Das war heute einer dieser Tage. In meiner Wohnung herrschen nachts mollige schwüle 26°C, so daß ich natürlich nicht schlafen kann, also muss ich die auf CNN aufgezeichneten letzten Teile der Insurrection-Hearings sehen, die ich bisher noch nicht kannte. Der Hauseigentümer mäht morgen lautstark wieder den Vorgarten auf Wimbledon-Maß, damit a) auf gar kein Fall irgendein Kleintier Nahrung oder ein Insekt Unterschlupf findet und b) alle Mieter des unisolierten Baus, die doch noch eingeschlafen sind, geweckt werden. Der Kaffee, eine Jumbo-Tasse mit frisch gemahlenem Thailand Arabica Akha Hilltribes, nützt nichts, macht nicht wacher und gegenüber beginnen die desinteressierten Großstadt-SUV-Mums, ihre Blagen auf dem betreuten Kita-Spielplatz zusammen zubrüllen. Es könnte ja in der Wohnstraße doch noch jemand schlafen, der nicht von den Rasenmähern geweckt wurde.
Die helicopterisierte Brut zahlt mit gleicher Münze zurück, schreit mit 130 Dezibel ihre Daseinsberechtigung heraus. Und zwar in einer Frequenz, die weitgehend nur von Fledermäusen zu höhren ist, so daß ich gar nicht verstehen kann, wieso diese akustische Pein dennoch dieses Ohrenbluten bei mir auslöst. Bleibt nur zu hoffen, daß mich das eigenartige Kraut, welches mein Nachbar auf dem Balkon raucht und direkt in mein Bett zieht, schnell tötet.
Mit dem zweiten Kaffeebecher, 600 ml, ich versuche es nun mit meinem schwersten Geschütz, Papua-Neuguinea Arabica aus der Keto Tapasi Kooperative, greife ich auch meinen Wochenkalender und beschließe, keine unverschiebbaren Termine zu erkennen. Montagnachmittag und die Woche nervt. Da hilft nur eins: Nichts tun. Liegen bleiben, die Telefone gar nicht erst anstellen. Offline-mode.
Vor dem Ventilator ausgebreitet Zeitung zu lesen, ist gar nicht so einfach, man muss die einzelnen Seiten recht klein falten und mit dem Rücken zum Luftstrom liegen; aber immerhin kein unlösbares Problem. Um 21.00 Uhr bin ich durch die in der letzten Wochen angesammelten Artikel, habe mich detailliert in die Weizenkrise eingelesen, haarsträubende Stories aus QTrumplistan konsumiert und spätestens nach den Berichten über die russischsprachige Minderheit in der Ostukraine weicht meine Frustration des Tagesanfangs einer echten Depression.
Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend verdammen. Endlich doch noch eine gute Nachricht; endlich sind die lange erwarteten 2021er Austrittszahlen aus der römisch-katholischen Kirche da. Das erste Lächeln des Tages.
[….] Der Gottesdienstbesuch ist – coronabedingt – in 2021 mit 4,3 Prozent erneut zurückgegangen (2020: 5,9 Prozent). Die Zahlen beim Sakramentenempfang sind dagegen teilweise deutlich gestiegen: So lag die Zahl der kirchlichen Trauungen bei 20.140 (2020: 11.018), die Zahl der Taufen bei 141.992 (2020: 104.610) und die Zahl der Erstkommunionen bei 156.574 (2021: 139.752). Die Bestattungen sind mit 240.040 ebenfalls leicht gestiegen (2020: 236.546). Im Jahr 2021 sind 1.465 Menschen in die katholische Kirche eingetreten (2020: 1.578), es wurden 4.116 Menschen wieder aufgenommen (2020: 4.358). Die Zahl der Kirchenaustritte ist in 2021 erneut massiv gestiegen: 359.338 Menschen haben die Kirche verlassen (2020: 221.390; 2019: 272.771). Zur Statistik 2021 erklärt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing: „Die Zahlen des Jahres 2021 zeigen die tiefgreifende Krise, in der wir uns als katholische Kirche in Deutschland befinden. Es ist nichts schönzureden, und ich bin – trotz der gestiegenen Zahlen der Sakramentenspendung – zutiefst erschüttert über die extrem hohe Zahl von Kirchenaustritten. […]
(dbk, Pressemitteilung, 27.06.2022)
Von 83,2 Millionen Menschen in Deutschland sind nur noch 21.645.875 (26%) katholisch. Die Protestanten haben mit 19.725.000 Mitgliedern schon die 20-Millionen-Grenze geknackt.
Den 142.000 katholischen Taufen stehen 240.000 Todesfälle gegenüber.
Innerhalb von 12 Monaten verlor die RKK-Deutschland damit rund 460.000 Mitglieder. Die Kirche ist erledigt.
Ein großartiger Erfolg, für den ich meinen Top-Agenten Woelki, Müller, Bätzing, Marx, Ackermann und Ratzinger ganz herzlich danken möchte.
Leider konnten wir die halbe Million/Jahr nicht vollmachen, weil die Ortsämter nicht genügend Austrittstermine bereitstellten. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, die Diözesen produzieren eifrig weiter Horrornachrichten.
[….] Genau 359 338 Menschen sind im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten - das ist in etwa die Einwohnerzahl Wuppertals, welches übrigens zum Erzbistum Köln gehört, daher passt die Stadt als Referenzgröße doppelt gut. Das Erzbistum Köln ist Statistik-Spitzenreiter der deutschen Diözesen mit 41 000 Ausgetretenen, in Kirchenkreisen spricht man vom Woelki-Effekt. Von ihm, dem nach Skandal und Auszeit unverdrossen zurückgekehrten Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki, hat der Papst noch ein Rücktrittsgesuch im Schreibtisch liegen, auf Wiedervorlage. Er wolle erst entscheiden, wenn der öffentliche Druck nachgelassen habe, hatte Franziskus jüngst in einem Interview gesagt. Wann das sein wird, ist unklar - und wie viele Katholikinnen und Katholiken es in Köln bis dahin noch gibt, auch. [….]
Einer der für RKK-Verhältnisse geradezu aufgeschlossenen und sympathischeren Vertreter ist der Jesuitenpater Ansgar Wiedenhaus, Seelsorger der Offenen Citykirche St. Klara in Nürnberg, der sich mit seinem Gesprächsformat "Exit?" an Austrittswillige wendet. Er konnte noch niemanden überreden zu bleiben, möchte aber den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen und damit den Austritt aus der Glaubensgemeinschaft der Katholiken nicht bei einem simplen kommunalen Verwaltungsakt belassen. Der Jesuit geht kritisch mit seinen Führern ins Gericht und formuliert für einen Geistlichen erstaunliche Erkenntnisse.
[….] Früher hieß es, soll ich gehen oder soll ich bleiben? Inzwischen fragen sich viele: Ist es moralisch überhaupt noch vertretbar, zu dieser Kirche zu gehören? Oder unterstütze ich damit nicht ein Unrechtssystem? [….]
(Ansgar Wiedenhaus, 27.06.2022)
Gratulation. Ja, die RKK ist ein Unrechtssystem. Das hätte ich ihm freilich schon vor Jahrzehnten sagen können und genügend Menschen haben das über die Jahrhunderte immer wieder zu Papier gebracht, aber es ist doch schön, daß auch ein Pfaff dazu lernen kann.
Aber keine Sorge, es ging nicht soweit, Wiedenhaus sympathisch zu finden. Er ist immerhin katholischer Priester und holte schon bei der nächsten Frage, ob man die Kirchenüberhaupt brauche, um seinen Glauben zu leben, des SZ-Interviews zu einem Klopfer aus, der mich laut auflachen ließ.
[….] Man braucht irgendeine Form von Gemeinschaft. Ich glaube, dieses "Ich mache meinen Glauben für mich selbst", das funktioniert nicht. Dann fängt man irgendwann an, zu einem Gott zu beten, der nur dem eigenen Kopf entspringt. Man braucht den Austausch über Dinge, auf die man von selbst nicht kommt. Zuspruch, den man sich selbst nicht geben kann. Denkanstöße. [….]
(Ansgar Wiedenhaus, 27.06.2022)
Religiotie par excellence. Ist das ein genialer Gag: Der „Exit?“-Mann warnt vor einem Glauben an G*tt außerhalb der Kirche, dann finge man an zu einem Gott zu beten, der nur dem eigenen Kopf entspringt!
Dem gegenüber sieht er offenbar den real existierenden Gott, den man sich nicht ausgedacht hat, der aber nur innerhalb der Mauern der Kirche für diejenigen existiert, die ihre Beiträge bezahlen!
Also wenn das die besten und liberalsten Pfaffen sind, welche die RKK aufbringt, um ihre eigenen Exodus zu vermeiden, freue ich mich schon auf die Austrittszahlen des Jahres 2022!
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