Stefan Zweig war 1940 im deutschen Sprachraum ziemlich allein. Zwar gab es unter den international vernetzten Intellektuellen, mit denen er verkehrte, zwischen 1930 und 1939 wenig Sympathien für den Faschismus in Europa, aber nachdem Hitler den zweiten Weltkrieg losgetreten hatte, wurden sie alle zu Patrioten, die sich auf den verschiedenen Seiten der Front für das Kämpfen begeisterten. Zweigs Überzeugungen von der gemeinsamen europäischen Kultur, die es friedlich zu erhalten gelte, statt sich nationalistisch gegeneinander zu wenden, war kaum noch en vogue.
Soziologen messen den absoluten Peak der deutschen Zustimmung zu Hitler im Juni 1940, als er von seiner gespenstischen Paris-Reise zurückkehrt und in einem Triumphzug durch Berlin fährt. Die US-amerikanische Presse meldet damals:
[….] Adolf Hitler returned to a conqueror's welcome in Berlin today after eight weeks in the field at the head of German armies which overran the Netherlands, Luxemburg, Belgium and France and now are preparing for blitzkrieg against England.
His arrival at the Anhalter railway station, decked with flowers, was the signal for the start of a tumultuous, officially organized demonstration by massed throngs lining the streets and squares from the depot to the Reich's Chancellery.
Even greater significance attached to the Fuehrer's return to Berlin since as he arrived Italian Foreign Minister Count Galeazzo Ciano was speeding here by train from his Italian Air Force command in northern Italy to confer with the Fuehrer. Ciano was expected to see Hitler tomorrow in what were regarded as highly important talks, since no matter of maintaining contact would bring the Italian Foreign Minister to the German capital at this time.
Hitler arrived at 3:01 p.m. (9:01 a.m. New York time), and with his entourage entered automobiles for the triumphant ride to the Chancellery.
Throngs, ordered by their partly district chiefs to report, mingled with soldiers for the welcome. A call to greet the Fuehrer on an unprecedented scale had been issued through morning newspapers.
High army officials and Nazi party leaders greeted Hitler at the station, and news that he had come back to Berlin set church bells ringing throughout the capital.
Simultaneously German radio announcers described the scene to the nation and called the crowds around the Chancellery a "seething mass."
As Hitler stepped from his train a band struck up the Badenweiler March and the crowds broke into a roar
The Fuehrer was accompanied by Field Marshal Herman Wilhelm Goering, and they were greeted by Propaganda Minister Paul Joseph Goebbels in his capacity as Nazi Gauleiter of Berlin.
The boulevard leading to the Chancellery was a carpet of flowers. Throngs lining it waved flags and at times the cheering drowned out the music of the bands. […..]
Millionen jubeln Hitler zu, 95% der Deutschen halten zu ihm, die Christen frohlocken und lassen vor Freude alle Kirchenglocken für den Massenmörder läuten. Die ganz wenigen Menschen, die Krieg und Antisemitismus ablehnen, die Hitler für so gefährlich halten, daß sie Attentate erwägen, stellen ihre Pläne zurück, weil das gesamte Volk wie ein Mann hinter seinem Führer steht.
Aber warum eigentlich? Propaganda, oder nicht: Es war damals doch schon klar, daß es Hunderttausende Tote durch den Krieg gab, daß Holland, Frankreich und Polen verwüstet wurden. Konnte sich keiner vorstellen, wie die Belgier, oder Franzosen das empfinden, wenn sie der Willkürherrschaft der deutschen Wehrmacht unterliegen?
Das konnte doch niemals gut ausgehen.
Aber (scheinbar) gewonnene Kriege machen populär. Menschen blenden das Leid der Opfer entweder aus, oder noch schlimmer, erfreuen sich sogar daran, anderen Schmerzen zuzufügen, weil das Rachegelüste oder den eigenen Patriotismus befriedigt.
Auch Wladimir Putin begann am 24.02.2022 einen Krieg in Europa, der bisher hunderttausende Tote kostete, eine große Nation in Trümmer legte und nebenher aberwitzige finanzielle und klimatische Schäden anrichtete.
Wie kann es eigentlich angehen, daß große Teile Ostdeutschlands,
das BSW, Trump, die anderen Nazi-Parteien Europas und die AfD der Meinung sind,
man sollte Putin dafür BELOHNEN, indem die Ukraine Staatsgebiet an ihn
abzutreten habe?
Zum Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel (1.300 Israelische Tote) mit inzwischen 41.000 gekillten Palästinensern, ergibt sich ein ähnliches Bild.
Sowohl die Hamas-Führung, als auch Netanyahu sitzen wieder fest im Sattel.
Das Volk erwärmt sich für die schlimmsten Kriegstreiber.
[….] Premier Benjamin Netanyahu kämpfte in den Tagen nach dem Terror um sein politisches Überleben, er war im Land verhasst, es sah so aus, als würde er höchstens noch ein paar Wochen im Amt bleiben. Heute ist er wieder der zweitbeliebteste Politiker in Israel. Dieser Wiederaufstieg ist eng verknüpft mit der Eskalation der Konflikte in der Region.
»Netanyahu war in diesen ersten Tagen schwach, er musste vor allem seine Machtbasis konsolidieren und die Koalition mit den Rechtsextremen zusammenhalten«, sagt Svirsky. Deshalb habe er Härte zeigen müssen. Zugleich habe er versucht, den Krieg in die Länge zu ziehen und in dessen Schatten eine radikale Agenda umzusetzen. »Die Hamas hat meinen Bruder ermordet«, sagt sie, »aber Itais Blut klebt auch an Netanyahus Händen, denn er hätte längst ein Abkommen schließen können, um die Geiseln lebend heimzuholen.«
Die israelische Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin sagt, nach dem 7. Oktober habe Netanyahu zunächst geschockt gewirkt. Das Massaker nicht verhindert zu haben, war auch sein Versagen. Er hatte jahrelang Gelder aus Katar an die Hamas passieren lassen. Die stabile Herrschaft der Terrororganisation in Gaza war für ihn und seine rechtsextremen Partner eine Möglichkeit, die gemäßigtere Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen und einen Palästinenserstaat zu verhindern. Im März 2019, bei einem Treffen seiner Likud-Fraktion, soll er sinngemäß gesagt haben: »Wer die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, muss die Unterstützung der Hamas und den Geldtransfer an die Hamas unterstützen.«
Aber statt Fehler einzugestehen und zurückzutreten, sagt Scheindlin, habe Netanyahus Koalition das Trauma des 7. Oktober bald als Chance gesehen. Sie war knapp ein Jahr zuvor angetreten, eine Allianz aus Netanyahus Likud-Partei mit Ultraorthodoxen und rechtsextremen Siedlern, die als erstes Projekt den Umbau der Justiz in Angriff nahm. Hunderttausende Israelis waren daraufhin auf die Straße gegangen. Nun, im Schatten des Gazakriegs, war die Protestbewegung gelähmt – die Ultrarechten konnten ihre Agenda vorantreiben. Vor allem die De-facto-Annexion des Westjordanlands, was gegen das Völkerrecht verstößt. […..] Und so geht dieser Krieg weiter, ohne einen erkennbaren Plan. In Gaza sind nach einem Jahr bis zu 80 Prozent der Gebäude beschädigt oder zerstört. Rund 17.000 Kinder sind laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums getötet worden. Ein Großteil der in Gaza noch verbliebenen rund 100 Geiseln ist wohl längst tot. Dass »nur militärischer Druck« zu ihrer Freilassung führen kann, wie Netanyahu immer wieder beteuert, hat sich als falsch erwiesen.
Seit Monaten muss Israels Armee in bereits freigekämpfte Ortschaften im Gazastreifen zurückkehren, weil die Hamas die Kontrolle dort wieder übernimmt. [….] Hamas-Chef Yahya Sinwar ist somit Netanyahus Gegenspieler – und zugleich sein Gehilfe: Beide setzen auf Eskalation und sind nicht bereit, Kompromisse einzugehen, um Zivilisten zu schonen. Das Leid der Zivilbevölkerung sei für die Hamas »sogar von Vorteil, weil es Israel in der Welt diskreditiert«, sagt Khalil Shikaki, Direktor des Palestinian Center for Policy and Survey Research in Ramallah. [….]
(SPIEGEL Titelgeschichte, 03.10.2024)
Wie soll es eigentlich jemals zu friedlichen Lösungen kommen, wenn Friedens-orientierte Politiker wie Rabin ermordet werden und das Wahlvolk sich für die Kriegstreiber begeistert, die eindeutig vom Interesse geleitet sind, den Krieg zu eskalieren?
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