen.

Zur Ausgießung des Heiligen Geistes, beschäftigt sich Heribert Prantl (es war so sicher wie das Amen in der Kirche) natürlich auch mit Pfingsten und stellt (ebenso sicher vorhersehbar) fest, wie wichtig dieses christliche Fest ist.

Garniert; auch das ist in jedem seiner Texte zu katholischen Riten so; mit einer ordentlich Portion Larmoyanz im Subtext.

„Ach, so ein Jammer, daß der Glaube nachläßt. Wäre es doch bloß wie früher in meiner Kindheit.“

Diese Leier kann ich inzwischen schon singen, lese die Kolumne aber trotzdem, weil ich weiß, wie gebildet Prantl ist und warte gespannt, welche historische Begebenheit oder welche literarische Vorlage er wohl diesmal verwendet, um zu dem erwartbaren Schluß zu kommen, daß es mehr Religion und mehr Rituale brauche.

Heute war es also der historische Händedruck des Juden Jitzchak Rabin und des Sunniten Jassir Arafat, den er in einer hanebüchenen Assoziationskette mit den Pfingstbildern von Tizian oder El Greco in einer metaphysischen Aufwallung verrührt und daraus den Schluß zieht, der Heilige Geist habe den Frieden gestiftet.

[….]  „Zwei Jahre nach Pfingsten erschoss ein religiöser Fanatiker den Ministerpräsidenten Rabin; der Friedensprozess hat diesen Mord nicht überlebt. Rabins Tod war der Anfang vom Ende des Friedensweges.“ (Prantl)

Da hat der Heilige Geist ja super gewirkt. Warum hat der Heilige Geist nach dem Attentat nicht nochmal für Frieden gesorgt?  [….]

(Charlie, via AMB, 27.05.2023)

Damit verläßt Prantl aber nicht nur den Raum des Irdischen, sondern auch den Raum der Realität und Ratio.

[…..] „Zwei Jahre nach Pfingsten erschoss ein religiöser Fanatiker den Ministerpräsidenten Rabin.“ (Prantl)

Zwölf Jahre nach Ostern hatte der verdummbibelte Prantl immer noch nicht begriffen, dass Zeitangaben wie „sechs Monate nach Mitternacht“ oder „17 Wochen nach dienstags“ einfach nur Ausdruck einer religiotisch verstrahlten Denkschwäche sind. [….]

(holey spirit, via AMB, 27.05.2023)

Es kann doch keinerlei Zweifel daran bestehen, daß gerade im „Heiligen Land“ ganz offenbar nicht etwa zu wenig „Heiliger“ Geist, sondern ganz im Gegenteil, viel zu viel Heiligkeit am Werke ist. Drei Weltreligionen konzentriert, ergeben seit Jahrtausenden die tödlichste Gemengelage auf Erden.

Die einzige Chance auf Frieden besteht ganz eindeutig nur in der Überwindung der Religiösen und der Religioten in Israel und Palästina. Wir sehen es gerade in der Netanjahu-Regierung; je stärker der Einfluss der Ultrareligiösen, desto weiter entfernt man sich vom Frieden. Das ist der einenden Faktor der drei Abrahamitischen Religionen: Je stärker sie auf ihre heiligen Überzeugungen und Geister pochen, desto mehr Krieg. Zu allem Übel verquickt Prantl schließlich auch noch den Krieg in der Ukraine mit der Frage des Heiligen Geistes, von dessen Kraft er gar nicht genug haben kann.

[….] Ist der Friede [in Israel] so weit weg wie in der Ukraine? [….] Wichtig ist die Antwort auf die Frage, wie Pfingsten wird: Was muss man dafür tun, welche Hindernisse sind zu überwinden und wie gelingt das? Allein Waffen, Geschütze, Geschosse und Kampflugzeuge überwinden die Hindernisse nicht. Sie führen nicht dazu, dass aus einem zerstörten Land wieder ein Raum wird, in dem sich leben lässt. Man braucht dazu einen Geist, der Kraft und Wille zur Verständigung schafft. Heilig ist jeder Geist, der Frieden stiftet.

Wenn man an die Ukraine, wenn man an den Nahen Osten denkt, dann wird einem bewusst, dass der Satz "Der Friede sei mit euch" sehr viel mehr ist als ein ausgeleiertes frommes Sprüchlein, das zu den religiösen Floskeln gehört. "Der Friede sei mit euch": Es ist dies, so die Bibel, das erste Wort des auferstandenen Jesus an seine Jünger.  [….]

(Heribert Prantl, SZ, Pfingstausgabe 2023)

Dabei ist es doch auch gerade in dem Fall klar, wer der oberste Aggressor und Rechtfertiger jeder tödlichen Gewalt ist: Kyrill I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus und Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche.

[….]  Anfang voriger Woche traf die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) eine noch nie dagewesene Entscheidung: Sie gab bekannt, dass die Diözese Berdjansk von der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche an die russische Kirche übertragen wird – und zwar unter der Autorität von Patriarch Kirill. Berdjansk ist eine Stadt an der Küste des Asowschen Meeres in der Region Saporischschja, die unter russischer Besatzung steht. In den russisch besetzten Gebieten gibt es noch weitere Diözesen, die alle offiziell der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche angehören, die wiederum lange dem Moskauer Patriarchat unterstellt war.  [….]

(Mikhail Zygar, SPON, 27.05.2023)

Selbstverständlich erwarte ich als Atheist nicht, immer mit religiösen Ansichten überein zu stimmen. Ich will auch keine Zeitung lesen, die immer nur meine Meinung widerspiegelt. Ich möchte mich an den Kommentaren und Kolumnen reiben und dort etwas lesen, das ich vielleicht nicht 100% genauso sehe, aber doch die Argumente für eine andere Perspektive verstehe.

Nun aber ausgerechnet in den Palästina/Israel und Ukraine/Russland-Kriegen mehr Heiliger Geist und weitere Pfingsttage herbei zu schwärmen, ist so offensichtlich absurd, daß ich am Verstand des Autors zweifele.

[….] Es wurde in jüngerer Zeit hierzulande immer wieder überlegt, ob man den zweiten Pfingstfeiertag nicht einfach streichen sollte. Wenn man den Sinn von Pfingsten verstanden hat, wünscht man sich eher noch einen dritten Pfingstfeiertag. Die Kraft des Geistes braucht Präsenz, Platz und Raum. [….]

(Heribert Prantl, SZ, Pfingstausgabe 2023)

Ich mache mir Sorgen.

 Mit freundlichen Grüßen

Freitag, 26. Mai 2023

Menschen; ein Elend.

Klar, natürlich hassen Konservative und Klerikale alles Queere. Dennoch dachte ich, die Gesellschaft insgesamt entwickele sich in den westlichen Industrienationen so kontinuierlich weiter, daß es zu unattraktiv und risikoreich für die Rechten wird, den Kulturkampf gegen Nicht-CisHeteros wieder aufzunehmen.

Unglücklicherweise hatte ich mich bei dieser Annahme auch geirrt und muss nun mitansehen, wie sowohl in Süddeutschland, als auch in den US-Redstates auf breiter Front ein homo- und transphober Kurs gefahren wird.

2018 wurde Ron DeSantis nur äußerst knapp gegen den Demokraten Andrew Gillum zum Gouverneur des Swingstates Florida gewählt. Es mußte nachgezählt werden. Fort Lauderdale, Wilton Manors, West Palm Beach und Miami gelten als queere Hochburgen der USA. Rund eine Millionen Angehörige der LGBTIQ-Community leben dort. Man könnte also annehmen, dort keinen Erfolg mit scharf schwulenfeindlicher Politik zu haben. Aber weit gefehlt. Nach vier Jahren radikal homophober Politik, holte DeSantis bei der Gouverneurswahl 2022 deutliche 59,4 Prozent der Stimmen und landete 20 Prozentpunkte vor seinem demokratischen Herausforderer Charlie Crist (Gouverneur Floridas 2007 bis 2011).

Eben jener radikal antidemokratische, trans- und homophobe Ron DeSantis wird begeistert von der CSU gefeiert.

Und auch in Bayern gibt es keinen Zweifel daran, daß im Jahr 2023 die CSU wieder die Landtagswahl gewinnen und den Ministerpräsidenten stellen wird.

Die CSU ist stärker als Grüne, SPD, FDP und Linke zusammen.

Man muss also nicht nach Afrika (Mauretanien, Nigeria, Uganda, Somalia), oder die streng islamischen Staaten oder die osteuropäischen Autokratien blicken, um Beispiele dafür zu finden, wie extrem menschenfeindliche, nämlich Schwulen-diskriminierende Positionen an der Wahlurne belohnt werden. Das funktioniert auch in den USA und Deutschland.

Ein sehr homophobes Land, das gern in der Aufzählung vergessen wird, ist Japan.

Japan ist eine Demokratie, sehr reich, sehr modern, G7-Nation wie die USA und Deutschland, gilt außerdem als extrem technikaffin und modebewußt.

Die Heirat von zwei Männern bleibt aber auch im Jahr 2023, im Reich des Tennos völlig ausgeschlossen.

Rahm Emanuel, legendärer erster Stabschef Barack Obamas, und ehemaliger Bürgermeister Chicagos residiert nun als US-Botschafter in Tokio. Der heterosexuelle Jude, der mit seiner Frau Amy glücklich verheiratet ist und drei Kinder hat, wagte Ungeheuerliches.

Zusammen mit 14 weiteren Botschaftern in Japan twitterte er ein Video mit folgendem Aufruf:

When my closest friends give me the same advice, I pay attention. Fifteen foreign missions in #Tokyo have each lent their singular voice to a common message: we support universal human rights for all, we support #LGBTQI+ communities, and we oppose discrimination.

(Rahm Emanuel, 12.05.2023)

Auch der deutsche Botschafter Clemens von Goetze beteiligte sich.

[….] A video compilation of the messages, posted by U.S. Ambassador to Japan Rahm Emanuel on his official Twitter account, urges the Japanese government to "not be shaped by the past" when building a future where everybody is seen, heard and counted. "With all the challenges that we all face, from the implications of climate change, wars, civil strife, hunger -- the last thing that should occupy our energy is two people who love each other and want to build a life together," Emanuel said.

In addition to the United States, the video features messages from the European Union, 10 European countries, Canada, Australia and Argentina.

Swedish Ambassador Pereric Hogberg said that everyone has "the right to love who you want to love," while Finnish Ambassador Tanja Jaaskelainen stressed that "the rights of LGBTQI+ people are human rights -- pure and simple."

British Ambassador Julia Longbottom expressed hope that there would be "concrete steps towards equal rights for the LGBT+ community in Japan" under the country's G-7 presidency this year. After his former close aide made discriminatory remarks against sexual minorities earlier this year, Japanese Prime Minister Fumio Kishida has been under mounting pressure to pass a law to protect Japan's LGBT community, with the Asian country lagging behind other G-7 members on the issue.  [….]

(Kyodo News, 12.05.2023)

Die japanische Regierung ist von dem Video not amused.

Gegen Diskriminierung???
Für Menschenrechte??
Sodom und Gomorrha!

[….] Japan ist der einzige G-7-Staat, in dem die Homo-Ehe noch immer nicht erlaubt ist [….] Bald nach dem Microblog des US-Botschafters Rahm Emanuel wurde in Tokio zurückgetwittert. Und zwar von Masamune Wada, einem Oberhaus-Abgeordneten aus Japans Regierungspartei LDP. "Wenn Botschafter Emanuel seine Position als Botschafter in Japan irgendwie dazu nutzen will, Japan zu beeinflussen", schrieb Wada, "werden wir unmittelbare Maßnahmen ergreifen, ihn zurück in sein Land zu bringen." [….] Schon erstaunlich, wie leicht mancher Elitepolitiker in Japan aus der Fassung gerät, wenn es um Standards des gesellschaftlichen Fortschritts geht. Der Inselstaat sitzt dieses Jahr der Gruppe der sieben bedeutendsten Demokratien vor. Vergangenes Wochenende hat er in Hiroshima einen G-7-Gipfel mit Bekenntnissen für geregelten Freihandel und gegen Russlands Angriffskrieg veranstaltet. Da war Japan eins mit dem Westen. Aber oft ist es auch ganz anders. [….] Fachorganisationen benennen Defizite bei Gleichstellung und Pressefreiheit. Japan ist das einzige G-7-Mitglied ohne gemeinsames Sorgerecht von Eltern. [….] Japan ist nicht grundsätzlich intolerant. [….] Aber der rechte Einfluss ist eben groß. [….]

Der Abgeordnete Wada [….] ist nicht allein. Für Wadas Kritik an Emanuels Aufruf für die Rechte sexueller Minderheiten gab es über 27 000 Likes. […..]

(Thomas Hahn, Tokio, SZ, 25.2023)

Menschenrechte, Nein Danke!

Donnerstag, 25. Mai 2023

Union stramm rechtspopulistisc

Wir kennen es seit 2015; CDU und CSU können einfach nicht der Versuchung widerstehen, die zündelnden Thesen der faschistischen AfD nachzuplappern. Sie begründen es damit, die angeblich berechtigten Sorgen der Bürger ernst nehmen zu müssen. Ihre dahinter stehende Theorie besagt: Wenn auch die Union völkische, nationalistische, xenophobe, antiwissenschaftliche Sprüche kloppt, würden bisherige AfD-Wähler animiert werden, C-Parteien zu wählen und damit in den Schoß der demokratischen Parteien zurück kommen.

Die Theorie ist aus Unions-strategischer Sicht durchaus honorig; hat aber den Fehler, daß sie leider völliger Bullshit ist. Das Gegenteil trifft zu: Mit ihren stramm rechten Tönen, machen CDUCSU solche Thesen erst salonfähig, bestätigen den rechtsextremen Mob und senken die Hemmschwelle, gleich das Original zu wählen. Wo immer sich Unionskandidaten besonders stramm rechts geben, wird bei der nächsten Wahl die AfD überdurchschnittlich stark: Sachsen, Bayern, Sachsen-Anhalt und Thüringen beweisen ist.

Die Bundestagswahl von 2017 bewies es.

(….) Von allen ostdeutschen Bundesländern hat Sachsen das höchste AfD-Ergebnis. In Sachsen konnte die AfD auch am stärksten zulegen, nämlich um ungeheuerliche 20,2 Prozentpunkte, von 6,8% auf 27%. Mit 27% ist Gaulands faschistoide Gang sogar stärkste Kraft in Sachsen.

Die CDU verlor sagenhafte 15,7 Prozentpunkte, stürzte von 42,6% auf 26,9%.

[….] Die AfD ist die strahlende Siegerin der Bundestagswahl in Sachsen. Für die seit der Wende dominierende CDU setzte es dagegen eine schallende Ohrfeige der Wähler. Denn sowohl bei den Erststimmen als auch bei den Zweitstimmen feierte die AfD Erfolge. [….] Sowohl im Wahlkreis Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge (SSOE), als auch in Görlitz und Bautzen holten sich AfD-Kandidaten Direktmandate.  Am deutlichsten setzte sich AfD-Chefin Frauke Petry durch. Sie erzielte im Wahlkreis (SSOE) 37,4 Prozent der Stimmen und deklassierte damit ihren Konkurrenten, den bisherigen CDU-Bundestagsabgeordneten Klaus Brähmig. [….] Auch aus den Wahlkreisen Bautzen I und Görlitz schicken die Wähler AfD-Kandidaten direkt in den Bundestag.[….]

(MDR, 25.09.2017)

In Westdeutschland erzielte die AfD ihren größten Zugewinn in Bayern.  Die CSU verlor 10,5 Prozentpunkte, stürzte von 49,3% auf 38,8%.

Die AfD gewann in Bayern seit 2014 ungeheuerliche 632.594 Wählerstimmen hinzu und holte mit 12,4% ihr bestes Ergebnis aller westdeutschen Bundesländer. Den größten Absturz gab es im Wahlkreis Ingolstadt, der Heimat Seehofers, mit Einbußen von 13,9 Prozentpunkten. Wenn das in dem Bundesland passiert, dessen Regierungschef sich so brutal und unversöhnlich wie niemand anders gegen Merkels Flüchtlingspolitik stellte, bestätigt das die simple Regel „man wählt lieber das Original“. Die AfD nachzuäffen hat Tillich und Seehofer die höchsten Verluste an die AfD beschert.

[….] Dann muss sich Joachim Herrmann aber auch die Frage nach seiner eigenen Rolle und der Ausrichtung der CSU in den vergangenen Monaten gefallen lassen. Nur wenige Tage vor der Bundestagswahl hat sich der bayerische Innenminister mit falsch interpretierten Zahlen zu Sexualdelikten und Flüchtlingen heftige Kritik eingehandelt, weil es ein misslungener Annäherungsversuch an AfD-Sympathisanten war. [….]

(Ingrid Fuchs, SZ, 25.09.2017)

Es bleibt das Geheimnis der CSU wieso sie nach diesem wuchtigen Aufprall von Kopf auf Wand diese gescheiterte Strategie weiter ausbauen zu wollen.  (….)

(Dummerhafte Dümmlinge in Süd- und Ostdeutschland, 25.09.2017)

Unglücklicherweise zeigt die Union keinerlei Lernfähigkeit und versuchte es nach 2017 immer wieder mit diesem Ultrarechts-Kurs, obwohl sie damit stets auf die Nase fiel, während das liberale Aushängeschild Daniel Günther in Schleswig-Holstein Rekordergebnisse holt. Dennoch geben sich die meisten CDU-Landesverbände größte Mühe, die AfD zu stärken.

In per se liberaleren Bundesländern wie Hamburg, führt eine besonders Rechtsaußen positionierte Landes-CDU, wie die von Christoph Ploß 2021 zwar nicht zu starken AfD-Ergebnissen, weil hier die Zivilgesellschaft zu stark ist. Dafür rauschte aber auch die CDU auf 15% in den Keller.

Den Rechtsextremen nach dem Mund zu reden, funktioniert nie. Der Urnenpöbel greift ohnehin zum Original.

(…..) AfD, CSU, Gauck, NPD und auch weite Teile der heutigen CDU und FDP erklären in jede Kamera, man müsse die Ängste der Bürger vor der Überfremdung ernst nehmen. Man müsse sich endlich in der Flüchtlingsfrage ehrlich machen. Es dürfe nicht mehr tabuisiert werden den Islam zu kritisieren.

„Aber wir müssen die Ängste und Sorgen der Bürger doch ernstnehmen…..

So ein Blödsinn!

Wir müssen den Bürgern die Ängste nehmen und ihre Sorgen zerstreuen.“

(Wilfried Schmickler 12.11.2015)

Wenig verwunderlich, daß von so einer Performance nur die Originale profitieren: AfD, Pegida und NPD. Thomas Oppermann will nun auch Kontingente. Gabriel ist ein Stimmungs-Politiker, der den Muffigen und Motzenden voller Verständnis entgegen eilt.

Verständnis? Wofür? Verständnis aufbringen für die Ängste und Sorgen der Bürger in Deutschland. Keine Talkshow mehr ohne diesen Satz, keine Diskussion am Stammtisch und keine Debatte im Bundestag. Verständnis VON oder Verständnis FÜR? Es ist der kleine semantische Unterschied, der den Analysten vom Aktivisten unterscheidet. Den, der Stimmungen deutet von dem, der Stimmung macht. Ja, auch ich verstehe, dass es Ängste vor Flüchtlingen gibt und woher diese Ängste kommen. Nur, mit Verlaub, ich habe kein Verständnis dafür.

Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen Angst haben vor einer "Islamisierung des Abendlandes", wo der Anteil der Muslime im europäischen „Abendland“ gerade mal 4 % ausmacht, und auch dann nur auf 5 % anwachsen würde, wenn sämtliche syrischen Flüchtlinge auf einmal nach Europa kämen.

Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen in diesem Land davor Angst haben, dass 2, 3 oder 5 Millionen Flüchtlinge uns unserer Lebensgrundlage berauben. In einem Land, das gerade Milliarden Überschüsse erwirtschaftet und dabei von der Armut der Länder profitiert, aus denen viele Flüchtlinge zu uns kommen.

Ich habe kein Verständnis dafür, dass besorgte Bürger Angst davor haben, dass unsere Verfassungswerte in Gefahr geraten, wo doch die Gleichen, die das befürchten, sofort dazu bereit sind, Artikel 1 des Grundgesetzes zu opfern, wenn es um eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen in diesem Land geht.

Nein, ich habe keinerlei Verständnis für diese Ängste – und schon gar nicht dafür, dass Politiker Verständnis für solche Ängste heucheln und dabei nichts anderes tun, als diese Ängste jeden Tag aufs Neue anzufachen.

(Georg Restle, Monitor, 06.10.2015)

(Angst vorm Mob, 24.11.2015)

Nachdem sich Angela Merkel Ende 2021 in die Rente verabschiedete, übernahm Fritze Merz mit seinem strammen Rechts-Kurs. Unablässig poltert er AfDige Sprüche. Wettert gegen Einbürgerung, gegen Flüchtlinge, gegen „kleine Paschas“ und übernimmt auch den Anti-Woke-Kurs des Ron Desaster-Desantis.

So werde er die AfD halbieren, erklärte er ernsthaft, nachdem Jahrelang genau das Gegenteil eingetreten war, wenn die CDU nach rechts rutscht.

Das Ergebnis nach anderthalb Jahren Merz ist eindeutig. Trotzdem katastrophaler Ampel-Werte, liegt die Merzsche Bundes-CDU deutlich hinter allen Merkel-Ergebnissen und deutlich hinter Günthers Werten in Kiel. Dafür trieb Merz die AfD auf Rekordwerte.

AfD im September 2021: 10%

31.01.2022 CDU-Parteivorsitz Merz

15.02.2022 CDUCSU-Bundestagsfraktionsvorsitz Merz

AfD im Mai 2023: 17%

Das Halbieren hat offenbar nicht so recht funktioniert.

Lernt die Union nun endlich, welcher Kurs nicht funktioniert?

Nein, im Gegenteil. Seit 2023 greift sie massiv die queere Gemeinde an.

Sie hetzt gegen die Grünen, stellt den Kampf gegen den Klimawandel in Frage und verschärft weiter ihren nationalistisch-völkischen Kurs, um den Höcke-Flügel groß zu machen.

   [….] Mit mehr Deutschlandflaggen und dem Singen der Nationalhymne will die Union Patriotismus in Deutschland stärken, wie aus einem Antrag hervorgeht. „Wir treten für einen Patriotismus ein, der nicht durch Beiwörter in Watte gepackt werden muss“, sagte CDU-Politiker Philipp Amthor im Gespräch mit der Welt. Amthor soll Medienberichten zufolge Initiator des Antrags sein. Die Bundesregierung soll nach Willen der CDU ein „Bundesprogramm Patriotismus“ entwickeln. [….] Das von der CDU geforderte „Bundesprogramm Patriotismus“ soll unter anderem „die ganzjährige Sichtbarkeit nationaler Symbole – insbesondere der Bundesflagge – im öffentlichen Raum“ erhöhen, heißt es. Zudem will die Union dafür sorgen, „dass die Nationalhymne häufiger bei öffentlichen Anlässen gesungen und weiter als fester Bestandteil des deutschen Liedguts gepflegt wird“. Schwarz, Rot und Gold werden in dem Antrag als „stolze Farben“ und die Nationalhymne als „zum Klang gebrachte Freiheit“ beschrieben. [….]

(FR, 25.05.2023)

Wie schon häufiger, hielt ich diese Amthor-Meldung zunächst für Satire. Da musste doch die Titanic oder der Postillion dahinter stecken.

Aber nein, der Mann existiert wirklich, wird tatsächlich in den Bundestag gewählt und verbreitet in der Tat dieses AfD-Stärkungsprogramm. Make Faschismus great again.

[….] Alarmstufe Schwarzrotgold! Die Union hat wieder mal eine Idee. Keine Sorge, diese betrifft nicht so komplizierte oder langweilige Dinge wie die Klimakrise, die Pflege oder armutsbetroffene Kinder – nein, es geht um ein ganz simples, sanftes Gefühl: den deutschen Patriotismus. [….] Hurra! Nationale Heimatromantik möge nun endlich wieder aufgeschäumt werden, wie ein frisch gezapftes, nasskaltes Bier, um die, wie die Antragsteller schreiben, »zunehmende Polarisierung« im Lande zu überwinden. Insbesondere in Ostdeutschland soll der »zum Teil fehlende Bezug zur eigenen Nation« als eine »Schwachstelle der Wiedervereinigung« aufgearbeitet werden, unter Zuhilfenahme der deutschen Fahne. [….] Wenn das Land jetzt gerade etwas nicht wirklich braucht, dann parlamentarisch verordnete Staatssentimentalität und eine behördlich organisierte Nationalmediation. [….]

(Samira El Ouassil, SPON, 25.05.2023)

Mittwoch, 24. Mai 2023

Deutsche Peinlichkeit.

Eins tut Olaf Scholz sicher nicht; und zwar unbedacht losplappern. Seine viel zitierten Begriffe „Bazooka“, „Wumms“ und „Doppelwumms“ kamen garantiert nicht im Affekt über seine Lippen, sondern sollten genau die Wirkung erzielen, die dann auch eintrat.

So verstehe ich auch seinen unbundeskanzlerischen Satz rund um das Wort „bekloppt“:

[….] Bei einem EU-Projekttag in einer Schule sagte er am Montagnachmittag in Kleinmachnow östlich von Potsdam: "Ich finde das völlig bekloppt, sich irgendwie an ein Bild festzukleben oder auf der Straße." Er habe den Eindruck, dass es auch nicht dazu beitrage, dass irgendjemand seine Meinung ändere, sondern es ärgerten sich vor allem alle. "Das ist eine Aktion, von der ich glaube, dass sie nicht weiterhilft", sagte Scholz.  [….]

(SZ, 22.05.2023)

Scholz weiß natürlich, daß die Anliegen der „Letzten Generation“ gar nicht bekloppt, sondern berechtigt und sehr moderat sind.

Er weiß aber auch, wie extrem unbeliebt sich die naiven Aktivisten im Volk gemacht haben, weil sie der massiven Hetz-Kampagne der BILD, CDU und CSU – „Klima-RAF“, „Klimaterroristen“ – nichts entgegensetzten. 80% der Wähler stimmen dem Bundeskanzler zu.

FFF, die Grünen und die „letzte Generation“ haben alle die Schlacht um die Herzen der Öffentlichkeit verloren. Klimaschutz gilt den meisten als nachgeordnetes Thema.

Nur jeder zehnte Bundesbürger legt Wert auf Ökostrom. 70% interessiert nur, ob der Strom billig ist und nicht, wie klimaschädigend er erzeugt wurde.

Diese Zahlen sind ein absolutes Desaster für die Klimaschützer. Ihre PR-Kampagnen sind nicht etwa bloß wirkungslos, sondern kontraproduktiv. Wenn die Autofahrer sich höhnische „Heul leiser, Greta“-Aufkleber an ihre SUVs kleben und genau diese PS-Monster täglich beliebter werden, können sich Volker Wissing und Ondi Scheuer bei den Klebe-Aktivisten bedanken.

Wie unbedarft die Letzte Generation“ agiert, zeigt sich auch daran, wie naiv sie in die Falle des Bundeskanzler tappten; ihm den Gefallen taten, verbal ebenfalls zu eskalieren und noch mehr Aufmerksamkeit für die populären Scholz-Machtworte erzeugten.

[….] Die Klimaschutzaktivisten der "Letzten Generation" sind nach eigener Aussage "fassungslos" über die Kritik von Bundeskanzler Olaf Scholz. [….] "Herr Scholz, wie können Sie es wagen, sich vor die Kinder zu stellen, deren Zukunft Sie gerade vernichten, und davon zu sprechen, dass Sie Protest gegen Ihre zerstörerische Politik 'völlig bekloppt' finden?", fragten die Umweltschützer.

Es sei schließlich die Schuld des Kanzlers, dass Menschen auf Deutschlands Straßen versuchen müssten, friedlich ihre Grundrechte zu erstreiten. "Die Ursache unseres Protests liegt in der verantwortungslosen Befeuerung des gesellschaftlichen Zusammenbruchs durch die Regierung Scholz." Außerdem sprühten Aktivisten am Dienstagnachmittag orange Warnfarbe an die Fassade des Willy-Brandt-Hauses, wie es von der Polizei hieß.  [….]

(SZ, 23.05.2023)

Und nun werden sich noch mehr Menschen auf die Seite des Kanzlers schlagen.

Die Causa ist ein Paradebeispiel dafür, weswegen Demokratie und plebiszitäre Elemente nicht funktionieren.

Die öffentliche Meinung ist eindeutig. 80% gegen die Klimakleber. Eine riesige Mehrheit urteilt also nach Gefühlslage und von Springer-Presse aufgestachelt.

Inhaltlich sieht es allerdings genau umgekehrt aus: Die Forderungen der Letzten Generation sind wissenschaftlich eindeutig gerechtfertigt und faktisch richtig.

Vom Hass auf die „Klimakleber“ will selbstverständlich auch der wahlkämpfende Rechtspopulist Söder profitieren.

Nach GOP-Vorbild schwingt er die ganz große Keule gegen die jungen Menschen, die sich erdreisten, das Überleben der Menschheit zu befürworten.

[….] Womit man bei Alexander Dobrindt wäre. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag ist einer der ganz wenigen Menschen, die beim Anblick eines Unfalls finden: Will ich auch. Bestimmt hätte sich für die Heizpläne der Ampel am Dienstag auch ein anderes Wort als "bekloppt" finden lassen; womöglich hätte ihn das nicht derart in Fahrt gebracht, dass er sogleich von "Hinweisen auf zivilen Ungehorsam" bei Hauseigentümern schwärmte. Dobrindt? Der Mann, der neulich erst die "Klima-RAF" erfand? Findet auf einmal zivilen Ungehorsam gut? Immerhin, es wäre eine Attraktion, ihn demnächst an einer Ölheizung kleben zu sehen.  [….]

(Detlef Esslinger, 24.05.2023)

Heute setzte es also Razzien gegen die Letzte Generation; ihre Websites wurden vom Netz genommen.

[….] Die Art, wie der Staat, der Justiz- und Exekutivapparat, Teile der Presse und auch der Bevölkerung mit den Protestierenden der »Letzten Generation« umgehen, ist nichts weniger als katastrophal. Und zwar insbesondere in demokratischer, aber auch gesellschaftlicher Hinsicht.

Eine bundesweite Razzia hat stattgefunden mit der Begründung, es liege ein Anfangsverdacht für eine kriminelle Vereinigung vor. [….] Der Begriff einer kriminellen Vereinigung ist viel, viel größer und gewichtiger, weil dazu noch eine »Erheblichkeitsschwelle« überschritten sein muss, wie der ZDF-Rechtsexperte Jan Henrich erklärt . Das entsprechende Gesetz dient eigentlich zur Einordnung von mafiösen oder terroristischen Strukturen. [….]

(Sascha Lobo, 24.05.2023)

Die bayerische Polizei und bayerische Staatsanwaltschaft griffen zu drastischen Methoden.

[….]   Dann aber ist anlässlich der aktuellen Razzia etwas staatsübergriffig Grenzüberschreitendes geschehen: Die Website der »Letzten Generation« wurde abgeschaltet . Das liest sich für manche vielleicht auf den ersten Blick harmlos. Faktisch aber ist es ein absichtsvoller Stich ins Herz der Demokratie, nämlich der offenen Debatte. Es kommt sehr, sehr selten vor, dass bei solcher Art Ermittlungen eine Website abgeschaltet wird. Bisher wird diese Maßnahme eigentlich nur angewendet, wenn die Website das Herzstück der Illegalität bildet, etwa bei illegalen Tauschbörsen oder Online-Drogenhandel. Die falsche Radikalität dieser Maßnahme gegen die »Letzte Generation« wird besonders im Kontrast deutlich: Bei Razzien gegen Islamisten dagegen findet eine Website-Abschaltung nicht regelmäßig statt. Ebenso wenig bei »Reichsbürgern« oder QAnon-Anhängern. Obwohl diese Gruppierungen inzwischen mehrere Ermordete verantworten, sind sogar noch Seiten online, auf denen man seine »Reichsdokumente« beantragen kann. [….]

(Sascha Lobo, 24.05.2023)

Möglicherweise hilft aber diese extrem radikale und übertriebene Maßnahme den Aktivisten.

Sympathisch macht sich der CSU-Staat so nicht.

[….] Beim Wort "kriminelle Vereinigung" denkt man an organisiertes Verbrechen. An Mafia, Menschenhändler-Ringe. [….]  Das ist ein Netzwerk der russischen Organisierten Kriminalität, es sind Schutzgelderpresser und Mörder. Die Neonazi-Kameradschaft "Sturm 34" ist ein weiteres solches Beispiel, das sind Schläger, die in den 2000er-Jahren mit Sturmhauben und quarzsandgefüllten Handschuhen in Sachsen auf Jagd nach - vermeintlichen - Ausländern gingen. [….] Am Mittwoch hat die Generalstaatsanwaltschaft München überraschend einige Wohnungen und Büros der "Letzten Generation" durchsuchen lassen, gestützt auf den Vorwurf der "kriminellen Vereinigung". Möglich war das, weil diese Strafvorschrift, Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs, aus der Nähe betrachtet, bemerkenswert vage formuliert ist. [….]  Soll man wirklich unterstellen, das Begehen von Straftaten sei der eigentliche "Zweck" der "Letzten Generation" - wie bei den Menschenjägern des sächsischen "Sturm 34"? In München hat man daran gezweifelt, in Stuttgart hat der Generalstaatsanwalt sogar ganz offen kein Geheimnis daraus gemacht, dass er das Vorpreschen der Neuruppiner Juristenkollegen für abenteuerlich halte. Für überzogen. Jetzt aber haben sich in München die Strafverfolger aus der Deckung bewegt und sich erstmals der Position der bislang allein auf weiter Flur stehenden Brandenburger angeschlossen. "Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß Paragraf 129 StGB dar!", stand am Mittwoch als Statement der Generalstaatsanwaltschaft auf der beschlagnahmten Webseite der "Letzten Generation". Das ist eine Vorverurteilung, denn noch hat, wohlgemerkt, kein Gericht entschieden, ob dies auch stimmt.   [….]

(Ronen Steinke, SZ, 24.05.2023)