Die russische Armee kommt - langsam, aber stetig – voran. Die Material-Übermacht der östlichen Seite kann offenbar nicht vom Westen kompensiert werden.
[…] Lyssytschansk ist das nächste wichtige Ziel der russischen Truppen, nachdem sie die Nachbarstadt Sjewjerodonezk nach wochenlangen Gefechten am Wochenende gänzlich eingenommen hatten. Die Region Luhansk, eine der beiden Teilregionen des Donbass, steht damit nahezu vollständig unter russischer Kontrolle. Sollten die russischen Truppen auch Lyssytschansk einnehmen, könnten sie anschließend Kramatorsk und Slowjansk in der zweiten Donbass-Teilregion Donezk ins Visier nehmen. Slowjansk ist ebenfalls bereits Ziel heftiger russischer Luftangriffe. […]
Mutmaßlich hatte sich Putin erhofft, inzwischen längst die gesamte Ukraine zu kontrollieren und viel weniger Verluste gemacht zu haben. Aber da die Kämpfe ausschließlich auf Ukrainischem Gebiet toben, werden keine russischen Zivilisten massakriert, keine russischen Städte zerstört.
Die Kreml-Propaganda kann nun richtig wirken. In der Ukraine leben mehr als acht Millionen Russen, fast 20% der Gesamtbevölkerung. Fast alle Ukrainer sprechen russisch oder Surschyk, die weit verbreitete mündliche Mischform von Ukrainisch und Russisch. Die massive Unterdrückung der Russen durch die Ukrainische Regierung war bisher weitgehend eine Propaganda-Lüge des Kremls, aber Selenskyj tut Putin nun den Gefallen, diese Vorwürfe wahr zu machen.
Russische Sprache wird verboten, russische Literatur verschwindet aus dem Unterricht. Sogar russische Musik wird verbannt. Alles Russische wird demoliert.
[…] Allein in Kiew sollen, so Klitschko, 60 weitere Gedenkstätten, die an Russland und die Sowjetunion erinnern, verschwinden, viele weitere an anderen Orten in der Ukraine. "Wir müssen den Feind und den russischen Besatzer aus unserem Land vertreiben." Viele ukrainische Gemeinden sind außerdem dabei, Straßen umzubenennen, die an Russland erinnern. In Dnipro wird die Straße der 30. Irkutsk-Division ab sofort Straße der ukrainischen Soldaten heißen. In Kiew sollen 60 Straßen umbenannt werden, darunter auch der Leo-Tolstoi-Platz und die gleichnamige U-Bahn-Station. Im Dorf Fontanka […] entschieden sich die Verantwortlichen […] die Wladimir-Majakowski-Straße in Boris-Johnson-Straße umzubenennen. […]
Keine Frage, die dahinter stehende Motive, die ukrainische Wut auf „die Russen“ ist verständlich. Aber solche Aktionen sind dennoch eine große Hilfe für Putin, weil die Millionen russisch-stämmigen Ukrainer, die bisher keinerlei Sympathie für den Kreml-Herrscher verspürten und den Krieg klar verurteilten, in eine unmögliche Lage gebracht werden. Viele sprechen gar kein Ukrainisch und haben ein völlig normales, friedliches Leben als Krankenschwester, Taxifahrer, Chemiker, Lehrerin oder Polizist geführt. Ohne je mit Ukrainern in Konflikt zu geraten. Und nun dürfen sie nicht mehr die russischen Schriftsteller Lermontow oder Puschkin lesen.
[…] Tatjana Uschik beispielsweise, 61, die einst in der Werbung und der Architektur arbeitete und in einem der schwer bombardierten Hochhausviertel lebt, hat eine wahre Entfreundungswelle auf Facebook erlebt, einige Nachbarn und Bekannte reden nicht mehr mit ihr. "Aber was soll ich tun? Meine Tochter lebt mit ihrer Familie in Sankt Petersburg, ich bin am Baikalsee aufgewachsen und habe 21 Jahre lang in Russland gelebt", sagt sie: "Russland ist der Aggressor, keine Frage, aber ich kann Russland nicht hassen." Dabei hat sie diesen Aggressor selbst erlebt - und auch, wie man sich in Russland selbst belügt. Nach Kriegsbeginn beglückwünschten sie russische Freunde in den sozialen Medien: Ihre Befreiung von den Faschisten in Kiew sei nur noch eine Frage der Zeit, schrieben sie. "Welche Befreiung?, habe ich geantwortet: Über uns kreisen die Kampfflugzeuge, wir werden angegriffen!" Mindestens ebenso verzweifelt aber ist sie angesichts der fortschreitenden Ausbreitung der ukrainischen Sprache zulasten des im Osten lange dominanten Russischen - in Schulen und Hochschulen, Theatern und Filmen, Ämtern und Medien. "Man kann ja nicht mal darüber reden, ob es gut ist, Russisch in Schulen zu verbieten, denn es ist die Sprache des Feindes." Tatjana Uschik spricht kein Ukrainisch, nur Russisch. Für Moskauer Propaganda, für Fake News und Manipulation aus dem Kreml ist sie die ideale Zielgruppe. Ob sie sich Russland enger verbunden fühlt oder dem Westen der Ukraine? Sie zögert nicht: "Natürlich Russland. Ich war nie in Lwiw." […]
Trotz der Durchhalte-Appelle und der demonstrativen Zuversicht der westlichen Mächtigen auf der Elmau und in Madrid, wird die Bevölkerung zunehmend kriegsmüde.
Die konservativen Medienleute und CDU-Politiker, die Links-AfD-Querfront sowieso, wenden sich gegen die Ampel-Regierung, verspotten die Aufrufe zum Energiesparen. Lindner will keine E-Autos, Wissing blockiert den Ausbau des ÖPNV, rechte Blogs und CDUler hetzen gegen Habeck, machen ihn für die Energiekrise verantwortlich.
Heizung runterdrehen und kürzer zu duschen als
unzumutbare Anmaßungen der bösen Linksgrünversifften – ohne auch nur zu
erwähnen, daß Putin womöglich auch etwas damit zu tun haben könnte.
Dabei haben wir Hochsommer. Wie kritisch werden Teile des Volkes erst das Energie-Embargo gegen Russland sehen, wenn Benzin vier Euro pro Liter kostet und sie tatsächlich frieren müssen?
Deutschlands Wirtschaft kann – Danke an CDU- und FDP-Wirtschaftsminister unter Angela Merkel – nicht ohne Gas. Und Putin hat Gas. Noch dazu Gas, das sehr viel näher liegt und sehr viel weniger umweltschädlich produziert wird, als die Alternativen.
Die Rufe werden kommen, die Sanktionen gegen Putin zu lockern.
Vermutlich noch dramatischer ist die russische Hand am weltweiten Weizenhandel. Wie wollen wir, „der Westen“, eigentlich Sanktionen gegen Russlands Exporte rechtfertigen, wenn deswegen Millionen Menschen verhungern, während die EU satt und zufrieden auf genügend Weizen-Reserven sitzt, die aber weit überwiegend als Tierfutter und zur Gewinnung von Treibstoff eingesetzt werden?
780 Millionen Tonnen Weizen wurden 2021 weltweit geerntet. Das war schon zu wenig, etwa 20.000 Menschen verhungern jeden Tag. 2022 werden mutmaßlich um die 740 Millionen Tonnen eingefahren. Aber die Groß-Produzenten USA und Australien liegen weit weg. Ihr Weizen verursacht so viel Transportkosten, daß sich die armen Nord- und Ostafrikanischen Staaten das Korn nicht leisten können. Dadurch werden die russischen und ukrainischen Ernten noch überlebenswichtiger. Aber Putin soll nichts verdienen und die mindestens 25 Millionen Tonnen der ukrainischen Weizenernte von 2021 liegen in Silos, hauptsächlich in Odessa, fest und können nicht abtransportiert werden.
[…] Neben den Kampfhandlungen und ihren Folgen sind die durch Russland blockierten Seehäfen ein ebenso großes Problem für die ukrainische Landwirtschaft. Etwa 25 Million Tonnen Ernteerträge vom letzten Jahr, die schon kurz vorm Export standen, müssen gezwungenermaßen im Land verbleiben. Hinzu kommen weitere 1,5 Millionen Tonnen Getreide in den erst kürzlich besetzten Gebieten. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums hat Russland rund 400.000 Tonnen dieses Getreides auf sein Staatsgebiet verbracht habe und versuche jetzt, es zu verkaufen. […]
(Anastasia Magasowa, 30.6.2022)
Die Folge ist eine Hungerkatastrophe, für die Scholz, Biden und Selenskyj einmütig und korrekt Putin verantwortlich machen. Aber wer in Tunesien oder Somalia wird das noch artig zur Kenntnis nehmen, wenn die eigenen Kinder verhungern und der russische Präsident treuherzig anbietet, günstig seinen Weizen zu liefern, das aber bedauerlicherweise nicht zu können, so lange G7 und Nato ihn vom Welthandel abschneiden.
[…] Zumindest mag Putin eine bestimmte Strategie verfolgen mit seinem Krieg, der auch ein Weizenkrieg ist, sagt der US-Geschichtsprofessor Scott Nelson von der Universität Georgia, der in seinen Forschungen dem Weg des Weizens gefolgt ist, […] „Putin versteht die Zusammenhänge zwischen Geopolitik und Wirtschaft erstaunlich gut“, sagt Nelson, beim russischen Präsidenten habe man es mit einem Experten zu tun: Putin habe seine Doktorarbeit über Rohstoffe geschrieben. Die Rolle des Weizens in dem Konflikt könne gar nicht überschätzt werden. Putin habe mit der Ukraine 2011 ein Weizenkartell bilden wollen, das die Weltpreise bestimmen sollte. Als der Plan 2012 am Widerstand des ukrainischen Volkes scheiterte, habe Putin sich zum Überfall auf die Ukraine und zur Annexion der Krim entschieden. Steigen die Weizenpreise, profitiert Russland als drittgrößter Weizenproduzent der Welt direkt davon. Und Odessa ist für Putin attraktiv, weil der Hafen große Schiffe aufnimmt, die den Transport verbilligen. […]
Putin hat die meisten Trümpfe in der Hand, denn er verfügt über Gas und Weizen und die logistischen Möglichkeiten beides sofort auszuliefern. Kiew kann das nicht und muss seine Millionen Tonnen Weizen verrotten lassen. Ihren einzigen Seehafen Odessa haben die Ukrainer selbst total vermint. Dort wird für lange Zeit kein Kornfrachter mehr anlegen können.
[…] All das sei Teil von Putins Strategie, sagt [Landwirtschaftsminister Cem] Özdemir, […]. „In Syrien wurde Hunger bewusst als Mittel der Destabilisierung eingesetzt, und so ist es auch hier.“ Dahinter stecke eine Doppelstrategie: Einerseits lasse sich so die Ukraine als Konkurrent ausschalten, schließlich investiere keiner in ein Land, in dem jederzeit eine Rakete einschlagen kann. „Und Ländern in Afrika, Asien oder der arabischen Welt signalisiert man: Wir sind da, wir sind bereit zu liefern, wenn der Westen die Sanktionen aufhebt.“ Das solle so wirken, als wären die Ukraine und der Westen schuld. „Eine völlige Umkehrung von Ursache und Wirkung.“ Seine Befürchtung: Russland könnte irgendwann den Krieg für beendet erklären und dann anbieten, für die schrittweise Rücknahme der Sanktionen auch den Weg für das Getreide frei zu machen. „Genau so ein Deal darf nicht passieren“, sagt Özdemir. „Wir dürfen uns nicht erpressbar machen.“ Es ist ähnlich wie beim Gas. Um dem Kreml Druckmittel zu nehmen, braucht es Alternativen, und das schnell. Wenn der Seeweg für das Getreide blockiert ist, bleibt nur der Landweg, doch der ist kompliziert. Ein Containerschiff der sogenannten Panamax-Kategorie - das sind Schiffe, die gerade noch durch den Panamakanal passen – schafft bis zu 70 000 Tonnen Getreide weg. Es bräuchte mehr als 2000 Lastwagen oder 30 voll beladene Güterzüge, um dieselbe Menge auf Straßen oder Schienen zu transportieren. Einer der möglichen Wege führt über Polen an die Ostsee, vom litauischen Klaipėda etwa ließe sich die ukrainische Ernte verschiffen. Der Haken: Die Bahnen in der Ukraine und in Litauen fahren noch auf der sowjetischen, breiteren Gleisspur. Polen dagegen hat die schmalere westeuropäische. Das Getreide müsste also zweimal umgeladen werden, ehe es den Hafen erreicht. […] Bliebe die Donau, die im äußersten Süden die Ukraine berührt. Vom Hafen in Ismajil aus könnten Schiffe stromaufwärts nach Rumänien fahren und dann über einen Kanal hinunter zum Schwarzmeerhafen Constanţa. Doch die Mengen, die bisher die Ukraine auf dem Seeweg verließen, monatlich fünf Millionen Tonnen, sind für diesen Weg zu groß. […] Außerhalb der Halle regnet es, ein Lastwagen setzt durch eine riesige Pfütze zurück und rangiert in die Halle hinein. Cem Özdemir tritt einen Schritt zur Seite. Der Fahrer ist Ukrainer, ein kleiner Mann mit roten Bäckchen. Verlegen lächelt er Özdemir an. Er mache so einen Trip zum ersten Mal, erklärt der Mann dem Minister. Er tue es für sein Land. Özdemir schaut ihn lange an, schweigt, dann bedankt er sich. Der Bundeslandwirtschaftsminister ringt mit den Tränen. Der Krieg mag im Berliner Regierungsviertel weit weg sein, hier, in der Halle mit dem Kartoffelpüree, wird er Realität.[…] 2000 Kilometer weiter südwestlich, in Nordafrika, überlegen deshalb jetzt schon Menschen, ihre Heimat zu verlassen. […]
Es ist zum verrückt werden: Während jeden Tag Tausende jeminitische, äthiopische, sudanesische und tschader Kinder verhungern, muss die Ukraine aufhören Weizen anzubauen, weil sie ihn nicht loswerden kann.
[…] Das Mykolajiwer Agrarunternehmen trägt den Namen „Goldener Koloss“, Leiterin ist die 42-jährige Nadiia Iwanowa. Es handelt sich um einen Großbetrieb: Auf zusammen 45 Feldern mit einer Fläche von über 4.000 Hektar bauen sie hier jedes Jahr Sonnenblumen, Weizen, Gerste und andere Feldfrüchte an. Jährlich ernten sie im Schnitt 12 bis 14 Tonnen. Aber nicht in diesem Jahr. „Der Krieg hat alles kaputtgemacht. Alle Pläne und Träume“, beginnt Iwanowa das Gespräch. Sie sitzt in ihrem Büro am Schreibtisch, zwei ihrer Kollegen sind dazugekommen. Während sie erzählt, wird sie ständig vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Das ist wenig erstaunlich, denn in ihren Getreidespeichern lagern noch einige tausend Tonnen der Ernte vom Vorjahr, die dringend weiterverkauft werden müssen, um die Silos frei zu machen. In den nächsten Tagen beginnt die erste Ernte dieses Jahres, die man aber nirgendwohin exportieren kann. Und sie lässt sich auch nicht lagern, denn dafür gibt es nicht genügend Platz in den Silos. […]
(Anastasia Magasowa, 30.6.2022)
Putin kann diesen perversen Zustand lange aushalten, weil er skrupellos ist. Aber wie lange kann der Westen dem Verhungern und dem Elend zugucken?